Russland

Eine Serie von Streiks und antigewerkschaftliche Repression in Russland

Carine Clément

Seit dem Streik in der Ford-Fabrik in der Region St. Petersburg im Februar 2007 scheint die russische Gewerkschaftsbewegung aufzuwachen. Fast überall tauchen neue Gewerkschaften auf. Das geschieht vor allem in den profitablen Branchen wie Öl, Metallverarbeitung, Autobau oder Aluminium und in den internationalen Betrieben. Konfrontiert mit der Weigerung der Firmenleitungen, über Lohnerhöhungen oder Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu verhandeln, gehen einige soweit, Streiks zu organisieren oder zu unterstützen. Dabei ist es angesichts der neuen Arbeitsgesetzgebung fast unmöglich, legal zu streiken. Letztere fordert, dass mindestens die Hälfte der Beschäftigten sich in einer Plenarversammlung mehrheitlich für den Streik ausspricht. Andernfalls wird der Streik für illegal erklärt, und die Arbeiter riskieren entlassen zu werden.


Sieg der ArbeiterInnen bei Ford-Russland


Am 2. Februar um 1:30 Uhr morgens endete die Versammlung der Beschäftigen des Fordwerkes in der Region St. Petersburg. Bei der Abstimmung fiel die Entscheidung – Streik ab dem 14. Februar. Alles in allem haben sich 1300 Personen, das sind 70 Prozent der Beschäftigten, an den Straßenversammlungen nach Schichtende und bei minus 15° Celsius (die Fabrik hat 3 Acht-Stunden-Schichten) beteiligt. Die Firmenleitung weigerte sich, Versammlungsräume zur Verfügung zu stellen. Das Ergebnis der Abstimmung: 5 Enthaltungen und Einstimmigkeit, den Streik zu beginnen. Den drakonischen Bestimmungen der russischen Arbeitsgesetzgebung wurde damit in jeglicher Hinsicht Genüge getan.

Die Hauptforderungen betrafen einerseits die Arbeitsnormen; andererseits wurden die Tarifforderungen der Gewerkschaften unterstützt, die allesamt von der Firmenleitung zurückgewiesen worden waren. Es ging insbesondere um die Transparenz der Arbeitsnormen, die Beachtung der Sicherheitsbestimmungen, soziale Garantien und die Beschränkung von Auslagerung von Beschäftigung (Outsourcing).

Dieser starke Auftritt geht auf das Konto der neuen Gewerkschaft, die vor noch nicht einmal zwei Jahren gegründet worden war. An ihrer Spitze stehen junge dynamische Arbeiter, die die ganze Zeit damit beschäftigt waren, die Solidarität im Kollektiv zu entwickeln und die Beziehung der Arbeiter zu gewerkschaftlichen Aktivitäten radikal zu verändern.

Alexej Etmanow, der Präsident der neuen Gewerkschaft beschreibt das so: „Mit meinen Genossen vom Gewerkschaftskomitee haben wir sie gelehrt, die Gewerkschaft als Waffe im Kampf zu betrachten; sie benutzten den Begriff ‚wir’, wenn sie von der Gewerkschaft sprachen”.

Die Gewerkschaft bei Ford hat sehr schnell den traditionellen Bund der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR), der sich gegen jegliche Form von Auseinandersetzungen stellt und von dem sie sich eingeengt fühlte, verlassen, um eine freie, kämpferische Gewerkschaft aufzubauen. Mit anderen neu entstehenden Gewerkschaften der Branche (insbesondere der bei General Motors in Togliattigrad) haben sie sogar im Juli 2006 anlässlich des russischen Sozialforums eine neue Automobilarbeitergewerkschaft gegründet.

Die Haltung der Firmenleitung, die fremd und an Verhandlungen gewöhnt war, überraschte durch ihre Härte. Obwohl die Verhandlungen sich über drei Monate hinzogen, wurde keiner der Vorschläge der Gewerkschaft in den Firmenvertragsentwurf aufgenommen, der sich darauf beschränkte, das russische Arbeitsgesetz widerzuspiegeln. Alexej Etmanow geht davon aus, dass die Firmenleitung sich einfach mit den klassischen russischen Management-Methoden angefreundet hat. „Sie glauben, dass sie den Arbeitern ihr Gesetz aufzwingen können, wie das in den meisten Firmen des Landes geschieht. Sie glauben nicht, dass wir in der Lage sind, unsere Rechte zu verteidigen” sagt er zu diesem Thema und fügt hinzu: „ Aber damit haben sie sich vollkommen getäuscht.”

