Tibet

Für das Recht auf Selbstbestimmung des tibetischen Volkes

Die chinesische Armee hat Tibet und die angrenzenden Provinzen unter enger Kontrolle. Die Repression gegen die „Randalierer“, die den vergangenen zwei Wochen auf die Straße gegangen sind, scheint ernst. Solidarität und wirksame Anerkennung des Rechts des tibetischen Volkes auf Selbstbestimmung sind nötig.

Pierre Rousset

Einige Linke (selten in Frankreich, häufiger anderswo) verweigern die Solidarität aus Angst, das Spiel der USA gegen China zu spielen. Andere auf der Rechten rufen zu Demonstrationen gegen 59 Jahre chinesischer Besetzung auf (1950/1951 hatte die Rote Armee das Land betreten) und verurteilen die „kommunistische Diktatur“. Beide „spiegelbildliche“ Positionen kümmern sich wenig um die Geschichte: Die „Tibetfrage“ stellte sich in den verschiedenen Epochen in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen.

Die Oberherrschaft Chinas über den Tibet reicht weit in die Vergangenheit zurück: Sie war zeitweise sehr formal oder gar nicht vorhanden, und manchmal tiefgreifend (mit militärischer Besetzung), bevor das Land 1911–1913 seine Unabhängigkeit erklärte. Wenn man sich aber auf die jüngere Geschichte, nach dem Sieg der chinesischen Revolution (1949), beschränkt, so war die Frage der Selbstbestimmung untrennbar mit den gewaltsamen Konflikten der damaligen Zeit verbunden. Hätte die Ausstrahlung dieser Revolution eine Mobilisierung der tibetischen Bauern gegen die harte Ausbeutung, deren Opfer sie waren und die vor allem vom Klerus und den Klöstern ausgeübt wurde, begünstigen können? Wer hätte denn damals im Namen des Volkes sprechen können? Hätte Tibet vom Imperialismus als Stützpfeiler benutzt werden können?

Die Jahre 1950–1960 waren die des Korea-Kriegs und der Anfänge der militärischen Eskalation der USA in Indochina, der Bewaffnung Taiwans, des Baus von gewaltigen US-Basen in der Region und des chinesisch-indischen Showdowns im Himalaya. Um die Eröffnung einer neuen Front zu verhindern, hatte die Kommunistische Partei Chinas im Jahr 1951 ein Abkommen mit den besitzenden Klassen Tibets, dem buddhistischen Klerus und dem Dalai Lama geschlossen. Dieser Kompromiss wurde gebrochen, und es war die CIA, die den anti-chinesischen Aufstand 1957–1959 bewaffnete. Die Konfrontation zwischen Revolution und Konterrevolution zerriss die ganze Region. Wie kann man das vergessen?

In ihrem Programm von 1930 erkannte die KPCh das Recht auf Selbstbestimmung an, einschließlich dem der Tibeter. Aber dieses internationalistische Prinzip wurde nach dem Sieg von 1949 schnell fallen gelassen, mit dem Machtantritt der Bürokratie und des „Groß Han“-Nationalismus (die Han sind die ethnische Mehrheit in China). Im Tibet hatte die Rote Armee seit 1950/1951 und besonders nach der Repression von 1959 begonnen, sich wie eine Besatzungsmacht aufzuführen. Für Peking bestand die Bedeutung dieses Landes vor allem in ideologischen (nationalistischen) Erwägungen, in seiner geostrategischen Lage und seinen natürlichen Ressourcen (Wasser, Bergbau, Forstwirtschaft…). Trotz der sozialen Reformen zum Vorteil der Bauern blieb das tibetische Volk Gegenstand einer spezifischen nationalen Unterdrückung, sowohl auf kulturellem wie auf wirtschaftlichem Gebiet. Besonders die Mobilisierungen von 1987 bis 1990 wurden gewaltsam unterdrückt. Das Recht auf Selbstbestimmung stand der bürokratischen Ordnung deutlich entgegen.

 
   
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Gilt das auch heute noch? Die derzeitige Entwicklung des Kapitalismus in China hat keinen Beitrag zur Lösung der nationalen Frage geleistet, ganz und gar nicht. Tatsächlich hat sich die Situation seit 1995 erheblich verschlechtert. Wir erleben einen fast klassischen Prozess der Kolonisierung durch Besiedelung: Die Tibeter laufen Gefahr, zur Minderheit im eigenen Land zu werden, und sind sowohl von Marginalisierung wie auch von erzwungener Assimilierung bedroht. Die „Entwicklung“ des Landes entspricht von nun an mehr und mehr kapitalistischen Standards, und es könnte zu einer ebenso unlösbaren Situation kommen wie in Sri Lanka (Tamilen) oder im Süden der Philippinen (Moros und Lumads). Das Recht auf Selbstbestimmung steht heute mindestens ebenso der neuen chinesischen Bourgeoisie und den multinationalen Unternehmen, die an den Reichtümern des Landes interessiert sind, entgegen wie der alten, im Umbruch befindlichen Bürokratie. Warum noch von „Kommunismus“ sprechen?

Schreiben ist Teil der Verpflichtung zur Solidarität. Jedoch ist es für einen Nicht-Spezialisten sehr heikel, sich zum Tibet zu äußern. Was steht es heute um die tibetische Gesellschaft? Welche Forderungen entsprechen am besten dieser Situation? Dies sind einige äußerst wichtige Fragen, die dennoch für den Autor dieses Artikels noch ohne Antwort sind. Tibet ist allen bekannt, doch was wissen wir jenseits der Klischees? Dies ist die Stunde der Solidarität – aber auch die des Bemühens um eine Vertiefung der politischen Analyse. Es ist Sache des tibetischen Volkes, seine eigene Entscheidung frei zu treffen.

Aus: Rouge, 24. März 2008
Übers.: Björn Mertens

Pierre Rousset ist Mitglied von Europe Solidaire Sans Frontiers (Europa solidarisch ohne Grenzen – ESSF) in Frankreich und der Ligue Communiste Révolutionnaire (IV. Internationale).



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 438/439 (Mai/Juni 2008).