Zwei Strategien stehen sich in der lateinamerikanischen Diskussion über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts gegenüber. Der Vorschlag, in wachsendem Maß radikale Transformationen voranzutreiben, kollidiert mit der Haltung, zunächst eine kapitalistische Etappe einer regionalen „Neo-Entwicklungsstrategie” einzuleiten („neo-desarrollismo“, im Weiteren als „Neo-Entwicklung“ abgekürzt). Die Debatte dreht sich um die Einleitung, nicht um die Vollendung des Sozialismus. In der Region gibt es Ressourcen, die ausreichen, um diesen Prozess zu beginnen, und das unmittelbare Dilemma ergibt sich aus der Frage, wer aus der derzeitigen Bonanza den Nutzen ziehen wird.
Claudio Katz
Die These der „Neo-Entwickler” geht der Diskussion über die Zweckmäßigkeit eines solchen lateinamerikanischen Kapitals aus dem Wege. Darüber hinaus unterschätzt sie die Schwierigkeiten, ein solches aufzubauen und die Hindernisse, die der Überwindung des peripheren Charakters des regionalen Kapitals entgegenstehen. Dieses Vorhaben vergisst die sozialen Kosten eines solchen Modells und übertreibt die Uneinigkeit zwischen Bank- und Industriekapital.
Die Fokussierung auf Etappen schwächt die Kämpfe der Unterdrückten, lässt das Projekt des Volkes aus dem Blick geraten und reduziert die politischen Kontroversen auf den Gegensatz zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts. Diese Art der Polarisierung behindert die sozialen Forderungen und ist tendenziell dazu geeignet, den Antiimperialismus der nationalistischen Regierungen zu neutralisieren.
StichworteDesarrollismo: Wirtschaftstheorie lateinamerikanischen Ursprungs, die sich auf die wirtschaftliche Entwicklung (desarrollo económico) bezieht; sie vertritt die Auffassung, dass die Verschlechterung der Tauschbeziehungen im internationalen Handel mit einem Schema industrielles Zentrum versus landwirtschaftliche Peripherie die Unterentwicklung reproduziert und die Kluft zwischen den entwickelten Ländern und den unterentwickelten Ländern vertieft. Als Konsequenz hieraus vertritt der desarrollismo, dass die nicht entwickelten Länder aktive Staaten mit einer Wirtschaftspolitik haben müssen, die die Industrialisierung vorantreiben, damit sie eine autonome Entwicklung erreichen. [http://es.wikipedia.org/wiki/Desarrollismo]. Der desarrollismo prägte besonders die entwicklungsorientierte Wirtschaftspolitik in Argentinien unter Peron in den 50er Jahren. Neo-Desarrollismo: Nach Ende der Militärdiktatur und verstärkt nach der Wahl von Nestor Kirchner wurde in Argentinien eine wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik mit starkem staatlichem Anteil entwickelt, die mir dem Namen neo-desarrollismo an die früheren Konzepte anknüpft. [http://www.worldeconomyandfinance.org/ working_papers_publications/working_paper_PDFs/WEF0018.pdf] Da es bislang keine deutsche Übersetzung gibt, verwenden wir hier den Begriff „Neo-Entwicklung“. Sozialismus des 21. Jahrhunderts: Von Heinz Dieterich entwickeltes und vom venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez 2005 verkündetes Konzept einer sozialistischen Gesellschaft. Ziele sind unter anderen die staatliche Enteignung stillgelegter Betriebe und Wiederaufnahme der Produktion unter Arbeitermitverwaltung beziehungsweise Arbeiterkontrolle. Weitere Aspekte stellen die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Infrastruktur dar sowie die Regulierung der Länge des Arbeitstages. [http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialismus_des_21._Jahrhunderts] Der nebenstehende Artikel beschäftigt sich mit dem Unterschied zwischen diesen Konzepten, die in Lateinamerika derzeit intensiv diskutiert werden. |
Diese beiden Richtungen drücken sich in Venezuela in Initiativen entweder zur Radikalisierung oder zum Einfrieren des bolivarianischen Prozesses aus. Die gleiche Divergenz zeigt sich in Bolivien bezüglich der Frage, ob die Öleinnahmen für soziale Verbesserungen oder für Subventionen für das Kapital verwendet werden sollen. Das Resultat dieser Auseinandersetzung auf regionaler Ebene wird entweder die Erneuerung des Sozialismus oder die Wiedereinführung des Kapitalismus in Kuba begünstigen.
Das Hauptproblem der Linken ist die Definierung von Allianzen und von politischen Prioritäten. Die verschiedenen Vorschläge in der Debatte haben sowohl lokale wie externe Wurzeln, aber sie greifen gegensätzliche Traditionen der Unterordnung bzw. des Widerstandes gegen die herrschenden Klassen Lateinamerikas auf.
Das Fehlen von sozialistischen Vorschlägen ist erheblich schlimmer als die Irrtümer über den Charakter des zeitgenössischen Kapitalismus. Der Sozialismus ist ein ebenso abgegriffenes wie unersetzliches Konzept wie die Demokratie. Seinen Inhalt zu erneuern ist die Herausforderung dieser Epoche.
Der Aufruf von Chávez, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts aufzubauen, hat die Debatte über Wege, Zeiträume und Allianzen für die Durchsetzung einer nichtkapitalistischen Gesellschaft wiederbelebt. Diese Diskussion entsteht zu einem Zeitpunkt, zu dem der größte Teil der fortschrittsorientierten Menschen sich daran gewöhnt hat, jeglichen Bezug auf den Sozialismus zu unterlassen. Die Wiedergewinnung der Glaubwürdigkeit dieses Projektes im breiten Volk ist zwar noch nicht sichtbar, aber das emanzipatorische Ziel wird neuerdings in den Volksorganisationen diskutiert, die eine strategische Richtung für den Kampf der Unterdrückten suchen. Was ist die aktuelle Bedeutung eines sozialistischen Vorschlags?
Lateinamerika wurde aus verschiedenen Gründen zu dem privilegierten Szenario dieser Überlegungen. Zuvörderst ist die Region das Hauptzentrum des internationalen Widerstandes gegen den Imperialismus und den Neoliberalismus. Verschiedene Volkserhebungen führten in den letzten Jahren zum Sturz von neoliberalen Präsidenten (Bolivien, Ecuador und Argentinien) und ermöglichten die fortdauernde Präsenz von sozialen Bewegungen.
In einer Reihe von Kämpfen – eingeschlossen die, bei denen Rückschläge oder Repression die Folge waren (Peru, Kolumbien), bzw. Abebben oder Enttäuschung (Brasilien, Uruguay) – haben sich neue Kräfte dem Volksprotest angeschlossen. Diese Sektoren brachten eine neue Basis von Jugendlichen hinzu (Chile) und ausgesprochen kämpferische Formen der Selbstorganisation (die Kommune von Oaxaca in Mexico). Der Sozialismus bietet einen strategischen Lösungsvorschlag für diese Aktionen und könnte bei neuen Überlegungen zu einem Thema werden.
Zum zweiten gewinnt der Sozialismus in Venezuela zunehmend an öffentlicher Präsenz. Diese Ausbreitung bestätigt die ideologische Nähe des bolivarianischen Prozesses zur Linken, etwas, was es in anderen nationalistischen Experimenten nicht gab. In der Epoche der UdSSR adaptierten einige Amtsträger der dritten Welt aus geopolitischen (um dem Druck der USA widerstehen zu können) oder ökonomischen Gründen (um materielle Unterstützung der Sowjetunion zu erhalten) eine sozialistische Identität. Da nun diese Gründe entfallen sind, bekommt das Projekt eine deutlich eigenständigere Konnotation.
