Russland

Antikapitalistische Linke und soziale Kämpfe

Ilja Budraitzkis und Mascha Kursina

Die Sprache der heutigen radikalen Linken in Russland macht einen erstaunlich archaischen Eindruck. Das hat nicht nur mit der schlechten, bis zu einem gewissen Grad aber verzeihlichen Gewohnheit zu tun, sich in phraseologischen Wendungen auszudrücken, sondern damit, dass hinter dem Trägheitsmoment der Sprache die Erstarrung der Begriffe und Vorstellungen steht.

Man muss sich beispielsweise die Frage stellen, was die folgende Wortverbindung bedeuten soll: „Arbeit in dem linken Milieu”. Ist damit der technische Prozess der Zusammenarbeit oder aber einer Umverteilung von Ressourcen gemeint? Und die „Arbeit mit den Werktätigen” oder „mit der Jugend”, was ist das? Geht es dabei um den Aufbau der Bewegung oder um deren Instrumentalisierung und deren Anpassung an die eigene Reproduktion? Die ewige Anschuldigungen des „Reformismus” gegenüber den Nächststehenden verdienen besondere Erwähnung; sie gehen mit der Bekundung des eigenen „Revolutionarismus” einher. Diejenigen, die mit derartigen Phrasen daher kommen, sind nicht im Geringsten darum bemüht, zu verstehen, warum und wie die Revolution in dieser konkreten Gesellschaft stattfinden kann und muss. Denn die Revolution ist nicht eine Frucht der Lebensbedingungen der Menschen, so unerträglich diese auch sein mögen, sondern die Frucht der Aktivitäten der Menschen unter diesen Bedingungen.

Unserer Meinung nach ist es an der Zeit, mit der Existenz einer linken Denkweise Schluss zu machen, die sich als Industrie für vorgefertigte Antworten versteht, die sich auf eine Kategorie von Produkten beziehen, deren Haltbarkeit nicht ausgewiesen ist und die sich dazu noch weder umtauschen noch zurückgeben lassen. Natürlich, wenn man die sozialistische Organisation als eine unersetzliche und per definitionem „effiziente” Führung ansieht, dann ist es kaum möglich, ein besseres Modell zu finden. Das Problem ist nur, dass es in der objektiven Wirklichkeit keinen zu solch einem Modell [der vorgestanzten Antworten] passenden Mechanismus zur Herstellung der entsprechenden Fragen gibt.

Will man in den Ereignissen seinen Platz finden, dann muss man dazu in der Lage sein, den gegenwärtigen Moment zu begreifen und die aktuelle Situation mit all ihren Zweideutigkeiten und in all ihren Widersprüchen zu analysieren.


Die Gewerkschaften


Die Gewerkschaftsorganisationen bildeten in den letzten Jahren der UdSSR und in der post-sowjetischen Ära den größten und fortgeschrittensten Teil der sozialen Bewegung in Russland. Sie treten gegenwärtig als organisierte und in ihren Kämpfen konsequente gesellschaftliche Kräfte in Erscheinung, und ihre Bedeutung nimmt unaufhörlich zu. Allerdings stößt der Versuch einer objektiven – auch quantitativen – Einschätzung der Durchsetzungsfähigkeit und des Aktivitätsgrads der Gewerkschaften in Russland unvermeidlich auf nicht geringe, vor allem methodische Schwierigkeiten.

In der russischen Wirtschaft sind heute ungefähr 69 Millionen Personen beschäftigt, dazu kommen mit Sicherheit ungefähr 5 Millionen Arbeitslose (die Arbeitsagenturen registrieren ca. 1,5 Millionen). Die Mitgliederzahl der verschiedenen Gewerkschaften beläuft sich auf 31,5 Millionen BürgerInnen der Russischen Föderation, hält man sich an die Angaben der Gewerkschaften selber. Dabei entfallen auf die FNPR [1] 29 Millionen Mitglieder (91,2 % von allen gewerkschaftlich Organisierten), die allrussische Konföderation der Arbeit um 1,5 Millionen Mitglieder (4,7 %), Sozprof [2] um 500 000 (1,6 %), die übrigen Verbände und unabhängigen Organisationen eine weitere halbe Million (1,6 %).

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad beträgt also 42,5 % der abhängig Beschäftigten. Im Vergleich dazu liegt er in Frankreich, den Niederlanden und in Spanien unter 15 %; in Deutschland, der Schweiz, Italien, Portugal, Österreich und Großbritannien sind es zwischen 20 % und 40 % ; in Norwegen, Belgien, Dänemark, Schweden zwischen 50 % und 90 %. Auf den ersten Blick erscheint das Bild also beruhigend. Paradoxerweise kann der Grad der Beteiligung der russischen Arbeitenden am gewerkschaftlichen Leben nur als ausgesprochen niedrig bezeichnet werden.

Auf internationaler Ebene ist gewerkschaftliche Tätigkeit keineswegs homogen. Es gibt nicht nur beträchtliche Unterschiede, sondern auch Gegensätze in Bezug auf Organisationsformen, Praxis und Bedeutung der Gewerkschaftsarbeit. In Frankreich und in Spanien treten die kleinen Gewerkschaften als die Vorhut der Arbeiterkämpfe in Erscheinung. Darin aktiv zu sein, das kommt - gemäß deren Konzeption - dem nahe, was hier der Zugehörigkeit zu politischen Organisationen entsprechen würde. Der Einfluss dieser Gewerkschaften, ihre Mobilisierungs- und Organisationsfähigkeit reicht beträchtlich über ihre eigentliche Mitgliedschaft hinaus. Die kollektiven Kämpfe und die Tarifverträge erfassen in diesen Ländern 70 bis 90 % der abhängig Beschäftigten. Des weiteren gibt es ein „skandinavisches” Gewerkschaftsmodell: Dabei ist der Rolle bei der sozialstaatlichen Umverteilung gesetzlich festgeschrieben, was hohe Mitgliederzahlen (denn der Bezug von Leistungen der Sozialversicherung hängt von der Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft ab), starke Zentralisierung, mit einem schwerfälligen Apparat und zumeist nicht über offene Diskussionen gefasste Beschlüsse bedeutet, aber auch einen direkten Einfluss auf die Organisation der Produktion ohne kollektive Diskussionsprozesse.

