Geschichte

Rede auf dem Vietnam-Kongress Berlin 18.2.1968

(wd) Mitte Februar 1968, als Vietnam zum „vorgeschobenen Posten der Weltrevolution“ geworden und die Jugendradikalisierung in vielen Ländern eine neue politische Situation zu schaffen begann, organisierte der von der „antiautoritären Fraktion“ um Rudi Dutschke dominierte SDS Westberlin im Februar den Internationalen Vietnam-Kongress, auf dem über die vietnamesische Revolution, andere Länder der „Dritten Welt“ sowie in einer „Strategiedebatte“ über den Aufbau einer „zweiten Front“ in den Metropolen diskutiert wurde. Auf dem 3. Forum des Kongresses mit dem Titel „Der antiimperialistische und antikapitalistische Kampf in den kapitalistischen Ländern“ hielt Ernest Mandel das folgende Referat.

Ernest Mandel

Die Aggression des amerikanischen Imperialismus und die weltweite konterrevolutionäre Rolle Washingtons ist kein geschichtlicher Zufall. Sie ist nicht das Ergebnis einer ethnischen Besonderheit des amerikanischen Volkes. Sie ist das logische und unvermeidliche Ergebnis des Prozesses der internationalen Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Dieser Prozeß führt zu einer Polarisierung der Kräfte auf weltweiter Ebene, auf der der amerikanische Imperialismus notwendig die globalen Interessen der stärksten, konsequentesten und aggressivsten Strömung des Kapitals als solchem zum Ausdruck bringt.

Die internationale Kapitalkonzentration hat mit Hilfe zweier Weltkriege dem amerikanischen Imperialismus eine ungeheure Vormachtstellung innerhalb des kapitalistischen Welt-Lagers gegeben. Der technologische Vorsprung der USA auf dem Gebiet der Atomwaffen ist vom militärischen und politischen Standpunkt aus gesehen weit einflußreicher als die ökonomische und industrielle Vormachtstellung, welche heute, nach dem vollendeten Wiederaufbau des westeuropäischen und japanischen Imperialismus eher relativ als absolut ist. Aber diese militärische Vormachtstellung – unterhalten durch beinahe 320 Milliarden DM Militärausgaben jährlich – schafft einen Ausfall von technologischer Innovation, der den Vorsprung des amerikanischen Imperialismus auf dem Gebiet der Industrie innerhalb der internationalen kapitalistischen Konkurrenz noch erhöht.

Diese Vormachtstellung des amerikanischen Imperialismus in der kapitalistischen Welt aber hat in wachsendem Maße die Handlungsfreiheit der USA eingeengt; und aus dieser Situation müssen wir die Schlußfolgerungen ziehen, die erklären können, warum es heute zum Vietnam-Krieg gekommen ist und warum der amerikanische Imperialismus die Rolle des internationalen Gendarms des Kapitals und der Konterrevolution spielen muß:

  1. Die ungeheure Expansion der Produktivkräfte, der sich der amerikanische Imperialismus während der letzten 20 Jahre erfreute und die das Ergebnis des Prozesses der internationalen Kapitalkonzentration war, hat der vorher bestehenden Autarkie der USA-Wirtschaft in bezug auf wichtige Rohstoffe ein Ende gesetzt. Die USA sind heute in zunehmendem Maße bei zwei der wichtigsten Rohstoffe von ausländischen Quellen abhängig: Eisenerz und Erdöl. Dies zwingt den US-Imperialismus, die materielle Kontrolle über die großen Eisenerz- und Erdölreserven in Lateinamerika mit allen Mitteln zu sichern. Und dies ist eine der beiden Hauptursachen der globalen Expansion des amerikanischen Imperialismus.