Einige Punkte um einen Eindruck der Arbeitsbedingungen in dieser Fabrik zu vermitteln, die sehr profitabel ist und über modernste Technologie verfügt: das durchschnittliche Gehalt beträgt 19 000 Rubel (540 Euro), es gibt keine festen Arbeitsplätze (die Arbeiter wechseln von einem zum anderen), die vorgeschriebenen Ruhepausen werden nicht eingehalten, maximale Flexibilität, Aufbau von Überstunden, viele gefährliche und gesundheitsgefährdende Aufträge. Und außerdem: ein enormes Ungleichgewicht zwischen den Löhnen der Arbeiter und denen der Firmenleitung…

Und dies war nicht die erste kollektive Aktion der Beschäftigten dieser Fabrik. Im Sommer 2005 hatten sie die Firmenleitung mit einem mehrwöchigen Bummelstreik gezwungen, die Löhne um 14,2 Prozent zu erhöhen.

Die Entschlossenheit der ArbeiterInnen brachte die Firmenleitung ins Wanken, und sie machte am 9. Februar 2007 nach 5 Tagen Streik eine Presseerklärung, dass sie eine Lohnerhöhung zwischen 14 und 20 Prozent – abhängig von der Einstufung – gewähren würde. „Sie wollen uns mit einem Almosen ruhig stellen,” kommentiert Alexej Etmanow diese Geste. Der Gewerkschaftsführer hat bekräftigt, dass der Streik in jedem Fall stattfinden werde, da es im Wesentlichen nicht um die Löhne gehe, sondern um die Arbeitsbedingungen in ihrer Gesamtheit. Die ArbeiterInnen haben die abschließende Entscheidung, zu der sie die Gewerkschaft aufgerufen hatte, am 13. Februar, dem Vorabend des angekündigten Streiks getroffen. Der Streik bei Ford dauerte einen Tag. Die Firmenleitung hat sofort nachgegeben und fast alle Gewerkschaftsforderungen akzeptiert.


Streik bei Sewerstal


Ein Streik in der Fabrik „Karelski Okatisch” (in der Republik Karelien) wurde gerade siegreich beendet. Die Fabrik gehört zur mächtigen eisenverarbeitenden Gruppe Sewerstal („Nordstahl“). Um einen Konflikt mit den Justizbehörden zu vermeiden, haben die ArbeiterInnen der Eisenbahntransporte der Fabrik gestreikt, in dem sie die Arbeit unter Hinweis auf die mangelhafte Arbeitssicherheit verweigerten. Sie verwiesen dabei auf den beklagenswerten technischen Zustand der Lokomotiven. Die Aktion dauerte vom 28. Juni bis zum 3. August und führte dazu, dass die Forderungen der ArbeiterInnen von der Werksleitung akzeptiert wurden. Es handelte sich um eine Gehaltsanpassung und um Verbesserungen der Arbeitsbedingungen.

Entscheidend für den Erfolg war die gute Organisation der ArbeiterInnen, die mehrheitlich in der alternativen Gewerkschaft Sozprof organisiert sind. Ihre Führer haben es verstanden, hart zu verhandeln und Stärke zu beweisen.

Auf den siegreichen Streik folgten leider bittere Tage. Einige Tage nach Ende dieses besonderen Streiks erhielten die ArbeiterInnen eine Abmahnung, weil sie die Arbeit ohne legitimen Grund verweigert hätten, was eine Entlassung möglich macht. Der Gewerkschaft Sozprof wurden die Räumlichkeiten entzogen und der städtische Staatsanwalt eröffnete eine Untersuchung des „illegalen” Treibens der Gewerkschaftsführung.


Der Streik bei Awtowas


Der Streik der ArbeiterInnen am wichtigsten Montageband des Automobilkonzerns AwtoWAS (der die Autos der Marke Lada fertigt) in der Region Samara [1], der am 1. August stattfand, schlug ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Niemand erwartete so etwas, da in dieser Fabrik die traditionelle Gewerkschaft vorherrscht, die gegen jede Art entschiedener Gegnerschaft zur Firmenleitung ist. Und dennoch …

Die Wut nahm schon seit längerem zu, die ArbeiterInnen waren mit der Höhe ihrer Löhne ausgesprochen unzufrieden. Aufgrund der Inflation hat die Kaufkraft seit 1994 abgenommen. Einfache ArbeiterInnen verdienen gerade einmal etwa 7000 Rubel (200 €) im Monat. Infolgedessen verlassen zahlreiche ArbeiterInnen das Werk. Von denen, die geblieben sind, fanden einige den Mut, einen kollektiven Kampf für höhere Löhne aufzunehmen. Dafür wurde im Juni 2007 ein Streikkomitee gebildet. Es übergab der Werksleitung eine Liste mit Forderungen. Darin stand die Lohnerhöhung an erster Stelle. Nachdem die Werksleitung nicht reagierte, weder auf die Forderungen (die von einer großen Zahl von ArbeiterInnen gemeinsam unterschrieben worden waren), noch auf den damit einhergehenden Bummelstreik, wurde der Beschluss gefasst, in Streik zu treten. Der Termin wurde eine Woche vorher bekannt gegeben: am 1. August.