Es liegt auf der Hand, dass die russischen Gewerkschaften weder dem einen noch dem anderen Modell entsprechen. Infolgedessen versucht man –in der Regel –, sie an beide Formen anzupassen. Es ist durchaus möglich, eine Parallele zwischen den kämpferischen Gewerkschaften in Frankreich und den „alternativen” Gewerkschaften in Russland zu ziehen (auch wenn sie bei einem Vergleich der Mitgliederzahlen und noch weit deutlicher in Bezug auf ihren Einfluss schlecht abschneiden, so nutzen sie ähnliche Kampf- und Organisationsmethoden). Die FNPR dagegen – wenn man genau dieselbe Parallele zieht – als „gelbe” Gewerkschaft oder eher als Gewerkschaft „mit einer gelben Führung” zu definieren, das lässt doch ernsthafte und begründete Zweifel aufkommen.

Die „alternativen” Gewerkschaften in Russland sind während der Perestroika und des mit ihr verbundenen Aufstiegs sozialer Bewegungen entstanden. Damals spielten sie eine zentrale Rolle. Allerdings folgte aus dem raschen Rückgang der gesellschaftlichen Aktivität, der durch die grausamen Enttäuschungen der Ideale des „demokratischen Kapitalismus” ausgelöst worden ist, dass aus diesen Gewerkschaften keine Massenorganisationen der arbeitenden Klasse geworden sind. Es gelingt ihnen nur in einigen Sektoren, eine Massenorganisation zu bilden, und zwar dort, wo die Arbeiterklasse zusammengeschweißt ist und wo es im Unternehmen eine hohe Konzentration von ArbeiterInnen gibt: NPGR [3] in der Kohlenindustrie, RPD [4] im Transportsektor, RPLBJ [5] sowie die Gewerkschaften der Piloten und Fluglotsen. In allen anderen Branchen sind die „alternativen” Gewerkschaften nur kleine Gruppierungen der bewussten Minderheit der LohnarbeiterInnen.

Alle unabhängigen Gewerkschaften zusammen repräsentieren jetzt nur 7 oder 8 % der organisierten Lohnabhängigen (d. h. 3 oder 3,5 % aller abhängig Beschäftigten). Und dennoch vollziehen sich zur Zeit in diesem kleinen Segment der sozialen Bewegung für die gesamte Gesellschaft außerordentlich wichtige Prozesse, vor allem tauchen von den multinationalen und den großen russischen Konzernen unabhängige Arbeiterorganisationen auf und entwickeln sich weiter. Gewerkschaften dieser Art entstehen unter neuen Bedingungen, im Milieu von jungen ArbeiterInnen und Angestellten, in Betrieben mit einer neuen Generation von ManagerInnen (vielfach aus dem Ausland), d. h. außerhalb der alten Arbeitsbeziehungen der „sowjetischen” Betriebe, die auf klassenübergreifenden Interessen „der ganzen Belegschaft”, vom Direktor bis zur Putzfrau, beruhten.

Vorstellungen dieser Art sind lange bestehen geblieben, weil die Interessen der abhängig Beschäftigten und des alten Leitungspersonals zum Teil – und paradoxerweise – übereinstimmten in Fragen wie: Weiterbestehen des Unternehmens, Arbeitsplätze, vertikale Beziehungen von Abteilung und Verwaltung. Zudem hat diese Struktur den Höhepunkt ihrer Entwicklung einige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion erreicht, Mitte der 90er Jahre, während der Privatisierungen. „Holen wir uns bloß keine Ausländer!” Diese Losung kam in Dutzenden und Hunderten von Betrieben einhellig von ArbeiterInnen und DirektorInnen „der alten Generation”, wie bei ZBK in Wyborg [6].

Die FNPR in ihrer gegenwärtigen Verfassung, d. h. im Grunde ein Ensemble von korporatistischen Beziehungen innerhalb von Unternehmen, ist Produkt dieses Widerspruchs und dieser paradoxen Situation. In dem Moment, in dem der Prozess der Umverteilung des Eigentums zu Ende war, als der Konflikt zwischen Leitungen und BesitzerInnen der „alten“ und der „neuen Generation“ zugunsten des Klassengegensatzes in den Hintergrund trat, ist der Boden verschwunden, auf dem diese Organisation groß geworden und geblieben ist. Das hat sich in dem Wechsel der parteipolitischen Anbindung von der KPRF [7] hin zu „Einiges Russland” [8] widergespiegelt. Die Zeit des Paternalismus und der klassenübergreifenden Einheit ist vorüber, der Moment, sich zu Füßen des Siegers niederzuwerfen, ist gekommen.

In den Augen der siegreichen Bourgeoisie erscheint die FNPR damit als unnötig. Sie tritt nicht für die Arbeitenden ein (und oft verrät sie deren Interessen ganz direkt), und zugleich ist sie als Instrument des Bosses ganz unnütz. Die einzigen sozialen Gruppen, die direktes Interesse an der Arbeit dieser Organisation haben, sind die „Zwischenschichten”: die AbteilungsleiterInnen, VorarbeiterInnen, Chefs von Abteilungen oder Diensten, stellvertretende ManagerInnen usw. Die besondere Lage dieser Zwischenschicht lässt sie als die „Speerspitze” der Geschäftsleitung im Betrieb erscheinen. Ihre Funktion – zu motivieren und zu überwachen – ist ausgesprochen komplex. Ihre psychologische Situation ist mehr als unangenehm; denn, obwohl sie sich ständig unter einfachen Beschäftigten befindet, muss sie die Anweisungen der Geschäftsleitung befolgen, an ihren Löhnen gemessen stehen sie eher in der Nähe ihrer Untergebenen als ihrer Vorgesetzten. „Bei denen wie unter Fremden, Fremde unter ihren Leuten.” In dieser Lage bleibt die FNPR als korporatistische Struktur, die über Anreize (putjowki [9] usw.) verfügt und das Fortkommen erleichtern kann, unersetzlich.