  2. Das Wachstum von Akkumulation von Kapital in den USA hat es unmöglich gemacht, unter den Bedingungen des Monopolkapitalismus die enormen Mengen an neuem Kapital in profitbringender Weise innerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten zu verwerten. Dieses Surpluskapital zwingt den amerikanischen Imperialismus, Kapital in wachsendem Umfang zu exportieren. Die Gesamthöhe privater Kapitalinvestitionen amerikanischer „corporations“ im Ausland ist von 7,5 Milliarden Dollars am Ende des 2. Weltkriegs auf mehr als 45 Milliarden Dollars heute angestiegen. Dieses Hinausfließen von Kapital kann nur erklärt werden durch die größeren Profite, die das amerikanische Kapital im Ausland erzielt – größere Profite im Vergleich zu den Investitionsprofiten in den USA selbst. Zwischen den Jahren 1945 und 1955 ist der Anteil der im Ausland errichteten Filialen an der gesamten Geschäftssumme der amerikanischen verarbeitenden Industrie von 10 bis 15 % gewachsen. Zwischen den Jahren 1955 und 1965 ist er weiterhin von 15 auf 20 % gewachsen. Noch klarer wird das Bild, wenn wir beobachten, daß eine wachsende Zahl von USA-corporations jetzt die Hälfte, fast die Hälfte oder mehr als die Hälfte ihrer Geschäftsoperationen im Ausland erzielen. Ein neuer Begriff – derjenige der multinational-corporations – wurde geprägt, um diese Wandlung zum Ausdruck zu bringen.

Diese wachsende Kapitalmenge kann nur im Ausland verwertet werden, wenn in der Welt genügend Raum für den amerikanischen Imperialismus freisteht, um dort freie Unternehmen zu schaffen. Anfänglich versuchte der USA-Imperialismus vor allem in Westeuropa, die Legende zu verbreiten, er verteidige die demokratischen Freiheiten und das Recht zur Selbstbestimmung durch freie Wahlen. Aber wie naiv muß man heute sein, um noch an diese Legende zu glauben, wenn man sieht, daß die Welt des freien Unternehmens, die die Imperialisten um jeden Preis verteidigen wollen, die Welt von Diem und Ky ist, die Welt von General Patakos und von Marschall Costello Branco, die Welt unzähliger Diktaturen und Militärverschwörungen, die demokratisch gewählte Regierungen in Guatemala und Brasilien verteidigen, die freie Wahlen in Santo Domingo und Griechenland verhindern, die freie Gewerkschaften und Arbeiterparteien in Argentinien und Indonesien zerschlagen, und dies auch um den Preis eines Blutbades von 500 000 Toten, wie dies in Indonesien der Fall war. Wenn sie demnach von der freien Welt sprechen, meinen sie lediglich die Welt, wo die Freiheit der kapitalistischen Ausbeutung noch besteht. Um diese Freiheit zu sichern, haben sie die Welt mit 1400 militärischen Luft-, See- und Landstützpunkten überzogen und sind sie bereit, dafür jede menschliche Freiheit zu zerstören. Überall da, wo revolutionäre Bewegungen sich bilden und ihren Befreiungskampf beginnen, ist der amerikanische Imperialismus heute bereit, sein ganzes militärisches Gewicht dafür einzusetzen, um diese zu zerschlagen. Denn die Erfahrung der kubanischen Revolution hat ihn gelehrt, daß diese Bewegungen dazu neigen, in sozialistische Revolutionen hinüber zu wachsen. Das Ziel dieser Aggressionen ist deutlich. Es ist das der Erpressung und des Zwangs auf andere Völker der Welt, diesem Beispiel nicht zu folgen. Das ist der rationale Sinn und das ist die Erklärung des Krieges in Vietnam: die Warnung an alle Völker der Welt, wenn sie es wagen sollten, für ihre nationale und gesellschaftliche Emanzipation zu kämpfen, werden sie dafür durch unzählige Ruinen und Tote bezahlen müssen, wie in Vietnam. Aber das Beispiel Guatemalas, das Beispiel Columbiens, das Beispiel Venezuelas und das Beispiel Boliviens hat gezeigt, daß die Völker diese Herausforderung annehmen und daß sie sich der imperialistischen Erpressung nicht ergeben. Der Imperialismus hat erklärt, daß er seinen Krieg in Vietnam führt als Abschreckung gegen Guerilla-Kämpfe. Aber das bisherige Ergebnis dieses Krieges ist die Ausdehnung des Guerillakampfes nach Thailand, nach Burma, nach Indonesien. Man muß die Hölle kennen, in der die Völker der 3. Welt leben, um zu verstehen, daß keine Drohungen mit Gewalt auf Dauer diese Völker daran hindern können, für ihre Emanzipation zu kämpfen.

Eine doppelte Folgerung muß aus dieser Analyse gezogen werden. Erstens, daß es unmöglich ist, die Welt aus den Klauen des Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus zu befreien, wenn die Wurzeln des Imperialismus nicht ausgerottet werden, wenn die Befreiungsbewegung nicht ununterbrochen weitergeführt wird, um eine sozialistische Revolution zu erringen. Wie es der Genosse Che Guevara gesagt hat: Die Revolution überall wird sozialistisch sein, oder sie wird letzten Endes nicht sein.