Das Wiedererstarken des Sozialismus beweist sich auch an den Vorschlägen verschiedener Funktionäre in Bolivien und selbst in Kuba – nach 45 Jahren Embargo, Sabotage und imperialistischer Aggression. Wenn der Niedergang, den die UdSSR und Osteuropa erlebten, sich auch auf diese Insel erstreckt hätte, würde heute niemand eine antikapitalistische Perspektive für Lateinamerika sehen. Die politischen Auswirkungen eines solchen Rückschlags wären vernichtend gewesen.
Zum dritten fungiert der Sozialismus als die neu aufgerichtete Standarte für die Linksopposition gegen die sozialliberalen Präsidenten, die jeglichen Bezug auf dieses Thema fallengelassen haben, um sich mit den KapitalistInnen auszusöhnen. Bachelet, Lula und Tabaré Vazquez lassen in ihrem Diskurs jegliche Bezugnahme auf den Sozialismus vermissen, nahmen von sozialen Reformen Abstand und haben gegen die Interessen der Mehrheit des Volkes Position bezogen. Bachelet erinnert sich noch nicht einmal an den Namen ihrer Partei, wenn sie der konzertierten Aktion präsidiert, die das neoliberale Modell neu auflegt. Lula hat sein früheres Kokettieren mit dem Sozialismus vergessen und fördert das Finanzkapital, und Tabaré kopiert diesen Herren, wenn er das Freihandelsabkommen mit den USA sondiert. In diesen drei Ländern ist der Sozialismus ein Leuchtfeuer gegen den Verrat, der in einem Szenario stattfindet, das völlig anders ist als in den neunziger Jahren.
Die Etappe der Einheit der Rechten ist vorbei und die führenden Persönlichkeiten des extremen Neoliberalismus sind von der Bühne abgetreten. Der militärische Putschismus ist kein gangbarer Weg mehr, und durch die Massenmobilisierungen sind breite demokratische Freiräume erkämpft worden. Aus diesem Grund koexistieren die konservativen Mandatsträger mit den Präsidenten der Mitte-Links-Parteien und mit radikalen nationalen Regierungen.
Viertens setzt sich in Lateinamerika ein Wandel des ökonomischen Kontextes durch, der die Debatte über Alternativen für das Volk begünstigt. Verschiedene Sektoren der herrschenden Klasse tendieren zu einem Prozess der „Neo-Entwicklung” und wenden sich vom orthodoxen Neoliberalismus ab – nach einer traumatischen Periode der überregionalen Konkurrenz, der Entnationalisierung des Produktivvermögens und dem Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit.
Das Modewort ist „Neo” und nicht einfach „Entwicklung”, denn man behält die restriktive Geldpolitik, die fiskalische Anpassung, die Priorisierung des Exports und die Konzentration der Einkommen bei. Das Ganze zielt ausschließlich darauf ab, die staatliche Unterstützung für die Industrie zu steigern, um die Konsequenzen des extremen Freihandels abzufedern. Die finanzpolitische Verwundbarkeit der Region und die Fesselung an ein Wachstum, das stark von den Preisen der Grundstoffe abhängig ist, begünstigen diesen Wandel. Aber dieser Weg stellt alle ökonomischen Dogmen in Frage, die das letzte Jahrzehnt dominierten, und gibt Raum, um dem Modell der „Neo-Entwicklung” sozialistische Alternativen entgegenstellen zu können.
Fünftens schält sich in Lateinamerika eine allgemeine Tendenz heraus, nationale Programme im regionalen Kontext zu sehen. Diese Haltung herrscht auch in den Volksorganisationen vor, die die Notwendigkeit begreifen, ihre Überzeugungen im regionalen Zusammenhang zu überprüfen. Dieser neue Geist ermöglicht es, die Debatte über ALCA, MERCOSUR und ALBA mit regional bezogenen Neuformulierungen des sozialistischen Projekts zu führen. Die drei in Gang befindlichen Integrationsprojekte umfassen strategische Pläne zur erneuten Lancierung neoliberaler Politik (ALCA), regionale kapitalistische Regulierung (MERCOSUR) und die mit dem Sozialismus kompatible Einführung von Formen solidarischer Zusammenarbeit (ALBA).
Der aktuelle lateinamerikanische Kontext regt also dazu an, auf verschiedenen Feldern die antikapitalistische Programmatik wieder aufzunehmen. Aber diese Orientierung schlägt sich in unterschiedlichen Strategien nieder. Ein möglicher Weg würde bedeuten, den Kampf des Volkes zu entfesseln, soziale Reformen voranzutreiben und die von den nationalistischen Regierungen eingeleiteten Veränderungen zu radikalisieren. Ein solcher Kurs würde es erfordern, die Zweideutigkeit der Mandatsträger von Mitte-Links zu demaskieren, das Projekt der „Neo-Entwicklung” in Frage zu stellen und den ALBA als Werkzeug zur regionalen postkapitalistischen Integration zu nutzen. Wir haben einige Grundlinien dieser Option kürzlich in einem Text dargelegt. [1]
Ein anderes Lager schlägt ein abweichendes Projekt vor. Es sieht vor, dem Aufbau des Sozialismus eine längere kapitalistische Phase vorzuschalten. In dieser Phase, so wird argumentiert, sollte eine protektionistische Politik mit dem Ziel, die Region konkurrenzfähiger zu machen, betrieben werden. Deshalb betrachtet man den derzeitigen Weg der „Neo-Entwicklung” mit Sympathie, ermutigt den MERCOSUR und begrüßt die Ausbreitung einer regionalen Unternehmerschaft. Diese Leute rufen dazu auf, eine Front aus den sozialen Bewegungen und den Mitte-Links-Regierungen zu bilden (Regionaler Block der Volksmacht) und sehen den Sozialismus als ein späteres Stadium nach dem neuen regulierten Kapitalismus. [2]
In keinem Aspekt der Debatte spielt der volle Aufbau des Sozialismus eine Rolle. Man diskutiert ausschließlich über den Beginn dieses Projektes. Eine Gesellschaft von Gleichheit, Gerechtigkeit und Wohlergehen aufzubauen, ist eine harte und langwierige historische Aufgabe, die es erfordert, zunehmend die Regeln von Konkurrenz, Ausbeutung und Profit auszuschalten. Das lässt sich nicht in kurzer Zeit realisieren.
Besonders in peripheren Regionen wie Lateinamerika setzt so ein Prozess voraus, dass bestimmte ökonomische Bedingungen heranreifen, die es erlauben, den Lebensstandard der Bevölkerung qualitativ zu verbessern. Dies wird sich parallel zur Ausdehnung des öffentlichen Eigentums und zur Konsolidierung der Selbstverwaltung des Volkes entwickeln. Weil es für diese Entwicklung mehrerer Generationen bedarf, bezieht sich die derzeitige Debatte ausschließlich auf die Einleitung dieses Prozesses.
Den Aufbau des Sozialismus zu beginnen, bedeutet, die Vorherrschaft eines Systems, das nach den Regeln des Profits funktioniert, durch eines zu ersetzen, das sich an der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse orientiert. Von dem Moment an, in dem ein solches ökonomisches und politisches Modell – geleitet durch den Willen der Mehrheit der Bevölkerung – diese charakteristischen Merkmale annimmt, beginnt eine embryonale Form von Sozialismus zu regieren. [3]
Dieser Beginn ist die Vorbedingung für jeden weiteren Fortschritt. Eine postkapitalistische Gesellschaft wird niemals entstehen, wenn der sozialistische Weg sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt konkretisiert. Die repressiven Mechanismen von Gewinn und Konkurrenz müssen drastisch neutralisiert werden, damit eine neue Form menschlicher Zivilisation sich abzuzeichnen beginnt.