Die FNPR kann für sich die Bezeichnung „Gewerkschaft“ nicht in Anspruch nehmen, weder ihrer Zusammensetzung nach, noch von ihrer Rolle in den Produktionsbeziehungen und im gesellschaftlichen Leben her, noch aufgrund ihrer Politik. Dennoch spielt sie in der russischen Arbeiter- und sozialen Bewegung eine sehr bedeutende Rolle. Doch ist dies nicht dank ihrer „kampfbereiten” Basismitglieder der Fall, sondern wegen ihres enormen und fast grenzenlosen Potentials zur Kanalisierung von sozialem Protest und als das wirkungsvollste Instrument zur Diskreditierung von gewerkschaftlicher Tätigkeit.

Infolgedessen könnte man unserer Ansicht nach sagen, dass die wirklichen Mitgliederzahlen der Gewerkschaften in Russland nach den optimistischsten Berechnungen nicht über 3 Millionen oder 4 % aller Beschäftigten hinausgehen. Das bezieht sich auf die „alternativen” Gewerkschaften und bestimmte, die gesundesten Teile der FNPR.

In den „freien” Gewerkschaften ist zumeist eine aktive Minderheit der Beschäftigten eines Betriebs, wodurch sie dem Zugriff ihrer Vorgesetzten ausgesetzt sind. Sie können auch nicht in vollem Umfang an dem Abschluss von kollektiven Vereinbarungen mitwirken. Die unabhängigen Gewerkschaften haben vielfach keine „zweite Garde”. Die Entlassung von ein paar führenden Personen nimmt damit der Basis ihre Fähigkeit, Kämpfe zu führen, und führt oft zur Zerstörung der Organisation. Sie verschwindet, bevor die Illegalität der Entlassung vor Gericht nachgewiesen ist. Auf der anderen Seite zeichnen sich die Angehörigen der „alternativen” Gewerkschaften in der Regel durch ein hohes Bewusstseinsniveau und durch Opferbereitschaft in den Kämpfen aus, sie sind einig und bereit, gegen Angriffe auf die Organisation Widerstand zu leisten. Die massenhafte Zugehörigkeit zur FNPR ist oft nicht Folge des Willens, einer Arbeiterorganisation beizutreten, sondern hat mit völlig anderen Motiven zu tun: Ratschläge der Personalabteilung, Gewohnheit, Wahrnehmung der Gewerkschaft als Dienstleisterin (putjowki, Kindergartenplätze usw.).

Dass sowohl die „alternativen” Gewerkschaften als auch die kämpferischen Gliederungen der FNPR ernsthafte Schwierigkeiten haben, liegt an den Beziehungen zu ihrer eigenen Führung. Sie treten auf örtlicher Ebene kämpferisch und als Klassenorganisationen in Erscheinung, ihre nationalen Strukturen beruhen aber vielfach nicht auf transparenten, demokratischen Grundlagen. Eine Entfremdung zwischen Führung und Basis ist zu beobachten. Die nationale Führung spielt die Rolle eines Koordinationszentrums, liefert Informationen, juristischen und materiellen Beistand, ist jedoch nicht wirklich eine aktive und repräsentative Institution unter der Kontrolle der Basis. Die Unabhängigkeit der Führung ermöglicht es Einzelnen, diese Situation zu persönlichen Zwecken auszunutzen. Die kämpferischen Gliederungen der FNPR geraten aufgrund der beschriebenen Besonderheiten dieses Verbands oft in direkte Konflikte mit der örtlichen oder Branchenführung, wenn es zu einer Radikalisierung oder offener Gegnerschaft zum Unternehmen kommt; das hat entweder eine Zerstörung oder die Verselbständigung der Betriebsgewerkschaft zur Folge: Sie tritt aus der Föderation aus.


Die sozialen Bewegungen


Die Stabilisierung der Arbeitsbeziehungen und das Erwachen der Gewerkschaften fielen nicht zufällig mit der Offensive im sozialen Bereich zusammen. Ende der 90er Jahre trat die Privatisierung der Produktion in die Endphase ein. Dagegen waren der Verkehr, Infrastruktur, Wohnungen, die Einrichtungen des Gesundheits-, Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturbereichs, das Rentensystem – also ein enorm großer Teil des öffentlichen Eigentums – noch nicht angegangen worden. Zugleich waren die Garantien, die der Staat der Arbeitswelt und den gesellschaftlichen Bereichen gab, ein Hindernis für die Aufnahme von Russland in die Welthandelsorganisation.

Der erste Schlag erfolgte über die Änderung des Arbeitsgesetzbuchs und zugleich durch die Einschränkung der demokratischen Freiheiten. Die russische Elite hat die Massenaktionen zu Beginn des Jahrzehnts noch nicht vergessen. Die Einschränkung des Vereinigungs- und des Versammlungsrechts sowie der Zugriff auf die Medien hatten zum Ziel, die Herrschaft abzusichern und die Repression gegen Aktionen des „Volkszorns” zu legitimieren.