Zweite Schlußfolgerung: Es ist heute unmöglich, die Welt vom imperialistischen Verbrechen zu befreien, solange der Kapitalismus nicht auch in den Metropolen selbst gestürzt ist. Und wir haben heute konkret die Wege und Mittel zu untersuchen, durch die das wachsende anti-imperialistische Bewußtsein immer breiterer Massen in den imperialistischen Ländern selbst in ein antikapitalistisches Bewußtsein zuerst und in eine breite antikapitalistische revolutionäre Massenbewegung danach integriert werden kann.

Eine zentrale, unmittelbare Aufgabe in diesem Zusammenhang ist eine allgemeine einheitliche Aktion gegen die NATO in Europa. Die NATO ist nicht nur eine Allianz, die den USA-Imperialismus unterstützt und seine Bollwerke in vielen Ländern unterhält. Sie ist nicht nur eine Institution, die direkt und indirekt amerikanische konterrevolutionäre Aggressionskriege in vielen Teilen der Welt – vor allem den schmutzigen Krieg in Vietnam – unterstützt. Sie ist auch und vor allem eine Institution, die das kapitalistische System der Ausbeutung in Westeuropa selbst zu schützen hat – auch um den Preis der Vernichtung der letzten demokratischen Freiheiten. Was das heute konkret bedeutet, wurde in finsterer Weise in Griechenland illustriert, wo die demokratischen Freiheiten der Massen zerstört wurden auf der Basis des im Rahmen der NATO ausgearbeiteten Prometheus-Plans. Was das konkret bedeutet, wurde in Italien bewiesen, wo wir heute wissen, daß das sogenannte SIFAR-Projekt der Verhaftung und Deportation aller Führer der Arbeiterklasse und demokratischer Organisationen an dem Punkt war, in die Tat umgesetzt zu werden. Und wir wissen heute ebenfalls, daß die amerikanische militärische Führung zehn westeuropäischen Staaten, die NATO-Mitglieder sind, einen Plan vorgelegt hat, der den amerikanischen Militärs das Recht verleiht, in Fällen von Streiks, Demonstrationen und Massenaufständen direkt zu intervenieren, wann immer – wie es in dem Vertragsprojekt heißt – diese Regierungen sich als unfähig erweisen würden, die sogenannte Sicherheit der USA-Truppen zu garantieren. Es ist notwendig, den Kampf gegen die NATO im breitest möglichen Rahmen zu organisieren, die Gewerkschaftsorganisationen mit einzubeziehen, die Arbeiterklasse und demokratische Organisationen und die breitest möglichen Massen dafür zu mobilisieren. Es ist notwendig, alle Zwischenfälle, die der USA-Imperialismus selbst produziert, wie das vor kurzem in Dänemark der Fall war, als bekannt wurde, daß amerikanische Flugzeuge mit Kernwaffen über Grönland zirkulieren und einmal in einem Unfall diese Kernwaffen auch abgeworfen haben, auszunützen, um diese breite Agitationsbasis zu erreichen. Es ist jedoch notwendig, diese Agitation in einer solchen Form zu führen, daß nicht die geringste Konzession gemacht wird an die jeweiligen einheimischen kapitalistischen Kreise, die aus Konkurrenzgründen ebenfalls einen antiamerikanischen Ton einschlagen. Die revolutionäre Bewegung hat nichts gemein mit dem sogenannten Antiamerikanismus von General de Gaulle, von einem Servan-Schreiber oder von der NPD. Und jede Aufgabe der Selbständigkeit der revolutionären Arbeiter- und Studentenbewegung auf diesem Gebiet würde sehr schnell nicht nur zur Entmannung und Paralyse dieser revolutionären Bewegung führen, sondern sie zwingen, die Tagesinteressen der Arbeiterklasse und der Gewerkschaften auf dem Altar der Profitgier der eigenen Kapitalisten zu opfern.