Der Startpunkt einer solchen sozialistischen Transformation ist dem des Modells der „Neo-Entwicklung” diametral entgegengesetzt. Beide Perspektiven sind völlig konträr und es gibt weder einen Kompromiss zwischen ihnen, noch können sie sich parallel entwickeln. Die Konkurrenz um die Profite verhindert den allmählichen Aufbau kollektivistischer Inseln im Inneren des Kapitalismus dadurch, dass die Konkurrenz mittelfristig alle kooperativen Ansätze dieser Unternehmungen umkehrt. Diese beiden gesellschaftlichen Projekte können auch nicht friedlich koexistieren, bis eines von beiden größere Effizienz und Akzeptanz bewiesen hat. Nur die Beseitigung des Kapitalismus kann das Tor zur sozialen Emanzipation öffnen. Die große Frage ist, ob es möglich ist, in Lateinamerika diesen Wandel einzuleiten.
Die These der „Neo-Entwicklung” gibt auf die Schlüsselfrage der aktuellen Periode eine negative Antwort. Sie unterstellt, dass in der Region „nicht die Voraussetzungen für eine sozialistische Gesellschaft” existierten. [4] Aber sie erklärt nicht, ob diese Mängel auf dem Gebiet der Ökonomie, der Technologie, der Kultur oder der Erziehung zu finden sind. Was genau fehlt der Region, um eine antikapitalistische Transformation einzuleiten?
Lateinamerika nimmt in der globalen Struktur des Kapitalismus eine periphere Stellung ein, verfügt aber über solide Ressourcen, um einen sozialistischen Prozess zu beginnen. Das lässt sich an verschiedenen Bereichen nachweisen: Fruchtbares Land, Erzlagerstätten, Wasserkraft, reiche Energieressourcen, industrielle Grundlagen. Das große Problem der Region ist, dass diese Möglichkeiten nicht genutzt werden.
Die verdrehte Form der Akkumulation, die die zunehmende Integration in den Weltmarkt und die entsprechende Abhängigkeit von ihm produzierte, hat geschichtlich die regionale Entwicklung deformiert. Es gibt keinen Mangel an lokalem Einkommen, sondern exzessive Mittelabflüsse in die Ökonomien des Zentrums. Die rückständige Landwirtschaft, die niedrige industrielle Produktivität, die mangelnde Kaufkraft sind Effekte dieser imperialistischen Ausplünderung. Das Drama Lateinamerikas ist nicht in erster Linie die Armut, sondern die empörende soziale Ungleichheit, die der Kapitalismus in allen seinen Ländern hervorruft.
Die Hypothese von der Unreife der Ökonomie wird durch die aktuelle Konjunktur widerlegt, die das große Dilemma produziert hat, wer von dem laufenden Wachstum profitieren soll. Die „Neo-Entwickler” versuchen, diese Mittel zugunsten der Industrie zu kanalisieren, die Neoliberalen möchten die Vorherrschaft der Banken aufrechterhalten. Die SozialistInnen müssen in Opposition zu beiden Haltungen für eine radikale Umverteilung des Reichtums kämpfen, die unmittelbar den Lebensstandard der Unterdrückten verbessert und den Primat der Rentabilität beseitigt. Die Ressourcen sind verfügbar. Es gibt einen breiten Rahmen für Programme für das Volk und nicht nur Bedingungen für einen kapitalistischen Kurs.
Es stimmt, dass die objektiven Rahmenbedingungen in den verschiedenen Ländern sehr ungleich sind. Die Vorteile, die die mittleren Ökonomien haben, betreffen nicht die kleineren und stärker verarmten Länder. Die Situation in Venezuela unterscheidet sich von der in Bolivien, und Brasilien hat nicht mit Einschränkungen zu tun wie etwa Nicaragua. Aber die Vorstellung von einem sozialistischen Wandel unter rein nationalen Vorzeichen hat an Kraft verloren.
Wenn schon die herrschende Klasse ihre Strategie auf die Gesamtregion ausrichtet, so muss auch ein Projekt für das Volk regional ausgerichtet sein. Die Unterdrücker bestimmen ihren Horizont nach den Profitaussichten – die Sozialisten könnten ihre Option in den Begriffen Kooperation und wirtschaftliche Komplementarität ausdrücken. Das ist es, was dahinter steckt, wenn ALBA dem ALCA oder dem MERCOSUR entgegengestellt wird.
Es gibt keine objektive Begrenzung für die Entwicklung eines solchen egalitären Kurses. Es ist ein Irrtum, zu meinen, dass die Region die gleichen Entwicklungsetappen durchlaufen müsse wie die Länder des Zentrums. Die Geschichte hat immer wieder unverhoffte Wege beschritten, in denen sich verschiedene Epochen mischten. Lateinamerika entwickelte sich nach einem disharmonischen Modell der ungleichen und kombinierten Entwicklung, das dazu neigt, auch die sozialistischen Lösungswege zu bestimmen.
Die These, dass dem Sozialismus eine kapitalistische Phase vorausgehen müsse, ähnelt der „Etappentheorie der Revolution”. Diese Konzeption – die viele Anhänger in der Linken hatte – postulierte, dass die „feudalen Wurzeln (Lateinamerikas) auszumerzen” seien, bevor eine irgendwie geartete sozialistische Transformation beginnen könne. Um dieses erste Ziel zu erreichen, schlug man vor, auf die Unterstützung der jeweiligen nationalen Bourgeoisie zurückzugreifen.
Die neue Version führt nun mit dem gleichen Ansatz einen regionalen Bezug ein. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die nationale Bourgeoisie, sondern sie ruft dazu auf, die Herausbildung eines regionalen Kapitals zu protegieren. Die erstere Version hatte während des gesamten 20. Jahrhunderts keinen Erfolg, und es gibt erhebliche Beschränkungen für das Vorhaben, aktuell die regionale Variante zu verwirklichen.
Eine gesamtsüdamerikanische Bourgeoisie wäre in der Tat stärker als die balkanisierten Fraktionen der Vergangenheit, aber sie würde sich auch einer erheblich stärkeren Konkurrenz ausgesetzt sehen. Im Fall des Wettstreits mit nordamerikanischen Gesellschaften stünde sie ebenfalls regionalisierten imperialistischen Blöcken und einem globalisierten Finanzkapital gegenüber.
Diejenigen, die auf eine Neubelebung des lateinamerikanischen Kapitalismus setzen, unterstellen, dass in den nächsten Jahrzehnten der internationale Kontext multipolar sein wird. Nur in diesem Rahmen könnten tragfähige Prozesse der Akkumulation in den peripheren Regionen florieren. Diese Annahme geht außerdem davon aus, dass Lateinamerika ein Hauptgewinner in diesem Szenario wäre. Aber wer wären dann die Verlierer? Die großen imperialistischen Mächte? Andere abhängige Regionen? Die ProtagonistInnen des Kapitalismus bleiben die Antwort schuldig. Weder sprechen sie – wie die Neoliberalen – von einer allgemeinen Prosperität, noch von einem Profitboom, der über den ganzen Planeten verteilt wird. Sie sagen große Erfolge für einen lateinamerikanischen Kapitalismus in einem nicht definierten globalen Rahmen voraus.