Die Gegenreformen wurden nicht frontal betrieben, sondern gegen einen Teil der Bevölkerung gerichtet, aber so, dass die Gleichgültigkeit der Mehrheit bestehen blieb. Die Verabschiedung dieser Gesetze zog sich jahrelang hin. So legte die russische Regierung die Änderungen des Arbeitsgesetzbuchs Mitte der 90er Jahre vor, doch wurde die neue Fassung erst 2001 verabschiedet. Für die Rentenreform brauchte sie fünf Jahre. Die 1993 begonnene Bildungsreform ist noch nicht abgeschlossen. Später wurden gegen die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft gerichtete Gesetze rascher durchgesetzt, aber die russische Gesellschaft, die wegen der Schläge und Niederlagen der 90er Jahre in Frustration versunken war, vermochte es nicht, eine langfristige Strategie des Widerstands zu entwickeln. Außerdem verstanden breite Schichten der Bevölkerung den wirklichen Inhalt der Gesetzesentwürfe nicht, und es gelang der Opposition nicht, mit ihren Bemühungen um Aufklärung gegen die Propaganda der neoliberalen Massenmedien anzukommen.

Insgesamt nahmen ungefähr 300 000 Menschen an den großen, von den „alternativen” Gewerkschaften organisierten „vereinigten Aktionstagen” gegen das neue Arbeitsgesetzbuch teil, doch nur eine Minderheit beteiligte sich an den Kundgebungen und eintägigen Streiks. Gegen die Rentenreform kam es nur zu einem passiven Protest: Die BürgerInnen zahlten ihr Geld nicht in nichtstaatliche Fonds ein – ein Fiasko für die Regierungspläne.

Die wachsende Zuversicht seitens der bürgerlichen Elite führte dazu, dass der Rhythmus der Ausarbeitung von Reformprojekten und der Beratung im Parlament beschleunigt wurde. Die Zusammensetzung der Staatsduma, deren Zustimmung nach der Wahl vom Frühjahr 2003 zu einer reinen Formsache geworden ist, hat dazu beigetragen. So wurde das Föderationsgesetz 122, das zu trauriger Berühmtheit gelangt ist, dem Parlament im Herbst 2004 vorgelegt und noch im selben Jahr von dem Präsidenten unterschrieben. [10] Die 2005 verabschiedete Wohnungsgesetzgebung hat in einem Jahr alle Stadien durchlaufen, vom Entwurf bis zum Inkrafttreten [11]; und die komplexen Bestimmungen von Entwürfen zur Privatisierung von Bildung, Wissenschaft und Kultur wurden dem Parlament im Herbst 2006 vorgelegt und von ihm beraten.

Die Auswirkungen dieser Reformen haben ganz unterschiedliche Schichten der Bevölkerung betroffen: IndustriearbeiterInnen, RentnerInnen, StudentInnen und arbeitslose Jugendliche. Die Revolte gegen das Föderationsgesetz 122, die Anfang 2005 stattfand, war ein erstes deutliches Signal für den Widerstand von der Basis. Protestaktionen, die zumeist einen radikalen Charakter hatten, fanden in nahezu 600 Städten statt, d. h. in praktisch allen Gebietshauptstätten. Vor allem die ersten Demonstrationen, die unmittelbar nach den Feiertagen zur Jahreswende begannen, waren spontan und nur wenig von den „offiziellen” Oppositionsparteien beeinflusst, die sich erst als örtliche Selbstorganisationsorgane gebildet hatten und aktiv wurden, über die Bedeutung des Geschehens im klaren wurden und versuchten, Kontrolle über die Bewegung zu erlangen. Und obwohl die Bewegung schnell zurückging, hatte sie entscheidende Bedeutung für die weiteren Protestbewegungen.

Die Koordinationen der Räte (KS), die während der Welle der „Baumwollrevolution” gebildet wurde, zogen unterschiedlichste Elemente an, von AktivistInnen der kleinen linken Gruppen bis zu Personen, die sich zum ersten Mal für gesellschaftliche Angelegenheiten interessierten.

Vor diesem Hintergrund fand im April 2005 das erste russische Sozialforum statt, an dem sich über 1000 Menschen beteiligten, auf der Grundlage einer Repräsentation der regionalen KS. Es war ein Versuch, die Bewegung auf nationaler Ebene zu strukturieren und sie durch die Ausarbeitung eines Programms, das eine globale Alternative zur antisozialen Politik des Kreml darstellen sollte, zu politisieren.

Die Verabschiedung eines neuen Wohnungsgesetzbuchs und einer Reihe damit verknüpfter Gesetze verlieh dem sozialen Protest einen neuen Impuls. Die Besonderheit dieser Reform liegt darin, dass sie alle BürgerInnen in Russland direkt trifft. Zu der Wohnungsfrage gab es Tausende von Initiativen, die sich mit der Verwaltung und dem Bau, den Problemen der Haushalte, der Lage der Wohnungsfonds, den Nebenkosten [12], Mieterhöhungen, dem Recht auf Wohnen, den Rechten der hereingelegten Investoren usw. befassten. Obwohl die Probleme, die mit den Wohnungen verbunden sind, so ähnlich sind (Widerspruch zwischen den Interessen der BewohnerInnen und denen der Wohnbaugesellschaften), kam es nicht zu gemeinsamen Forderungen. Die wiederholten Bemühungen um Koordinierung dieser Initiativen stießen auf wechselseitiges Unverständnis und auf die Ausrichtung auf örtliche Probleme.

Die Existenz von Widersprüchen zwischen besonderen sozialen Gruppen, die im Verlauf der Protestbewegung aufgetreten sind, ist generell ein Hindernis für deren Weiterentwicklung. So hat die Ausweitung des Privatisierungsprozesses in Bildung, Wissenschaft und Kultur eindeutige Proteste der Studierenden und der Beschäftigten in diesen Bereichen zur Folge gehabt; die Ausarbeitung von gemeinsamen Positionen stellt jedoch ein großes Problem dar. Die Umsetzung dieser Reform löst Ängste unterschiedlicher Art aus. Die Studierenden sind unzufrieden wegen des Angriffs auf die Kostenlosigkeit der Ausbildung, während ein größerer Teil des Lehrpersonals sich eine Verbesserung seiner materiellen Lage erhofft. Zugleich sprechen die LehrerInnen der weiterführenden Schulen sich gegen die Einführung einer Auslese bei der Zulassung zum Studium aus [13], die Eltern der SchülerInnen rechnen damit, dass sie dadurch keine Nachhilfe mehr bezahlen müssen. Die WissenschaftlerInnen, die sich mit Grundlagenforschung befassen, sind besorgt darüber, dass die Akademie der Wissenschaften ihre Unabhängigkeit verlieren soll, und fürchten die Schließung ihrer Institute; ihre KollegInnen, die in Bereichen von spezialisierter angewandter Forschung tätig sind, bekommen einen Vorgeschmack von Geld, das im Zuge von Drittmitteln fließt. Die Selbstfinanzierung der weiterführenden Schulen bringt sämtliche Beschäftigten an diesen Schulen in Konkurrenz zueinander.