Niemand glaubte, dass es dazu kommen würde, da es in dem Werk über 100 000 Beschäftigte gibt, die wenig organisiert und aus Trägheit Mitglieder der alten Gewerkschaft geblieben sind. Zudem tat die Geschäftsleitung in den Tagen vor dem Streik alles, um die widerspenstigen Arbeiter abzuschrecken: Es gab Drohungen, die von den Abteilungsleitern und den Vorarbeitern verbreitet wurden, Vorladungen der „Rädelsführer” zu geharnischten Gesprächen, Anrufe bei der Polizei, in denen es hieß, es gebe in dem Werk eine „extremistische Bedrohung”. So ist Anton Wetschkunin, einer der kämpferischen Arbeiter, einige Tage vor dem Streik von den Ordnungskräften an seinem Arbeitsplatz verhaftet worden. Der Grund, der genannt wurde, lautete: Verbreitung von Flugblätter mit extremistischem Inhalt.

Trotzdem wurde das Montageband am 1. August wie geplant von 10:45 bis 16:00 Uhr angehalten. Vor dem Werkstor fand eine Versammlung statt, bei der die Streikenden sangen und tanzten, voller Freude darüber, dass sie den Mut für ihre Aktion aufgebracht hatten. Etwa 2000 ArbeiterInnen beteiligten sich an dem Streik. Um drohender Repression zu begegnen, wurde kollektiv beschlossen, aus der Arbeitsniederlegung einen Warnstreik zu machen und die Arbeit mit Beginn der zweiten Schicht wieder aufzunehmen. Doch fand dieser einige Stunden dauernde Streik viel Beachtung. Alle Medien sprachen davon, und es gab öffentliche Diskussionen über die Berechtigung des Streiks. Dabei wurde eine breite Unterstützung für die Streikenden in der öffentlichen Meinung deutlich.

Hilfreich war unter anderem die alternative Gewerkschaft Jedinstwo (Einheit), die in der Fabrik nur eine kleine, aber sehr aktive Minderheit organisiert. Zu nennen sind auch die Solidaritätsaktivitäten, die Netzwerke von politischen und GewerkschaftsaktivistInnen in mehreren russischen Städten organisiert haben (unter anderem in Moskau, wo einige festgenommen und wegen „nicht genehmigter Betätigung” zu mehreren Tagen Gefängnis verurteilt wurden). Weiter ist von Belang, dass der Streik im Wesentlichen auf Initiative von ArbeiterInnen aus drei Abteilungen organisiert wurde, die alle mit der Montage zu tun und eine zentrale Bedeutung für den Ablauf der Produktion haben.

Während die öffentliche Meinung positiv reagierte, lässt sich das von der traditionellen Gewerkschaft und der Werksleitung durchaus nicht sagen. Die Führung der traditionellen Gewerkschaft hat sich entschieden gegen die Aktion gestellt, ihr Sprecher hat sie öffentlich als eine Provokation von Extremisten bezeichnet. Die Werksleitung entschied sich dafür, die Tatsachen zu leugnen, sie gab Erklärungen heraus, wonach nichts gewesen sei. Trotz des Versprechens, Verhandlungen mit Pjotr Solotarew, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Jedinstwo, als dem Repräsentanten der ArbeiterInnen aufzunehmen, hat es zwei Wochen nach dem Streik noch nicht einmal einen Anfang gegeben. Schlimmer ist, dass repressive Maßnahmen eingesetzt haben …


Repression durch die Werksleitung


Eine Woche nach dem Streik fing es an, dass die ArbeiterInnen, die an dem fünfstündigen Streik teilgenommen hatten, Verwarnungen wegen Arbeitsverweigerung ohne legitimen Grund, Abzüge und andere Disziplinarstrafen erhielten. Bis zum 16. August waren 170 Arbeiter von diesen Repressalien betroffen. Zwei Arbeiter, einer davon Mitglied der alternativen Gewerkschaft Jedinstwo, haben eine Benachrichtigung über ihre Entlassung bekommen. Und die repressiven Maßnahmen gehen weiter.