Diese Herangehensweise setzt voraus, dass die herrschende Klasse in Südamerika ihre bisherige zentrifugale Tendenz aufgibt und unter der Disziplin des MERCOSUR gemeinsam arbeitet. Real setzt das voraus, dass sich ein ähnlicher Prozess wie bei der Bildung der europäischen Union abspielt – trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen beiden Regionen. Die Entnationalisierung, die in Lateinamerika vorherrscht, wird nicht als großes Hindernis für die Herausbildung eines regionalen Kapitals gesehen. Und auch die intensive Verbindung, die jedes der lokalen Kapitalien mit ausländischen Partnern unterhält, wird nicht als Hindernis für eine regionale „Neo-Entwicklung” betrachtet.
Nüchtern betrachtet ist die Konkretisierung dieses Projektes nicht völlig unmöglich, aber höchst unwahrscheinlich. Der zeitgenössische Kapitalismus bietet zwar plötzliche Überraschungen (China), aber der gemeinsame und erfolgreiche Aufstieg eines peripheren lateinamerikanischen Wirtschaftsblocks ist wenig realistisch. Die Spekulationen über diese Möglichkeit sind unbegrenzt, aber die Opfer wie auch die Nutznießer dieses Prozesses sind absehbar. Jedwede kapitalistische Entwicklung wird von der Mehrheit der Bevölkerung bezahlt werden, weil die Bankiers auf internationalem Niveau überdurchschnittliche Gewinne verlangen werden, um bei der Initiative mitzumachen. Weil die Ausgebeuteten und Unterdrückten die ganzen Verluste zu tragen haben werden, plädieren wir SozialistInnen für ein antikapitalistisches Modell.
In jeder seiner Varianten wird der auf die „Neo-Entwicklung“ ausgerichtete MERCOSUR ein Projekt darstellen, das mit wesentlichen sozialen Reformen und nachhaltigen Verbesserungen des Lebensstandards der Bevölkerung unvereinbar ist. Er bewegt sich im Rahmen der Konkurrenz um Profite, die Angriffe auf die Arbeiterklasse zwangsläufig folgen lässt. Diese Angriffe können für eine gewisse Zeit abgeschwächt werden, aber sie werden in der folgenden Etappe um so brutaler sein. Keine staatliche Regelung kann auf die Dauer dem Druck der Offensive des Kapitals standhalten.
Dieses sichere Wissen muss jede/n SozialistIn dahin führen, sich weniger um die Gangbarkeit des einen oder des anderen bürgerlichen Modells zu kümmern und stattdessen den Möglichkeiten eines antikapitalistischen Kurses mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Um dies auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben, beziehen sich die UnterstützerInnen des MERCOSUR mit keinem Wort auf den Sozialismus. Sie predigen den Aufbau eines Regionalkapitals, ohne auch nur einen einzigen Vorschlag für ein emanzipatorisches Projekt für das 21. Jahrhundert zu liefern.
Das Entwicklungsschema der „Neo-Entwickler” ist mit abgestuften Kriterien, vorgefertigten Etappen und festen Koppelungen zwischen der Reife der Produktivkräfte und den sozialen Transformationen konzipiert. Das gibt zwar viel Raum, um über den Kapitalismus zu reden, allerdings lässt es wenig Platz, um etwas Konkretes zum Sozialismus zu sagen.
Die Aussicht auf ein „Neo-Entwicklungs”-Modell übersetzt sich in das Vertrauen auf die politische Achse von Mitte-Links, die in Südamerika von Lula und Kirchner angeführt wird. Ihre Vorkämpfer glauben, dass diese Regierungen den industriellen Aufbau gegenüber der Finanzspekulation vertreten und den Fortschritt gegen die rechte Oligarchie. Sie sehen das sozialistische Projekt als eine Etappe jenseits der Niederlage der Rechten und begreifen diesen Sieg als eine unabdingbare Voraussetzung für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts. [5]
Aber ist der Graben zwischen den „Neo-Entwicklern” und den Neoliberalen tatsächlich so tief? Gibt es nicht unzählige Verbindungen zwischen dem Industrie- und dem Finanzkapital? Die Verbindungen zwischen beiden Sektoren wurden gründlich untersucht und es erstaunt, dass dies vergessen wird, gerade zu dem Zeitpunkt, an dem es zu einem Zusammenstoß zwischen beiden Gruppen kommt. Dieses Amalgam ist so ausgeprägt, dass selbst ein natürlicher Vorkämpfer der „Neo-Entwicklung” wie Lula bewies – bis dato –, dass er eine größere Affinität zum Finanzkapital als zur Industrie hat.
Aber auch wenn man das Szenario einer starken Konfrontation zwischen beiden kapitalistischen Fraktionen unterstellt, stellt sich eine andere Frage: Auf welche Weise könnte eine Unterstützung der „Neo-Entwickler” die Unterdrücktem ihrem sozialistischen Ziel näher bringen? Man könnte argumentieren, dass das industrielle Modell Arbeitsplätze schafft, die Einkommen verbessert und den Kampf der ArbeiterInnen für ihr eigenes Projekt befeuert. Aber wenn der Kapitalismus in der Lage wäre, derartige Ergebnisse zu garantieren, dann würde der Kampf für den Sozialismus keinen Sinn haben. Unter dem aktuellen Herrschaftssystem kommt es niemals zu einer Verteilung der Gewinne der Besitzenden auf die gesamte Gesellschaft. Sie erzeugen nur größeren Wettbewerb betreffend die Ausbeutung und die periodischen dramatischen Krisen, die über die Unterdrückten hereinbrechen.
Eine andere Rechtfertigung für das Konzept der „Neo-Entwicklung” könnte die Annahme eines positiven Effektes dieses Kurses auf das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital sein. Aber wenn die Ausgebeuteten ein Projekt stützen, das nicht das ihre ist, verlieren sie die Möglichkeit zur Aktion. Niemals können sie ihre Lage verbessern, indem sie für das System arbeiten, das sie unterdrückt. Auf diesem Weg unterminieren sie ihre ureigenen Interessen.
Das Fehlen eines eigenen Plans ist das Haupthindernis, vor dem die Unterdrückten stehen, wenn sie für den Sozialismus kämpfen wollen. Die Politik der „Neo-Entwicklung” verschärft diese fehlende Autonomie, weil sie Überzeugungen der Lohnabhängigen den Bedürfnissen der Kapitalisten unterordnet. Anstatt das Vertrauen der Massen in die eigene Aktion zu stärken, verstärkt diese Orientierung die Erwartungen in den bürgerlichen Paternalismus.
Einige Theoretiker beteuern unisono, dass die „Neo-Entwicklung” eine Übergangsphase sei. Aber was für eine Zeitspanne gestehen sie dieser Periode zu? Ein paar Jahre oder ein paar Jahrzehnte? Eine Industriegesellschaft reift nicht in kurzer Zeit. Um eine gewisse Entwicklung zu generieren, bedarf es einer langen Übergangsetappe der Akkumulation auf Kosten der Ausgebeuteten. Während dieser Phase würde sich das System nur dann stabilisieren, wenn die Kapitalisten Gewinnaussichten haben, die sie dazu bringen, zu investieren. Und diese Voraussetzung – im Kontext des internationalen Wettbewerbs – würde ein Maß an Arbeitsdisziplin erfordern, das mit jeglicher antikapitalistischen Perspektive unvereinbar ist.
Der Sozialismus wird nur auf dem entgegengesetzten Weg vorankommen, dem der überzeugenden Aktionen und sozialer Errungenschaften, die tendenziell die Grenze des kapitalistischen Systems überschreiten. Und dieser Kampf wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Unterdrückten ausgehend von einer radikalen Kritik des aktuellen Systems revolutionäre Ideen aufgreifen. Die Lobreden für die Option der „Neo-Entwicklung” sind diesem politischen Reifungsprozess entgegengesetzt.