Wenn die Politik einsetzt


Während der gesamten post-sowjetischen Geschichte ist die neue herrschende Klasse, die aufs Engste mit dem Staatsapparat verknüpft ist, das einzige Subjekt, das seine politischen Institutionen und politischen Vertretungen in der Gesellschaft als solcher geschaffen hat. Man kann die 90er Jahre und die ersten Jahre ab 2000 als eine Form von „Einsamkeit der Bourgeoisie” betrachten, sie bildete Entscheidungsstrukturen ihren Interessen gemäß, ohne die Gesellschaft als solche zu beteiligen. Der einseitig geführte Krieg gegen die Mehrheit, der in den Privatisierungen zum Ausdruck kam, setzt ein politisches Regime voraus, das dazu imstande ist, bei den Angriffen auf das soziale Umfeld, an den Arbeitsplätzen und auf den Lebensstandard seine Bereitwilligkeit unter Beweis zu stellen. Es ist kein Zufall, dass der Beginn radikaler sozialer Gegenreformen mit den politischen Gegenreformen zusammengefallen ist, die mit der Beschießung des Parlamentsgebäudes und der kurzfristigen Einführung des Ausnahmezustands 1993 begannen. [14] In einem derartigen System hat es keinen Platz für eine Opposition von unten mit politischem Charakter gegeben (und den gibt es nach wie vor nicht).

Jeglicher Versuch, sich in den Rahmen der bestehenden öffentlichen Politik zu stellen, setzt die RepräsentantInnen der Arbeiterorganisationen und der sozialen Bewegung einem kolossalen Druck der Korruption und Manipulation durch die gegenwärtigen Institutionen aus. Jede neue Wahlrunde führt zur Bildung einer Latte von quasi politischen Formationen, die das, was noch an unabhängigen Initiativen da ist, wie ein Tsunami zu ertränken droht. Die große Frage, vor der wir stehen, lautet: Wie kann die Bewegung unter diesen Bedingungen ihre Unabhängigkeit bewahren, sich aus der herrschenden politischen Kultur heraushalten und klare alternative Programme ausarbeiten, mit denen ein unabhängiges Instrument der abhängig Beschäftigten gebildet werden kann, das mit deren Stimme spricht und für die Änderung ihrer Lage kämpft.

Zur Zeit hat die russische Linke jedoch nicht die Kraft, um irgendetwas in diesem Sinne vorzuschlagen. Sie existiert außerhalb des politischen Raums, der für die Bürokratie und die Konzerne erstellt worden ist, steht jedoch permanent unter dessen Einfluss, indem sie unbewusst mit ihm interagiert und in ihren Beziehungen zu den sozialen Bewegungen dessen Strategie nachahmt. Die linken Gruppen, die zur Selbstproklamation neigen, versuchen die Basisgewerkschaften und die Initiativen der Basis zu benutzen, um ihnen ihre besonderen Programme überzustülpen. Streiks und Protestaktionen in Wohnungsangelegenheiten, Aktionen der Arbeitersolidarität und Proteste gegen die Auswirkungen der Reformen sind anziehende und erklimmbare Gipfel, auf denen man gern als erster seine Fahnen aufpflanzt oder das jeweilige Logo anbringt. In den Augen der nicht so erfahrenen AktivistInnen der sozialen Bewegungen verwischt solch ein Verhalten oft die Unterschiede zwischen der radikalen Linken und den bürgerlichen PolitikerInnen, die an Wahlerfolgen oder konkreten kommerziellen Zielen interessiert sind.

Es gilt, das wechselseitige Misstrauen zwischen den sozialen Bewegungen und der Linken sowie die Furcht vor einer wechselseitigen Instrumentalisierung zu überwinden. Heutzutage wird es für üblich gehalten, es gilt schon als Norm, dass die Gewerkschaften und die InitiatorInnen von sozialen Bewegungen die politischen AktivistInnen als unbezahlte Hilfskräfte betrachten, nach dem Muster „tu was und dann geh deines Wegs” [15], die zur Verfügung stehen sollen, wenn es um einen Streikposten oder die Aufstellung einer Forderung an einen Abgeordneten geht, die aber unnütz oder schädlich sind, wenn es um die „wirkliche” Arbeit geht. „Lasst die Politik draußen” und „Wir unterstützen diejenigen, die uns helfen”, das sind zwei Losungen, die bei der erdrückenden Mehrheit der AktivistInnen der sozialen Bewegungen Zustimmung finden. Und die Linke zahlt es ihnen mit gleicher Münze heim.

Somit bleibt für SozialistInnen, für die AnhängerInnen einer wirklichen Gesellschaftsveränderung die Suche nach Aktionsfreiheit in der Bewegung, nach einem wirklich einschneidenden Bruch mit dem technizistischen und konsumierenden Ansatz der sozialen Bewegung die oberste Frage. In die Bewegung einzutauchen und mit unabhängigen, auf eine echte politische Alternative weisenden Positionen in ihr präsent zu sein, darin liegt die einzige wirkliche Möglichkeit, um eine linke Perspektive in der Öffentlichkeit adäquat zum Ausdruck zu bringen. Ein solches Eintauchen, eine Präsenz in der Klasse bedeutet für die Linke nicht nur keinen Verlust ihrer Identität und auch keinen Verzicht auf jegliche Offensive auf politischer Ebene, sondern schafft die Bedingungen, damit sie anfangen kann zu existieren.