Wie man konkret den Kampf gegen die NATO, gegen die eigene bürgerliche Unterdrückungsmaschine mit dem Kampf für die Unterstützung und den Sieg der vietnamesischen Revolution verbinden kann, das haben uns in eindringlicher Weise die Hafenarbeiter Australiens, die Gewerkschaften Japans gezeigt, die Arbeiterstreiks organisiert haben gegen USA-Truppen und Munitionstransporte. Der antiimperialistische Kampf findet heute in den imperialistischen Metropolen in einer ganzen Reihe von Ländern seine Vorhut in radikalen Jugend- und Studentenbewegungen. Die objektiven Wurzeln dieser Tatsache wurden durch die italienische Genossin der PSIUP-Jugend, die hier vor mir gesprochen hat, bereits eingehend untersucht. Sie hängen zusammen mit einer weltweiten Bewegung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, mit der technologischen Revolution, mit den Veränderungen der Reproduktionsbedingungen der intellektuellen Arbeitskraft, mit dem Aufbegehren einer breiteren und sozial anders geschichteten Studentenmasse gegen die autoritären Universitäten und Schulen. Auf diesem Gebiet haben wir ähnliche Parallelentwicklungen erlebt in so auseinanderliegenden Ländern wie Japan und Spanien, wie der BRD und den katholischen Ländern, wie dem flämischen Teil Belgien und Italien. Die Westberliner Studenten haben ein schönes Blatt geschrieben in dieser Geschichte der neu auflebenden radikalen Studentenbewegung. Dieses Blatt hat viele Lehren gegeben an die Studenten in anderen westeuropäischen Ländern.

Aber ihrerseits können heute die Westberliner Studenten einige technisch-praktische und politische Lehren ziehen aus der Verbindung des Studenten- und Arbeiterkampfs in verschiedenen Ländern der Welt. Einige technische Lehren – ich weiß nicht, ob Ihr die Fotos der Zengakuren-Studenten gesehen habt, als sie gegen die amerikanische „Enterprise“ mit ihren Motorrollerhelmen und mit ihren Stöcken in den Händen marschierten, und anderen Abwehrmitteln gegen die Repression der Polizei. Ich kann Euch nur sagen, daß diesen Bildern, die in den Illustrierten und in den Wochenschauen gebracht wurden, bereits vergangene Woche in Paris durch radikale Jugendliche gefolgt wurde, und es ist ein guter Ratschlag, den ich auch den Westberliner Studenten geben möchte. Die politische Lehre wurde bereits vom Genossen Dutschke wie einer Reihe von anderen Rednern in der Formel zusammengefaßt: Verbindung und Aktionseinheit von Arbeitern und Studenten auch auf elementarster Basis. Wir haben vor einigen Wochen erlebt, wie in einer französischen Provinzstadt 24 Stunden lang der Belagerungszustand herrschte, weil die Studenten auf die Straße gegangen sind, um einen Streik von 4000 Arbeitern zu unterstützen und gegen ein Demonstrationsverbot 20 000 Leute auf die Straße brachten, wo es zum Anfang von Barrikadenbauen gekommen ist. Aber darüber hat die Springerpresse dem Berliner Publikum nicht zufällig keine Einzelheiten mitgeteilt. Politische Lehren über Zusammenarbeit der Studenten- und Arbeiterbewegung nicht nur auf dem Gebiet der unmittelbaren Forderungen: In Großbritannien gibt es seit zwei, drei Jahren eine wachsende Bewegung unter der Losung der Arbeiterproduktionskontrolle, der Vorbereitung der Produktionsübernahme mittels der Kontrolle durch die Produzenten. Wir haben gesehen, wie im vergangenen Jahr, und dieses Jahr wird die Erweiterung dieser Erfahrung bringen, neben diesen Gremien der workers control auch Gremien von student power, auch Gremien zur Kontrolle der Universität der Studenten als gleichzeitige Parallelbewegung zur Kontrolle über die Betriebe durch die Arbeiter errichtet werden und in gemeinsamer Aussprache die gemeinsame Strategie zum gemeinsamen Ziel ausgearbeitet wird.