Diejenigen, die die wirtschaftliche Zukunft der Region in Abhängigkeit von der Kontroverse zwischen „Neo-Entwicklern” und Neoliberalen betrachten, neigen zu der Ansicht, dass die einzig möglichen politischen Alternativen sich auf Mitte-Links und Mitte-Rechts beschränken. [6] Aber aus der Verfolgung dieses Konflikts ergibt sich kein Weg zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts. In einem Szenario, in dem Lula, Kirchner oder Tabaré mit ihren jeweiligen rechten Widersachern streiten, gibt es keinen Raum für Vorstellungen davon, welchen Weg ein antikapitalistischer Prozess nehmen müsste. Diese Blockade wird noch größer, wenn man Chávez und Morales in dem gleichen Block von Mitte-Links verortet und der Linken die Rolle eines stillen Begleiters dieser Allianz zuweist.
Diese Strategie setzt voraus, dass die Volksorganisationen und die Mitte-Links-Regierungen zu einem natürlichen Annäherungsprozess neigen, so als ob die Interessen der herrschenden Klasse und der sozialen Bewegungen spontan zusammenfallen würden. Derartiges würde in Wirklichkeit harte Arbeit bedeuten, um vorab sämtliche Mehrheitsüberzeugungen umzudrehen.
Bündnisse, die dazu bestimmt sind, kapitalistische Modelle zu installieren, haben noch ein anderes Problem: Sie neigen unweigerlich dazu, nach rechts zu rücken. Ihre Promotoren entdecken ständig das Auftauchen eines neuen oligarchischen Feindes, für dessen Niederlage es größerer Konzessionen an das Establishment bedarf. Diese Tendenz bringt viele Sektoren, die zuvor mit der Rechten identifiziert wurden, dazu, sich als fortschrittlich zu verkleiden. Der Vorschlag, neue Partner in den MERCOSUR zu holen, um den Kampf gegen den ALCA zu stärken, ist ein typisches Beispiel für diese Politik. Manchmal wird selbst der „Subimperialist Spanien” als Kandidat für diese Koalition angesehen. [7] Auf diese Weise verlieren sämtliche Fragen bezüglich der Ausplünderung durch [den Ölkonzern] Repsol ihre Relevanz, und man beerdigt in wenigen Sekunden die Anklagen von Jahren.
Die Strategie, mehr und mehr Allianzen gegen die Oligarchie zu schmieden, führt dazu, den Status Quo aufrecht zu erhalten. Es ist dies der Weg, der Lula, Tabaré und Bachelet in Richtung Sozialliberalismus trieb und es ist auch die Richtung, die gegenwärtig Daniel Ortega einschlagen möchte. Der neue Präsident von Nicaragua ähnelt in nichts mehr seinem alten revolutionären Bild. Er garantiert Privatisierungen, verteidigt die Überwachung durch den IWF und akzeptiert die Kontinuität des Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten. [8]
Ein regionaler Machtblock, der zum Aufbau des Sozialismus beiträgt, kann so nicht entstehen. Der Sozialliberalismus und die Zentrumslinke verhindern nicht nur einen Schritt in diese Richtung, sondern sie behindern auch die antiimperialistischen Tendenzen und sozialen Reformen, die die radikal-nationalistischen Regierungen vorantreiben. Ein großes Ziel der Konservativen vom MERCOSUR ist genau, ALBA aufzulösen.
Die „Neo-Entwicklung“ ist das Programm von Petrobrás, um sich die Ausbeutung von Gas auf dem Altiplano zu sichern. Es ist auch die Grundlage, auf der das Handelsabkommen mit Israel entstand, das Kirchner vorantrieb, während Chávez die Tötungen der PalästinenserInnen anprangerte. Ein regional-kapitalistisches Modell verlangt, alle Konflikte mit dem Imperialismus zu mäßigen, um ein günstiges Klima für die Geschäfte in der Region zu fördern. Deshalb gibt es im Augenblick die großen Auseinandersetzungen in Bolivien und Venezuela.
Seit den PutschistInnen in Venezuela ein schwerer Schlag versetzt wurde, hat sich das Land in einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung sozialistischer Prozesse verwandelt. Die Rechte erlitt einige Rückschläge bei Wahlen und ist stark geschwächt. Sie zettelte einige Putschversuche an (Versuche, das Land zu teilen, bewaffnete Provokationen, internationale Kampagnen), aber es fehlt ihr ein gangbarer Plan, um Chávez zu ersetzen.
Dieser Triumph hat sich auch auf internationaler Ebene gespiegelt, als Folge von Unehrerbietigkeiten, die Bush an verschiedener Stelle akzeptieren musste (auf diplomatischer Ebene bei der UNO und den Blockfreien; bei der OPEC; auf geopolitischer Ebene in Bezug auf Iran und Mittlerer Osten; auf ökonomischer Ebene in Bezug auf die Abkommen mit China).
Die Vereinigten Staaten sind angewiesen auf die Versorgung mit Erdöl aus Venenzuela. Solange sie noch mit der Katastrophe im Irak beschäftigt sind, können sie sich auch auf kein weiteres Kriegsabenteuer einlassen. Die Figur Chávez hat an Bedeutung gewonnen. Viele AnalystInnen bewerten daher die Wahlen in der Region daraufhin, ob der venezolanische Präsident BündnispartnerInnen hinzu gewinnt oder verliert.
Der Konflikt zwischen Tendenzen, die von einer Radikalisierung ausgehen, und Tendenzen, die von einem Einfrieren des bolivarianischen Prozesses ausgehen, verweist in Venezuela auf das Dilemma „Sozialismus oder Neo-Entwicklung“. Es ist derselbe Konflikt, mit dem sich schon andere nationalistische Prozesse auseinandersetzen mussten und der mit der kubanischen Revolution ein positives Ende gefunden hat, aber in vielen anderen Fällen einen rückwärtsgewandten Ausgang hatte. Dieser Konflikt in Venezuela stellt diejenigen, die für eine vertiefte Fortführung der sozialen Reformen sind, denjenigen gegenüber, die die kapitalistische Ordnung verteidigen. Die Bevölkerung sieht hier einen Konflikt zwischen der fortschrittlichen Führung von Chávez und dem Druck der konservativsten Gruppierungen der staatlichen Bürokratie.
Den bolivarianischen Prozess zu vertiefen, würde auch heißen, die sozialen Verbesserungen (Reduzierung der Armut, Steigerung der Ausgaben der Bevölkerung, finanzielle Unterstützung von Projekten) durch eine Strategie der produktiven Nutzung der Einkünfte aus der Erdölindustrie zu ergänzen. Diese Politik sollte versuchen, die Industrialisierung auszuweiten, Arbeitsplätze zu schaffen und die Ausbreitung von Kooperativen zu fördern. Auf diese Weise könnte der Schwund, an dem eine von Importen abhängige und von Subventionen an die herrschenden Klasse ausgezehrte Ökonomie leidet, verringert werden.
Die Wendung hin zu einer sozialistischen Perspektive würde es notwendig machen, diese Subventionen abzuschaffen, die Eigentumsverhältnisse zu verändern (vor allem auf dem Land) und Formen der Mitbestimmung der Arbeitenden, wie sie in staatlichen Firmen (Alcasa) und zurückgewonnenen Unternehmen (Invepal) bereits praktiziert werden, allgemein anzuwenden.