Die Rolle der Linken


Es lassen sich vier Ausgangspunkte von einander unterscheiden, die zugleich die Schwäche der sozialen Bewegung und der Linken in Russland wie deren Möglichkeit zu einer koordinierten Entwicklung und einem gemeinsamen Wachstum bezeichnen: Probleme der Verbreitung und des Zugangs zu Informationen; wenig Koordination und Zusammenarbeit; geringe Zahl von erfahrenen AktivistInnen; Unfähigkeit Massenmobilisierungen auf die Beine zu stellen.

Die Bewegungen in Russland, ob linke, soziale oder gewerkschaftliche, werden in den Medien ausgesprochen stiefmütterlich behandelt. Die Tatsache, dass es kaum Interesse für ihre Aktivitäten gibt, und sogar die krassen Fehlinformationen seitens der Massenmedien sind nur ein Teil des Problems, wenngleich das unter dem Gesichtspunkt der Bekanntmachung und der Organisierung von breitem Widerstand wichtig ist. Nicht minder schwer wiegen Probleme des Austauschs von Informationen und Erfahrungen innerhalb der Bewegung. Das gegenwärtige Niveau der Kommunikation macht es mehr schlecht als recht möglich, konkrete Repressionsfälle bekannt zu machen. Für langfristig angelegte Kampagnen reicht das nicht.

Die Information über Ereignisse (vor allem per Internet) funktioniert wie ein Kaleidoskop, wir brauchen aber Informationen, die ein allgemeineres Bild ergeben, das Herausarbeiten von Tendenzen, Kontakte, gemeinsame Forderungen und Ansätze ermöglichen. Die in dieser Beziehung führende Arbeit (in erster Linie durch das Institut für Kollektive Aktion [16]) hat leider einen eher soziologischen als politischen Charakter.

Es ist unmöglich, von Perspektiven der Politisierung der sozialen Bewegungen und der Bewusstwerdung über ihre gemeinsamen Interessen zu sprechen, ohne dass die extremen Vorbehalte der sozialen Bewegung und die Subkultur der Linken überwunden werden. In diesem Zusammenhang spielen die Solidaritätskampagnen eine bestimmte Rolle. Sie sind wichtig, und sie werden es bleiben – und sie sollten für die sozialen Bewegungen keinesfalls eine Methode sein, um ihre spezifischen Probleme zu lösen (nicht immer besonders wirkungsvoll), während die Linke darin nicht einzig eine Gelegenheit erblicken sollte, ihre formale Verbindung zur Klasse unter Beweis zu stellen. Vielmehr sollten gemeinsame Aktivitäten zu einer aktiven und fortlaufenden Konvergenz des Bewusstseins der Protestbewegungen und der Gewerkschaften beitragen, so dass dann die Frage ihrer politischen Vertretung und infolgedessen die einer politischen Alternative auf die Tagesordnung kommen.

Im Vergleich zu einer isolierten Solidaritätskampagne ist das Auftreten der Koordinationen der Räte und der gewerkschaftlichen Solidaritätskomitees ein Schritt nach vorn gewesen. Sie wurden als dauerhaft bestehende Räume zum Meinungsaustausch und zur Ausarbeitung von umfassenden Aktionsprogrammen verstanden und gaben gemeinsame Veröffentlichungen heraus; sie haben auch die Herausbildung von breiten Strukturen auf nationaler Ebene möglich gemacht, der Sozialforen und des Verbands der Koordinationen der Räte (SKS). Wie wirksam diese Strukturen sind, hängt von den jeweiligen Umständen und davon ab, was bei einem bestimmten Bewusstseinsstand jeweils praktisch notwendig ist. Die politischen AktivistInnen müssen noch darum kämpfen, dass sie sich auf gleicher Augenhöhe mit den anderen an diesen Initiativen beteiligen können.

Das Fehlen von geschulten Kadern ist ein allgemeines Problem bei der Linken, der sozialen Bewegung und den Gewerkschaften. Einerseits fehlen in den sozialen Bewegungen geschulte AktivistInnen; Bildung und Selbstbildung sind unzulänglich. Die Frage des Mangels an Kadern ist mit der von unzulänglichen Informationen und Analysen innerhalb der Bewegung verknüpft. Andererseits stellt die Linke im allgemeinen keine Verbindung zu dem laufenden sozialen Prozess her, selbst wenn es sich nicht um einen rein praktischen Kampf, sondern um eine soziale oder gewerkschaftliche Bewegung handelt, d. h. die politische Generalisierung solch eines Kampfs anstünde, eine Stimmung, die in einer vereinigten Bewegung vielfach selber vorhanden ist.

Bekanntlich ist die marxistische Theorie nicht nur ein direktes Produkt des Kampfs der Arbeiterklasse, sondern zugleich Verallgemeinerung von deren Erfahrungen in der Vergangenheit. Deshalb ist die Bewahrung des Marxismus als Praxis der politischen Analyse nur dann möglich, wenn jede einzelne Erfahrung nicht gemäß dem etablierten Kanon zergliedert wird, sondern als Teil einer umfassenden Erfahrung angegangen wird. Die Bildung von Kadern ist somit nicht davon zu trennen, dass die Linke in die Massenbewegung hineingeht und politischen Rückhalt von den AktivistInnen der sozialen Bewegungen und den Führungen der kämpferischen Gewerkschaften erhält.