Genossinnen und Genossen! Der Spuk der endgültig gesättigten Wohlstandsgesellschaft, die freiheitlich durch die Führenden manipuliert werden könnte, dieser Spuk ist dabei, sich aufzulösen. Die Rezession, die es jetzt seit anderthalb Jahren in Westeuropa gegeben hat, hat diesen Spuk zerschlagen und der alte Marx hat schon vor einem Jahrhundert geschrieben, daß vor jeder Wirtschaftskrise die Kapitalisten immer erklären, daß es diesmal ausnahmsweise nicht zu einer Krise kommen wird, und wenn die Krise schon einmal da ist, die Schuld diesen oder jenen Nebenerscheinungen geben: Geld, Kredit und ähnliche Detailfragen, um zu erklären, wieso es wiederum doch zur Krise gekommen ist. Man hat uns 15 Jahre lang in Westeuropa weis machen sollen, daß die „soziale Marktwirtschaft“ und daß der Neokapitalismus jetzt endlich das Mysterium und das Geheimnis gefunden hatten, um Krisen auszuschalten. Wir wissen, daß es in den letzten anderthalb Jahren 3 Millionen Erwerbslose in Westeuropa gegeben hat. Man kann die Wirtschaftskrise Rezession nennen – eine Wirtschaftskrise ist sie, und sie beweist, daß die grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Systems nicht überwunden wurden und nicht überwunden werden können. Und jetzt, wo sich dieser Spuk langsam aufhebt, und jetzt, wo sich wiederum antikapitalistisches Bewußtsein in breiteren Massen von Arbeitern, Schülern, Studenten ausbreiten kann, müssen wir wiederum mit der elementaren Aufgabe anfangen zu versuchen, an all den Bruch- und Krisenpunkten der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Wirtschaftsordnung anzuknüpfen, um dieses Bewußtsein auszubreiten, in Aktionen zu verwandeln und langsam aber sicher auszurichten auf das einzig mögliche Ziel, die revolutionäre Machteroberung durch die Werktätigen, die Verbindung von Arbeitern, Angestellten, technischer Intelligenz und Studenten. Denn eins haben wir in den anderen westeuropäischen Ländern in den letzten 15 Jahren gelernt, dort wo es im Gegensatz zu der BRD bereits zu großen Massenbewegungen gekommen war: Diese Massenbewegungen können sich ausdehnen, können von rein trade-unionistischen Streiks zu politischen Generalstreiks wachsen, sie können unmittelbar politische Krisenherde werden für die bürgerliche Gesellschaft, wenn sie den qualitativen Sprung zur revolutionären Machteroberung machen. Werden sie zurückgeschlagen, dann wird der Gegner die durch die Werktätigen verpaßte Chance benutzen, um seinerseits einen Vorstoß zu wagen. Das Beispiel Griechenlands, wo 1964 und 1965 die Massen einen unerhörten Aufschwung erlebten und wo kaum drei Jahre später bereits eine Militärdiktatur errichtet wurde, ist auf diesem Gebiet eine sehr ernste Warnung. Antikapitalistisches Bewußtsein und antikapitalistischer Kampf können anknüpfen an den Konjunkturkrisen, an dem Kampf um den Arbeitsplatz, an dem Kampf um die Kürzung der Arbeitszeit, an Strukturkrisen wie an der Ruhr und in zurückgehenden, um Abgleiten verurteilten Industriezweigen. Er kann aber auch ansetzen an einer grundlegenden Kritik am kapitalistischen Konsumpaket, an der Forderung nach freien Schulen, Studentenlohn, nach Ausbau der Universitäten, die jedermann zugänglich werden; auf einen völlig kostenlosen Gesundheitsdienst, auf eine Ausbreitung des Kollektivkonsums und der Sozialleistungen auf Kosten der Militärausgaben und der Ausgaben für einen parasitären Staatsapparat. Antikapitalistisches Bewußtsein und antikapitalistischer Kampf müssen aber ebenfalls anknüpfen an dem, was noch immer das entscheidende Kennzeichen der kapitalistischen Herrschaftsbedingungen bleibt: nämlich der Unfreiheit des Arbeiters und Angestellten an dem Arbeitsplatz selbst, seiner grundlegenden Entfremdung und Verdinglichung im Arbeitsprozeß. Letztendlich gibt es da, wie ebenfalls die italienische Genossin gesagt hat, eine unerhörte Masse an Konfliktstoff, der gesichtet, analysiert, geordnet und zu Agitationszwecken gebraucht werden muß. Man hat in englischen Streikstatistiken nachgelesen, daß über die Hälfte der in Groß-Britannien in den letzten drei Jahren stattgefundenen Streiks weder um Lohnfragen noch um Arbeitszeitfragen, sondern um diese zentrale Frage der Arbeiterrechte und der Kontrolle über den Arbeitsplatz und über die Produktionsmittel sich drehten. Auch in der BRD fehlen die Ansatzpunkte dazu nicht, und es wäre eine bedeutende Aufgabe für junge Studenten und junge Intellektuelle, für junge Wissenschaftler, die wirklich mit der Arbeiterklasse verbunden sind, in die Betriebe zu gehen, diese Probleme eingehend zu studieren und davon ausgehend ein konkretes Aktionsprogramm zu entwickeln, das die kapitalistische Ausbeutung unmittelbar in Frage stellt.