Das Programm der „Neo-Entwicklung“ zeigt in die entgegengesetzte Richtung. Es versucht, mit kapitalistischen Gruppen, die sich an die Regierung wenden, um lukrative Geschäfte zu machen (die Gruppen Mendoza und Polar), Verbindungen einzugehen, und es unterstützt eine neue Schicht von Geschäftsleuten, die unter gewissen Gruppen des Chavismus in Erscheinung treten. Wenn sich dieser Kurs festsetzt, wird sich das Ungleichgewicht vertiefen, das die Verwaltung einer blühenden Konjunktur ohne die Strategie einer radikalen Veränderung mit sich bringt (Anstieg der Importe, Inflationstrieb, Fehlen von privaten Investitionen, Konsum ohne produktive Deckung). [9]
Bei dieser Perspektive werden so fragwürdige Projekte anberaumt wie der Gasoduct, umstrittene Verträge bzgl. der Erdölindustrie (gemischte Unternehmensformen, Öffnung für ausländisches Kapital) und der schlechte Gebrauch öffentlicher Gelder für die Abzahlung von Auslandsverschuldung, die den großen Banken zugute kommt.
In Venezuela treffen die Projekte der „Neo-Entwicklung“ der Bourgeoisie auf eine sozialistische Perspektive. Diese sollte von Mobilisierungen gestützt werden, welche in den letzten Jahren durch neu entstandene radikalisierte Gruppen von Jugendlichen, Frauen, Bauern und Bäuerinnen und Kooperativenmitgliedern gestärkt wurden. Der intensive Prozess der Mitgliedergewinnung in einem neuen Gewerkschaftsverband unter großer Teilnahme der Linken ist ein zentraler Aspekt für Fortschritt. [10] Je größer die Autonomie und je gefestigter die Organisationen der sozialen Bewegungen sind, desto mehr Gewicht werden die Subjekte haben, die bei einem Schritt in Richtung Sozialismus eine Hauptrolle spielen könnten.
Auf etwas andere Weise befindet sich Bolivien vor demselben Scheideweg wie Venezuela. Auch hier ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts als Ziel in die Debatten der sozialen Bewegung eingedrungen. [11] Mehrere Aufstände (2000, 2003 und 2006) auf dem bolivianischen Altiplano stürzten die neoliberalen Herren mit – auf verschiedenen Ebenen – sehr radikalen Forderungen: auf der politischen Ebene mit der Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung, auf der wirtschaftlichen Ebene mit der Forderung nach der Verstaatlichung der Ressourcen an Erdgas und Erdöl und auf der sozialen Ebene mit der Forderung nach einer sofortigen Verbesserung der Situation für alle Unterdrückten.
Morales’ Triumph ist für die Rechte ein schwerer Schlag. Die Rechte versucht, diesen Rückschlag umzukehren, indem sie mehrere Verschwörungen unterstützt, z.B. die Sabotage der konstituierenden Versammlung, Streiks der ArbeitgeberInnen in Oriente, die Drohung mit der Abspaltung eines Landesteiles (Santa Cruz) und Kirchenkampagnen. Die Eliten üben auch innerhalb der Regierung Druck aus, um die Reformprojekte zu neutralisieren.
Im Kabinett sitzen sowohl konservative Geschäftsleute, Intellektuelle aus der Mittelklasse, als auch Führer von sozialen Bewegungen. Aber die MAS-Regierung kann nicht auf eine politische Struktur zurückgreifen, die darauf vorbereitet wäre, durch Präsenz auf der Straße und mit den rechten Komplotten zu kämpfen. Und das in einem Land, das sich durch seine raschen und gewalttätigen Konflikte auszeichnet. Morales’ Politik ist bis jetzt sehr widersprüchlich. Er vermeidet sowohl besänftigende als auch radikalisierende Aussagen. [12]
Der Widerspruch zwischen „Neo-Entwicklung“ und Sozialismus ist bedingt vom Kräftegleichgewicht der Rechten und der Massen. Einige Zentrumslinke trauen den sozialen Forderungen keine Ausdauer zu. Sie registrieren jedoch nicht, dass die Zukunft des Projekts von der Fähigkeit der LehrerInnen, BergarbeiterInnen und SiedlerInnen, abhängt, ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Die Unterdrückten, die 5 Jahrhunderte gewartet haben um endlich in Würde leben zu können, möchten nicht eine Minute mehr ertragen. Diese Entscheidung nährt den Kampf um den Sozialismus.
Der soziale Disput, der ins Spiel gebracht wurde, hängt auch davon ab, welche Form die Nationalisierung der Erdöl- und Erdgasvorkommen annehmen wird. Wenn sich der Staat 70% der Einkommen aus der Erdölindustrie aneignet, würde der Fiskus mit 67 000 Millionen Dollar genug Ressourcen haben, um die Armut abzuschaffen (67% der Bevölkerung können im Augenblick ihre Grundbedürfnisse nicht abdecken). Allein durch die Anwendung der Gesetze, die die Steuern und weitere Einnahmen anheben, würde der Staat sofort das Dreifache der letzten Jahre einnehmen. Die Verstaatlichung hat dazu gedient, sich die Einkünfte aus der Erdölindustrie, die bisher die multinationalen Konzerne einsackten, zurückzuholen. Der Preis dafür war jedoch, die Präsenz dieser Unternehmen im Land zu bestätigen. [13]
Bisher hat erst die erste Runde einer langen Schlacht zur Festlegung des Umfangs der [verstaatlichten] Ressourcen stattgefunden. Aber wesentlich bedeutsamer wird sein, wie die Mittel verteilt werden. Unter günstigen ökonomischen Umständen – und genau entgegengesetzt zu Verschuldung und Hyperinflation, die Siles Suazo in den 80 Jahren untergruben – kann der neue Überschuss entweder dazu dienen, ein Modell der „Neo-Entwicklung“ zu fördern oder dazu, die Verbesserungen für die Bevölkerung einzulösen.
Der kapitalistische Pfad würde es erfordern, dass die Einkünfte zur Sicherung des Anbaus von Soja auf Großplantagen, zur Privatisierung der Metallvorkommen und zur Rückkehr zur orthodoxen Geldpolitik eingesetzt würden.
Ein sozialistisches Vorgehen würde die Agrarreform, den Anstieg der Löhne, die Wiederverstaatlichung der Minen und einen Prozess der Industrialisierung ohne Hilfen für das Kapital unterstützen. Wie im Rest der Region, sind auch hier die beiden möglichen Wege einander entgegengesetzt.
Sowohl die Stabilisierung eines kapitalistischen Modells in Lateinamerika als auch ein Linkskurs würden sich direkt auf die Zukunft Kubas auswirken. Bis jetzt hat die kubanische Revolution alle fatalistischen Vorhersagen bzgl. ihres Scheiterns Lügen gestraft. Die kubanische Bevölkerung hat das Regime trotz des ökonomischen Zusammenbruchs und trotz des erstickenden imperialistischen Drucks gestützt. Diese Tatsache sollte Spekulationen darüber, welche Form die Restauration nach Fidel Castros Tod annehmen wird, etwas bremsen. Für diejenigen, die sich in die Rückkehr des Kapitalismus fügen bzw. sie sogar feiern, ist die kubanische Identität, die die Revolution stützt, ein Rätsel: Es ist eine doppelte, eine nationale und sozialistische Identität, die auf antiimperialistischem Stolz und auf der Verteidigung des Gleichheitsprinzips basiert. [14]
Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, zu dessen Aufbau Venezuela aufruft, bietet angesichts solcher Aussichten eine Alternative. Er steht vor einem ganz anderen Hintergrund als dem, den noch die 90er Jahre abgaben. Damals musste sich Kuba mit unzähligen Verschwörungen auseinandersetzen (Pläne der CIA, Fidel zu ermorden) und befand sich in einem Klima von regionaler Isolation und neoliberaler Anfeindungen. Im Gegensatz dazu ist im Augenblick Bush isoliert, hat die Rechte einige Regierungen verloren und hat die kubanische Diplomatie wieder an Einfluss gewonnen. Fidels Autorität und die Erinnerung an Che Guevara sind heutzutage in den sozialen Bewegungen in Lateinamerika präsent und mit Hilfe der bolivarianischen Solidarität konnten viele Schwierigkeiten auf der Insel abgeschwächt werden.