 

Kontakt:

Pjotr Solotarew, Vorsitzender des Gewerkschaftskomitees von Jedinstwo
Fax 00 7 8482 / 53 41 48
E-Mail: profedinstvo@yandex.ru
Oder Carine Clément: info@ikd.ru
Adressen für Protestschreiben:
445633 Region Samara, Togliatti, Chaussee Jushnoi, 36, OAO «AVTOVAZ»
Herrn W. W. Artjakow, Präsident von AwtoWAS
in Togliatti: Fax 00 7 8482 / 75 72 74, Tel. 00 7 8482 / 73 82 21
in Moskau: Fax 00 7 495 / 970 11 02, Tel. 00 7 495 / 970 11 00

Finanzielle Unterstützung:

Die Gewerkschaft Jedinstwo hat kein Bankkonto für Devisen, und in Anbetracht der neuen russischen Gesetzgebung empfiehlt es sich nicht, ihr Geld aus dem Ausland zu schicken. Nach Absprache mit Pjotr Solotarew stelle ich [Carine Clément] mein französisches Bankkonto für Spenden zugunsten der Aktivitäten von Jedinstwo zur Verfügung. Bitte nehmen Sie über die Adresse info@ikd.ru (Stichwort: „AVTOVAZ”) mit mir Kontakt auf [Englisch, französisch oder russisch schreiben].
Alternativ leitet das LabourNet Germany gerne gesammelte Spenden an die obige Kontoverbindung weiter:
labournet.de e.V.
Postbank Dortmund
BLZ: 44010046
Kto.-Nr.: 263 526 467
IBAN: DE92440100460263526467
BIC: PBNKDEFF
Bitte unbedingt angeben: Stichwort „Awtowas“

Das Gewerkschaftskomitee von Jedinstwo bereitet einen juristischen Kampf zur Verteidigung derer vor, die sich an dem Streik beteiligt haben. Es wehrt sich gegen die Entlassung von Anton Wetschkunin, dem Sprecher von Jedinstwo, der aufgrund dieser Position besser geschützt ist. Währenddessen hat die traditionelle Gewerkschaft FNPR der Entlassung von Alexej Winogradow, dem zweiten betroffenen Arbeiter, zugestimmt – er ist also Opfer des Verrats seiner eigenen Gewerkschaft.

Die freie Gewerkschaft Jedinstwo hat sich dazu verpflichtet, alle von den Maßnahmen betroffenen ArbeiterInnen, unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit, zu verteidigen; aber die Aufgabe ist gigantisch und geht weit über die organisatorischen und materiellen Mittel dieser kleinen Gewerkschaft hinaus (in ihr sind maximal 700 von insgesamt 100 000 Beschäftigten organisiert). Sie braucht also Hilfe, auch um die materiellen Verluste der Streikenden ausgleichen zu können.

Es geht um viel. Es geht darum, den Arbeitenden in diesem Werk und der öffentlichen Meinung zu zeigen,

1. dass Gewerkschaften von den Unternehmern unabhängige, kampfbereite Verbände sein müssen und sein können;

2. dass ein Streik möglich und ein unverletzliches Recht ist;

3. dass Solidarität im Land und auf internationaler Ebene etwas Wertvolles ist, das dazu beitragen kann, dass Kämpfe gewonnen werden.

In Russland selber hat bereits eine Solidaritätskampagne begonnen. Ich schließe mich den KollegInnen von der Gewerkschaft Jedinstwo mit der Bitte an die internationalen kämpferischen Netzwerke an, sich auf die eine oder andere Weise zu beteiligen.

Die Verfasserin ist eine französische Soziologin, die in Moskau lebt; sie leitet das Institut für Kollektive Aktion (IKD) in Moskau.
Übersetzung aus dem Französischen: Wolfgang Weitz



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 432/433 (November/Dezember 2007).


[1] Die Aktiengesellschaft AwtoWAS (oder AvtoVaz, auf dt. „Wolga-Automobil-Werk”) ist der größte Hersteller von Personenkraftwagen in Russland und Osteuropa. Das Werk befindet sich in der Stadt Togliatti (oder Toljatti) in der Oblast Samara. Die Stadt hieß ursprünglich Stawropol an der Wolga und wurde 1964 nach Palmiro Togliatti benannt; ihre wirtschaftliche Bedeutung nahm mit dem Bau von AwtoWAS ab 1966 zu. (Anm. d. Übers.)