Genossinnen und Genossen! Der antiimperialistische Kampf der Völker der dritten Welt, die um ihre Befreiung ringen, die Solidarität mit diesem antiimperialistischen Kampf und der antikapitalistische Kampf der arbeitenden und werktätigen Massen in den imperialistischen Hochburgen müssen zu einem einheitlichen Kampf gegen das Weltkapital zusammengeschweißt werden. Das ist keine einfache Angelegenheit, das kann nicht mit Worten, Programmen und Proklamationen geschehen, das kann nur in der Praxis und in der Tat geschehen, das kann auch nur in der Praxis geboren werden. Alle Organisationen, die bereit sind, alle Regierungen, die bereit sind, wie die Regierungen der sozialistischen Staaten, an einer solchen revolutionären Einheitsfront teilzunehmen, werden ganz bestimmt von niemandem abgewiesen werden. Aber damit man an ihre Worte glaubt, müßte man erstens, bevor man von einer solchen Einheitsfront spricht, von der Sowjetführung eine deutliche Erklärung der Solidarität und der Verteidigung mit dem durch den Imperialismus unmittelbar bedrohten chinesischen Volk und der chinesischen Volksrepublik erhalten. Der Kapitalismus ist heute in weltweitem Ausmaß ein verurteiltes System. Ihr kennt alle das scharfe Wort von Karl Marx, daß das Kapital auf die Welt gekommen ist, beschmutzt und befleckt mit Blut und Dreck, und wenn Ihr die Geschichte des Ursprungs des Kapitals kennt, wenn Ihr wißt, wie eine gerade Linie geht von den Sklavenhaltern und den Sklaventransporten bis zu den Finanziers der ersten großen Textilfabriken in Frankreich und in England, dann wißt Ihr, daß dieses Wort von Karl Marx keine Übertreibung und keine romantische Verunglimpfung, sondern den Ausdruck einer historischen Wahrheit darstellt. Heute erleben wir, wie das Kapital auch untergeht in derselben Form, wie es entstanden ist, das heißt beschmutzt vom Blut und Dreck, indem es versucht, größte Greuel in weltweitem Ausmaß gegen all diejenigen Völker zu begehen, die den Kampf gegen das Kapital aufgenommen haben, aber diese Greuel sind nutzlos, das Kapital ist zum Tode verurteilt. Unsere Pflicht ist es, nicht passive Beobachter dieses historischen Prozesses zu sein, sondern uns darin einzuschalten und zu sichern, daß die Arbeiterklasse und die revolutionäre Studentenschaft Westeuropas, die immerhin den Marxismus geschaffen hat, wiederum den ihr gebührenden Platz im revolutionären Kampf der Welt einnimmt.

Hoch der Sieg der vietnamesischen Revolution!

FNL vaincra!

Es lebe die internationale Solidarität der kolonialen Völker in ihrem Befreiungskampf und der Werktätigen und Studenten Westeuropas, Japans und Nordamerikas, es lebe die sozialistische Weltrevolution!

Diese Rede wurde zuerst in der vom Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) herausgegebenen und von Bernhard Blanke, Reimut Reiche, Wolf Rosenbaum und Ursula Schmiederer redigierten Zeitschrift neue kritik abgedruckt (9. Jg., Nr. 47, April 1968, S. 60–68). Sie ist ebenfalls in der Dokumentation des Kongresses enthalten, die von dem SDS Westberlin und dem Internationalen Nachrichten- und Forschungsinstitut (INFI) herausgegeben und von Sibylle Plogstedt redigiert worden ist (Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus. Internationaler Vietnam-Kongreß 17./18. Februar 1968, Berlin: INFI, 1968, S. 124–134; Reprint, gekürzt um Anhang „Telegramme und Solidaritätserklärungen“, mit einem Nachwort von Theo Bruns, ansonsten unverändert: Internationaler Vietnam-Kongreß. Februar 1968, Westberlin, Hamburg: Verlag Libertäre Assoziation, 1987). Einige offenkundige Fehler wurden korrigiert; alte Rechtschreibung und gewisse Eigenwilligkeiten in der Schreibweise wurden belassen.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 438/439 (Mai/Juni 2008). | Startseite | Impressum | Datenschutz