Kubas Wachstum hat sich stabilisiert und die Probleme bei der Energieversorgung haben mit den Einnahmen aus dem Tourismus, den neuen Exporten und den Abkommen mit China abgenommen. Möglicherweise kann jetzt auch damit begonnen werden, die Qualifikationen, die Kubas Bevölkerung erworben hat, produktiv zu nutzen.
Aber das Land steht vor einer wichtigen Entscheidung: Denn die Revolution kann sich – wie Fidel Castro in einer wichtigen Rede im November 2005 ganz richtig sagte – auch selbst zerstören. Angesichts dieser Bedrohung können Wege eingeschlagen werden, die auf eine Erneuerung des Sozialismus hinwirken. Es können aber auch Wege gegangen werden, die zurück zum Kapitalismus führen. In welche Richtung gegangen wird, wird nicht unerheblich von den Entwicklungen in Lateinamerika beeinflusst.
Wenn sich in Lateinamerika die Strömungen, die sich auf die „Neo-Entwicklung“ beziehen, durchsetzten, würde der kapitalistische Druck auf Kuba bestehen bleiben, auch wenn die Blockade gelockert würde. Das Geld würde nicht mehr versuchen, mit militärischen Mitteln nach Kuba zu gelangen, sondern durch die großen Konzerne. Bereits in den letzten Jahren musste die kubanische Revolution mit einer von Geldsendungen und der Einführung von Dollar-Enklaven verursachten sozialen Ungleichheit leben. Die vom MERCOSUR, die der „Neo-Entwicklung“ anhängen, werden versuchen, diese Spaltung zu verstärken. Sie werden die Bildung einer neuen Bourgeoisie auf der Insel fördern. Dagegen würden sozialer Widerstand, Wachstum der Linken und das Aufkeimen des Sozialismus in Lateinamerika einen entgegengesetzten Kurs fördern.
Kuba kann und darf sich nicht isolieren. Der „nordkoreanische Bunker“ wäre die schlechteste Option. Deshalb ist es für Kuba notwendig, auf die Möglichkeiten des Marktes und auf Assoziationen mit Investoren zurückzugreifen, was unter anderen Umständen nicht akzeptabel wäre. Daher muss erklärt werden, wie sich die Restauration in Kuba möglicherweise gestalten könnte. Sie würde nicht so sehr in den kleinen Märkten, dem informellen Handel und der selbstständigen Arbeit vonstatten gehen, sondern vielmehr in den internationalen Verbindungen der Eliten, die daran interessiert sind, entweder ein sozialdemokratisches Modell (mit Europa abgestimmt) oder ein autoritäres Modell (analog zu China) zu befehligen. Für beide Modelle könnte die lateinamerikanische „Neo-Entwicklung“ als Partner zur Verfügung stehen.
Eine Etappe der regionalen Anhäufung von Unternehmen hätte auch Auswirkungen auf zwei Probleme, die erst kürzlich von verschiedenen Anführern der Revolution unterstrichen wurden: die Konsumorientierung und die Korruption. Je gefestigter sich der Kapitalismus in der Nachbarschaft gibt, desto größer wäre der Druck auf das in Kuba wichtige Prinzip der kollektiven Solidarität. Es könnte aufgeweicht werden. Anstatt eines Konzepts des kollektiv verabredeten Konsums mit der Funktion, Ressourcen und Mängel zu nivellieren, würde ein zerstörerischer Individualismus gefördert werden.
Die Korruption stellt ein noch größeres Problem dar. Sie lässt an die Korruption in der UdSSR und Osteuropa denken. Dort nährten sich die restaurativen Gruppen an der schlechten Behandlung, dem Raub und der Ausplünderung von staatlichen Ressourcen. Die Nachlässigkeit gegenüber öffentlichem Eigentum zeigte, dass ein Teil der Bevölkerung diese Ressourcen nicht als etwas Eigenes betrachtete. Diese Haltung wird nicht allein durch Zureden überwunden, vor allem wenn nebenher Anzeichen von Apathie in der Jugend existieren. Das einzige effektive Gegenmittel ist hier die Beteiligung der Bevölkerung, und zwar in einem politischen System der fortschreitenden Demokratisierung.
Die Verteidigung der Revolution in Einklang zu bringen mit offeneren Debatten, differenzierteren politischen Ausrichtungen, gewerkschaftlichen Freiheiten und modernisierten Kommunikationsmedien – das ist die große Aufgabe, die ansteht, um den Sozialismus in Kuba zu erneuern. Die lateinamerikanische „Neo-Entwicklung“ ist der Feind dieser Entwicklung.
Alle Anhänger und Anhängerinnen des Sozialismus des 21. Jahrhunderts unterstreichen treffend, dass die lateinamerikanische Befreiung keine Kopie von Befreiungsversuchen in anderen Breiten sein wird. Sie heben hervor, dass sich der Kampf um eine egalitäre Gesellschaft in Lateinamerika mit eigenen antiimperialistischen Traditionen verbindet. Das gegenwärtige emanzipatorische Projekt fußt einerseits auf einer historischen Linie des radikalen Nationalismus – die mit Martí, Zapata und Sandino ihren Ausdruck fand – und andererseits auf unterschiedlichen Strömungen des Marxismus.
Dieses Vermächtnis führt zu einer Tradition, die sich sehr vom konservativen Nationalismus im patriotischen Stil unterscheidet und die auch vom sozialdemokratischen Freihandel auf der sozialistischen Seite (den Juan B. Justo einführte) sehr weit entfernt ist. Der antiimperialistische Nationalismus ist dem militaristischen Chauvinismus entgegengesetzt, und die radikale Linke ist die Antithese des Sozialliberalismus des Dritten Weges.
Diese Verbindung von zwei Pfeilern des Sozialismus findet in Lateinamerika ihren Ausdruck in einer Fülle von Symbolen (z.B. Ablehnung der Yanquis), Figuren (z.B. Che Guevara) und Realitäten (z.B. die kubanische Revolution), die einen großen Einfluss auf die junge Generation ausüben. Aus diesem Grund wird das emanzipatorische Projekt als eine Synthese verschiedener regionaler Wege geschildert. [15] Auch die Wertschätzung und Einbeziehung indigener Traditionen und der Kultur der Anden, welche durch Jahrhunderte andauernde ethnische und kulturelle Unterdrückung zum Schweigen gebracht worden waren, sind Teil dieser Synthese.
Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist eine universelle Formel, die ihre Fundamente in den einzelnen Regionen und Gebieten hat. Er ist eine Mischung, die den Reichtum und die Vielfalt des kommunistischen Programms widerspiegelt. Als Ideal entstand der Sozialismus Mitte des 19. Jahrhunderts. Während der verschiedenen Versuche seiner Realisierung in Russland, Asien und Osteuropa nahm er unterschiedliche Formen an. Diese regionalen Anpassungen sind bestimmend für die intellektuellen Einzigartigkeiten, die uns der Marxismus in Ost und West gebracht hat. [16]
Viele KritikerInnen sehen die lateinamerikanische Linke als einen Haufen, der zerfressen ist vom Konflikt zwischen positiven einheimischen Tendenzen und negativen europäisierenden Einflüssen. Die vereinfachenden Thesen der KritikerInnen blenden jedoch aus, dass die lateinamerikanische Linke auf einer Mischung aus einheimischen und ausländischen Traditionen beruht. Diese Vielfalt muss anerkannt werden.