Eines der großen Probleme ist nach wie vor zum einen die geringe Fähigkeit der sozialen Bewegungen, Massenmobilisierungen zu organisieren, und zum anderen der ausgesprochen geringe Umfang der linken Gruppen, quantitativ wie qualitativ. Zur Zeit ist die Mobilisierung gegen die Kommerzialisierung der öffentlichen Dienste [gegen das bereits erwähnte Gesetz 122 vom Januar 2005] die einzige Erfahrung mit einer Massenbewegung, die dazu in der Lage war, eine angemessene Antwort zu geben und vereinheitlichende Forderungen zu formulieren, die Hunderttausende von DemonstrantInnen auf die Straße bringen konnten. Zugleich war diese Bewegung ebenso wie einige andere große, jedoch eher lokale Bewegungen auf die konkrete Situation bezogen und nur von kurzer Dauer. Die Initiativen, die auf der Welle dieser Mobilisierungen entstanden, waren zumeist nicht dazu in der Lage, ihre Präsenz im öffentlichen Leben qualitativ auszuweiten oder eine kontinuierlichere Aktivität zu entwickeln. Abgesehen von den objektiven Gründen, die mit den Besonderheiten des vorhandenen Bewusstseins zu tun haben, erklären sich die bescheidenen Ergebnisse aus dem Fehlen einer breiten organisierten politischen Bewegung.

Aus der schreienden Unfähigkeit der Linken zur Präsenz in und Beteiligung an den Bewegungen, selbst wenn es mehr und mehr der Fall ist, erklärt sich, dass die Zahl ihrer AktivistInnen so niedrig ist und dass sie es nicht schafft, neue Kräfte zu gewinnen. Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die Linke ganz wenig von dem zunehmenden Interesse für die antikapitalistischen Ideen bei Jugendlichen profitiert und sich nicht dazu fähig zeigt, aktiv auf die gegenwärtigen sozialen Probleme zu reagieren, indem sie offen und überzeugend eine scharfe Kritik übt und indem sie zu dem breiten Spektrum von aktuellen Fragen ohne zu zögern und effektvoll eine alternative Interpretation liefert. Die „splendid isolation” führt sowohl zu sektiererischen Tendenzen als auch zur „Herabstufung” der Teilnahme der AktivistInnen, nämlich dem völligen Verschwinden ihrer politischen Positionen bei der tagtäglichen Aktivität als „gute AktivistInnen der sozialen Bewegung”.

Unabhängige von allen objektiven Unterschieden ist das Misstrauen gegenüber den politischen Organisationsformen und den politischen Dimensionen der Fragen nicht etwas, was für die Lage in Russland besonders wäre. Die allgemeine Ablehnung der politischen Organisationen seitens der sozialen Bewegungen, wie sie für die ersten Jahre nach 2000 charakteristisch war, hat in dem Moment abgenommen, in dem die Logik des Widerstands zur Suche nach einer Alternative geführt hat. So ist die organisierte Linke mit dem entscheidenden „Nein” zur europäischen Verfassung zu der Kraft geworden, die das zunehmende Bewusstsein der Gesellschaft über die enge Verknüpfung der Privatisierungen und der generellen Offensive mit den institutionellen Ausformungen auf der Ebene der Nationalstaaten und der Europäischen Union zum Ausdruck bringen konnte. Diese so genannte „Rückkehr der Parteien“ geht auf die tiefe Verbindung und Interaktion zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erfahrungen der Tageskämpfe und sozialistischer Theorie zurück. Solch eine Veränderung war nicht nur mit dem Erwachen der Gesellschaft, sondern auch mit einer weit reichenden Revision ihrer Erfahrung in der Vergangenheit seitens der Linken und ihrer Befassung mit den Problemen der gegenwärtigen Lage verbunden.

Solch eine Revision ist nur auf der Grundlage der täglichen Arbeit innerhalb der Bewegung möglich, wobei unter Beweis zu stellen ist, dass man auf die Ausarbeitung eines verständlichen und mobilisierenden politischen Programms entscheidenden Einfluss nehmen kann. Genau hierauf beruht das Übergangsprogramm, im Aufstellen von klaren und konsequenten Forderungen, die sich an die breiten Massen richten und von der jeweiligen Situation ausgehend mit der Notwendigkeit des Kampfs gegen die Logik des Marktes und zum bewussten und definitiven Umsturz des Kapitalismus verbunden sind.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der russischen Zeitschrift Lewaja Politika (Linke Politik), Nr. 1/2007, die von Boris Kagarlitzki geleitet wird. Die Autorin und der Autor sind Mitglieder der Organisation „Wperjod” (Vorwärts), die mit der IV. Internationale zusammenarbeitet.
Die Anmerkungen stammen – soweit nicht durch eckige Klammern gekennzeichnet – von Vincent B., dem Übersetzer ins Französische.
Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn. J. M. besorgte den Abgleich mit dem russischen Originaltext.



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Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 432/433 (November/Dezember 2007).


[1] Die Föderation der unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR), die im März 1991 gebildet wurde, ging aus dem Zentralrat der Gewerkschaften der Sowjetunion hervor; diese führten zwar den Namen „Gewerkschaften”, waren aber ein Mechanismus zur Kontrolle über die Arbeitenden. Die FNPR hat den größten Teil der Mitglieder, der Hauptamtlichen und des Vermögens behalten. Sie hängt wegen der Aufrechterhaltung ihres institutionellen Status und des Vermögens von der Regierung ab.

[2] Die Konföderation Sozprof wurde 1989 gegründet. Sie steht im Gegensatz zu dem Modell der damaligen Einheitsgewerkschaft, später zur FNPR. Die Führung unterstützte die Restauration des Kapitalismus und die neoliberalen Reformen, doch ist die Basis vielfach kampfbereit, und steht sie in Opposition zu der eigenen Führung. Sozprof konzentriert sich allerdings darauf, für die Interessen der eigenen Mitglieder einzutreten.

[3] Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft in Russland, die 1990 während der Welle der großen Streiks von 1989/90 gegründet wurde. Die Leitung besteht auf der Politikferne des Verbands, die Basis ist oft viel kämpferischer. Beispielsweise ergriffen AktivistInnen von NPGR die Initiative zum „Krieg der Schienen”, der im Sommer 1998 geführt wurde (mit Streikposten und Blockaden von Eisenbahnlinien). Sie forderten den Rücktritt von Boris Jelzin.