Aber nicht nur die am meisten von Konzeptionen von außen beeinflussten linken TheoretikerInnen griffen auf außerregionale Quellen zurück. Auch die Denker, die eine Theorie des nationalen (oder regionalen) Sozialismus entwickelten – wie Jorge Abelardo Ramos – ließen sich von Thesen inspirieren, die sie in Europa gehört hatten und die in Asien oder den Vereinigten Staaten angewandt worden waren. Ihre These besagt, dass die Nation (bzw. die Zone) eine Einheit darstellt, die über dem sozialen Leben steht und die schwerer wiegt als Klasse und soziale Widersprüche.
Der einzige lateinamerikanische Aspekt dieser These ist der geographische Bereich, auf den sie sich bezieht. Auf alle Probleme gehen die lateinamerikanischen VertreterInnen des nationalen Sozialismus mit den gleichen Argumenten ein wie die nationalistischen TheoretikerInnen aus anderen Ecken der Welt. Ihr Universalismus unterscheidet sich von dem der InternationalistInnen nur dadurch, dass sie eine andere Synthese zwischen nationalen und ausländischen Anteilen des Volkskampfes vorschlagen.
Von dieser Differenz gibt es unzählige Schattierungen, und für sich genommen hat sie auf der politischen Ebene keine große Bedeutung. Was im Gegensatz dazu eine unbestreitbare Spaltung in der lateinamerikanischen Linken ist, ist die Frage, bis zu welchem Grad der Kampf um den Sozialismus konsequent geführt wird. Ob die Affinität zum europäischen Denken größer oder kleiner ist, ist ein zweitrangiges Problem verglichen mit dem Vorhaben, die kapitalistische Unterdrückung zu überwinden.
Was das Erbe von Jorge Abelardo Ramos vom Vermächtnis marxistischer TheoretikerInnen wie Mella oder Mariátegui unterscheidet, ist die Frage, ob dem Sozialismus eine kapitalistische Etappe vorausgehen soll oder nicht. Dies ist der wichtigste Aspekt der gegenwärtigen Debatte. Ersterer suchte in den Reihen der lokalen Bourgeoisie VorkämpferInnen für die regionale Entwicklung, letztere setzten auf die sozialistische Aktion der Massen. Jetzt im 21. Jahrhundert werden wieder diese beiden entgegengesetzten politischen Richtungen diskutiert und es wird der Anschein geweckt, dass beide Wege gangbar wären. [17]
Die Tradition von Mariátegui und Mella ist besonders dem Erbe von Haya de la Torre entgegengesetzt. Die Sozialisten, die den Marxismus in Peru und Kuba einführten, vertraten eine sozialistische Strategie ohne Unterbrechungen. Torre dagegen bevorzugte die Vereinigung der Region unter kapitalistischem Vorzeichen als unausweichliche Stufe zu einer wie auch immer gearteten egalitären Zukunft. [18] Die laufende Debatte über den Sozialismus als einen aktuellen antikapitalistischen Prozess oder als eine dem MERCOSUR nachfolgende Etappe aktualisiert diese alten Kontroversen.
Die Überzeugung, dass der Sozialismus jetzt sofort, zum jetztigen Zeitpunkt, begonnen werden kann, erlaubt die Annahme einer sozialistischen Identität, die sich nicht verstecken muss. Glaubt man dagegen, dass der Sozialismus erst nach einer Etappe der „Neo-Entwicklung“ kommen kann, wird der Kampf gegen den Kapitalismus unschlüssig und inkonsequent geführt werden. Um gemeinsam mit den Industriellen und den InvestorInnen eine Wegstrecke gehen zu können, muss gegenüber den GeldgeberInnen ein gemäßigtes und verantwortungsvolles Benehmen an den Tag gelegt werden. Alle sozialistischen Intentionen müssen auf eine mögliche zweite Phase vertagt werden.
Für diejenigen TheoretikerInnen, die die Welt nur interpretieren, ohne sie verändern zu wollen, ist der Sozialismus schon immer ein lästiges Thema, da er Probleme aufwirft, die ihren beschaulichen Blick auf das sie umgebende Universum durcheinander bringen. Somit stellt auch das Projekt des Sozialismus des 21. Jahrhunderts ein Problem für diese TheoretikerInnen dar, da sie nur das Ungleichgewicht des Kapitalismus studieren, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie eine andere Gesellschaft erreicht werden könnte.
Aber viel schädlicher als jede Fehleinschätzung bei der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus ist das Fehlen von sozialistischen Projekten in der Linken. Deshalb ist es unausweichlich notwendig, den Begriff Sozialismus wieder vorurteilslos zu gebrauchen, ohne ihn durch andere Begriffe ersetzen zu wollen. Das sozialistische Konzept ist nicht nur ein ungefähres Synonym für „das Soziale“. Es bezieht sich konkret auf ein von Ausbeutung befreites System, und nicht auf ungefähre Unschicklichkeiten irgendeiner menschlichen Gemeinschaft. Sich diffus auf den „Postkapitalismus“ zu beziehen, reicht nicht aus, um sich vorstellen zu können, wie eine zukünftige Gesellschaft aufgebaut sein soll. Dazu müssen alternative Programme vorgestellt werden.
Einige Analysten vermuten, dass sich der Sozialismus nach dem Kollaps der UdSSR nicht mehr ausbreiten kann. Sie geben zu bedenken, dass der Begriff an Prestige verloren hat und seitdem nicht mehr in Gebrauch ist. Aber das wiederholte Auftauchen des Konzepts in Lateinamerika sollte sie dazu bringen, die Totenmesse, die sie dem Begriff schon gelesen haben, zu überdenken.
Viele Begriffe erlitten eine ähnliche Erschütterung wie der des „Sozialismus“. Der Begriff „Demokratie“ zum Beispiel wurde in vergleichbarer Weise verzerrt. Die Demokratie war das Feldzeichen der schlimmsten imperialistischen Zusammenstöße während des vergangenen Jahrhunderts und diese Verformung führte nicht dazu, dass das Wort durch ein anderes ersetzt wurde. Niemand schlug vor, für die Souveränität des Volkes einen anderen Begriff zu verwenden als „Demokratie“. Um bestimmte Phänomene zu benennen, gibt es einfach Wörter, die nicht ersetzt werden können.
Der Begriff des „Sozialismus“ war einem ähnlichen Hin und Her wie die „Demokratie“ ausgesetzt, daher sollte seine Gültigkeit unter Berücksichtung einer gewissen historischen Perspektive bewertet werden. Die Demokratie als Ideal wurde im Jahr 1789 erfunden, aber erst während einer langen, nachfolgenden Periode konnte das Prinzip der politischen Gleichheit durchgesetzt werden. Am Ende wurde es als Prinzip akzeptiert und überwand die mittelalterlichen Hierarchien, die in der Vergangenheit mit der menschlichen Existenz selbst identifiziert worden waren.
Mit der Erfindung des Sozialismus geschah etwas Ähnliches. Sein Debut 1917 wird in Erinnerung bleiben als großer Vorläufer für die menschliche Ruhmestat, die soziale Gleichheit zu erringen und das Individuum von den Ketten des Marktes zu befreien. Am Beginn des 21. Jahrhunderts kann an der Verwirklichung dieser beiden Ziele gearbeitet werden.
Claudio Katz ist Ökonom und Professor an der Universität von Buenos Aires, Forscher am Conicet, Mitglied der EDI (Kollektiv linker ÖkonomInnen). Seine Website ist: http://www.netforsys.com/claudiokatz Übersetzung aus dem Spanischen: Thadeus Pato (1. Hälfte) und Luise Lustig |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 430/431 (September/Oktober 2007) (nur online).