[4] Russische Hafenarbeitergewerkschaft.

[5] Russische Gewerkschaftsunion der Lokomotivfahrerbrigaden.

[6] Wyborg ist eine Stadt mit etwa 80 000 EinwohnerInnen, die an der Grenze zu Finnland und am Finnischen Meerbusen liegt. ZBK war das Zellulose- und Papierkombinat in der Nähe der Stadt. Ein Kampf zwischen den Beschäftigten und den Besitzern war der Anlass, aus dem die Belegschaft von März 1998 bis Januar 2000 die Fabrik übernahm. Die Produkte des Kombinats hatten eine hohe Qualität, sie wurden exportiert und gut abgesetzt; die Spekulation, die seit der Privatisierung im Jahr 1994 von den Besitzern betrieben wurde, führte zum Bankrott. Die 2200 Beschäftigten des Werks wählten einen „Volksdirektor” und übernahmen die Kontrolle über die Fabrik. Weil die Besitzer und die Kommunalbehörden sich gegen sie stellten, und nach zwei Versuchen der Polizei, in die Fabrik einzudringen, scheiterte dieser Versuch von Selbstverwaltung. Carine Clément hat diesen Kampf in ihrem Buch Les ouvriers russes dans la tourmente du marché: 1989-1999: destruction d’un groupe social et remobilisations collectives (Paris: Éditions Syllepse, 2000) beschrieben.
[Siehe auch „Vyborg Cellulose Paper Combine” von Olga Pulajewa und Simon Clarke, http://www.warwick.ac.uk/fac/soc/complabstuds/russia/documents/VBK.doc]

[7] Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) wurde 1993 auf dem Schutt der KPdSU gegründet; die Initiative ging von Teilen des mittleren bürokratischen Apparats aus, denen es nicht gelang, bei der kapitalistischen Restauration mitzumischen; die Partei vertritt eine konservative Ideologie, die den Kommunismus (in stalinistischer Version) und großrussischen Nationalismus verbindet. Sie wird von Gennadi Sjuganow mit eiserner Hand geführt.

[8] „Jedinaja Rossija” (Einiges Russland) ist eine neokonservative Partei, die 2001 zur Unterstützung von Wladimir Putin, und um ihm zu einer parlamentarischen Mehrheit zu verhelfen, gegründet wurde. Seit 2003 verfügt sie über 305 der 450 Sitze in der Duma und über 88 der 178 Sitze im Föderationsrat (der oberen Kammer). Diese Zahl reicht aus, damit sie die Verfassung nach Belieben ändern kann. Der Parteivorsitzende Boris Gryslow ist auch Vorsitzender der Duma.

[9] Coupons, die man braucht, um die Angebote des Betriebsrats zu bekommen (Ferienwohnungen, Ferienlager für die Kinder usw.).

[10] Gesetz über die „Monetarisierung” (Kommerzialisierung) der sozialen Rechte; es bedeutet im Klartext, dass den Bedürftigsten staatliche Hilfe weggenommen wird. An die Stelle von Kostenfreiheit bestimmter Dienstleistungen (wie Gesundheitsversorgung, Medikamente) tritt eine finanzielle „Kompensation”. Als dieses Gesetz im Januar 2005 in Kraft trat, kam es zu großen Demonstrationen.

[11] Das Wohngesetzbuch ist am 1. Januar 2006 in Kraft getreten. Es hat die Privatisierung des kommunalen Wohnungsbestands zum Ziel. Es setzt dem kostenlosen Erhalt von Eigentum ein Ende, das Jelzin begünstigt hatte, um die Wohnungen so schnell wie möglich zu privatisieren. Die Hausverwaltung kann von privaten Gesellschaften übernommen werden, sie werden von den Bürgermeisterämtern ausgewählt, wenn die Mitbesitzer es nicht selber tun.
Für weitere Informationen zur Wohnungspolitik und den Mobilisierungen von 2005 und 2006 siehe „Le Messager syndical”, Nr. 32, http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article1777.

[12] Jilitschno-kommunalnoje chosjaistwo – Gesamtheit der Dienstleistungen im Zusammenhang mit Wohnungen (Elektrizität, Heizung, Gemeinschaftsräume usw.).

[13] Das Einheitliche Staatsexamen, das ab 2001 eingeführt wurde, ist die Abschlussprüfung für die höhere Schulbildung, es ermöglicht eine Auslese für die Zulassung zur Universität. Es wird 2009 allgemein gelten.

[14] Die Russische Föderation stellte sich nach ihrer Unabhängigkeit im Juni 1991 in die institutionelle Kontinuität der ehemaligen Russischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) innerhalb der UdSSR, deren Verfassung blieb gültig. Der letzte Oberste Sowjet der RSFSR spielte die Rolle des Parlaments. Die Kommunisten hatten die Mehrheit, sie stellten sich gegen Boris Jelzins neoliberale „Schocktherapie”. Der Konflikt zwischen Exekutive und Legislative spitzte sich zu, Jelzin ließ das Parlament [Anfang Oktober] 1993 von Panzern beschießen, Elitetruppen nahmen das Gebäude im Sturmangriff. Heute ist eine von Kugeln durchsiebte Tür des Parlaments im Museum für Moderne Geschichte in Moskau ausgestellt. Die derzeit geltende (präsidiale) Verfassung der Russischen Föderation wurde nach diesem Staatsstreich verabschiedet.

[15] Mit dem russischen Ausdruck „podai-prinesi, poshel won” wird die allerbescheidenste ausführende Arbeit bezeichnet.

[16] Das IKD wird von der Soziologin Carine Clément geleitet. Auf der Webseite (http://www.ikd.ru, auf Russisch) werden Informationen und Analysen der sozialen Bewegungen und zu Gewerkschaftskämpfen sowie wöchentliche Übersichten veröffentlicht.