Die Diskussion des Internationalen Komitees der IV. Internationale, das Anfang März getagt hat, wurde durch einen Bericht eingeleitet, den François Sabado, Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale, am 1. März gehalten hat. [1] Wir veröffentlichen hier die schriftliche Fassung seiner Rede. [2]
Dieser Bericht stellt einige der in unseren Augen wichtigsten Züge der internationalen Lage vor. Er geht nicht auf alle Fragen ein. Er ist womöglich durch einen gewissen Eurozentrismus geprägt. Deshalb werden einige Fragen nur teilweise beantwortet. . Ihm soll ein Bericht über die Probleme beim Aufbau der Internationale und über die Themen des nächsten Weltkongresses folgen.
Die internationale Lage ist durch die Finanz- und Wirtschaftskrise geprägt, die seit Ende Sommer 2007 die Weltwirtschaft trifft. Der Ausbruch der Krise stellt eine Wende in ihrem Verlauf dar. Diese ist bedeutsam, denn in ihr laufen verschiedene Prozesse zusammen und sie erfolgt im Rahmen der Veränderung der historischen Periode, wie sie zu Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts eröffnet wurde; sie ist geprägt durch die kapitalistische Globalisierung und ihre Widersprüche.
Hinsichtlich der Krise stützen wir uns auf die Arbeiten von F. Chesnais, E. Toussaint und der Arbeitsgruppe Wirtschaft der LCR.
Es handelt sich um eine Wende in dem Sinn des Endes eines Zyklus der US-amerikanischen Wirtschaft, der mit dem Aufschwung von 2003 begann und durch einen massiven Anstieg des Binnenkonsums, eine massive Verschuldung auf der Grundlage sehr geringer Zinsen und gesunkenen Finanzierungskosten geprägt war. Diese Mechanismen haben zur Spekulationsblase im Immobilienbereich geführt. So wurde auch das die „Subprimes” geschaffen, risikoreiche Kredite zu variablen Zinsen, die man den schwächsten Haushalten gewährte. Zusammen mit der Finanzierung der Defizite durch ausländisches Kapital und dem Fall des Dollars liegt darin einer der wichtigsten Mechanismen für das US-Wachstumsmodell von 2003 bis 2008. Als aber 2005 die Zentralbank Fed die Leitzinsen erhöhte, hat sie die Maschine zerstört und die Zahlungsunfähigkeit und den Zusammenbruch von Millionen verschuldeter Haushalte provoziert, was wiederum zum Zusammenbruch von zahlreichen Kreditinstituten führte und das Bankensystem erzittern ließ. Denn der Kredit bildet den Eckpfeiler des amerikanischen Wachstums. Um den Profit hochzuhalten und regelmäßig fließen zu lassen braucht man eine dynamische Nachfrage. Diese kann nicht von den Löhnen kommen, da sie von den Unternehmern gekürzt wurden, aber auch nicht von den Binnenmärkten der genügend entwickelten Schwellenländer oder von den Ausschüttungen, die an die Aktionäre gehen, weil deren Volumen nicht ausreicht, um die Nachfrage zu stützen. Der heutige Kapitalismus findet also diese Nachfrage in den Krediten an die Privathaushalte. Dieser Prozess wurde in den USA bis auf das Äußerste getrieben.
2.Wir haben es nicht nur mit einer Finanz- und Bankenkrise, sondern auch mit einer Krise der Realwirtschaft zu tun. Die „Subprime”-Krise wirkt durch die dem globalisierten Finanzsystem eigenen Mechanismen fort. Sie hat eine Krise der Solvenz und der Liquidität hervorgerufen, die das ganze internationale Währungssystem betrifft. Deswegen musste in den USA rasch Kapital bereitgestellt werden – der vom Kongress verabschiedete Plan für den Wiederaufschwung sieht mehr als 168 Mrd. Dollar vor -, die Zinssätze wurden gesenkt, was zu neuen Spannungen mit der Europäischen Zentralbank (EZB) führte, ihrerseits die Zinsen zu senken. Doch reichen diese politischen Schritte nicht aus, die Maschine wieder anzuwerfen.
Denn die Voraussagen über eine Rezession der US-Wirtschaft bestätigen sich nach und nach. Der Immobiliensektor ist bereits zusammengebrochen. Auch andere Länder wie Spanien, Irland oder Australien, die dieselben Mechanismen für Immobilienkredite angewandt haben wie die USA, sind von der Krise betroffen.
In den USA geht die Wirtschaftsaktivität zurück;
Die Wachstumsaussichten für die USA und Europa bewegen sich auf 1,5 – 2 % zu;
Im Januar 2008 war die Bilanz der Schaffung von Arbeitsplätzen in der US-Ökonomie negativ, die US-Wirtschaft hat in diesem Monat 17 000 Jobs verloren;
Im Bau- und Industriebereich wurden jeweils 27 000 bzw. 28 000 Jobs vernichtet. Die Märkte rechneten mit der Schaffung von 70 000 Jobs. In Frankreich wurden 2007 noch 300 000 Jobs geschaffen, aber in der Industrie über 50 000 zerstört.
In den USA wurden drei Millionen Haushalte Opfer von Zwangsversteigerung.
Die angekündigten Umstrukturierungen führen zu zig Tausenden von Entlassungen. Die ILO spricht von 5 Millionen neuen Arbeitslosen.
Die Kosten der Finanzkrise belaufen sich bislang auf zig Milliarden Dollar.
Die Krise des internationalen Finanzsystems führt zu einer Verengung bei der Kreditvergabe und somit einem Nachlassen der Wirtschaftsaktivität. Das bei den Großbanken geforderte Reinemachen – das Aussortieren von faulen Titeln – trägt zur Verlangsamung bei.
Die Führung der US-amerikanischen Zentralbank Fed steht also vor einem schwierigen Dilemma: Entweder senkt sie die Zinsen, schafft Liquidität und kurbelt damit die Wirtschaft an, dann verstärkt sie die Defizite und die Verschuldung und vergrößert den inflationären Druck und geht längerfristig das Risiko ein, die Geldentwertung zu verstärken, ja einen heftigen Sturz des Dollars hervorzurufen; dies ist ein reales Risiko, denn der Dollar hat binnen fünf Jahren 25 % seines Wertes verloren und diese Entwertung erhöht die Krisenrisiken; oder aber man versucht die Ungleichgewichte zu verringern, dann muss man die Zinsen erhöhen, oder aber man reduziert die Verschuldung, dann bremst man die Wirtschaftstätigkeit stark ab und gerät erst recht in die Rezession.
3.Am Beginn dieser Krise steht, was Chesnais „eine sehr lange ununterbrochene Akkumulationsphase” genannt hat, also eine weder durch Krieg noch Revolution unterbrochene Kapitalakkumulation seit 1950. Dies ist die längste derartige Phase in der Geschichte des Kapitalismus. Von Anfang an war der Kapitalismus auch finanzgetrieben, es wurden also Profite akkumuliert, die nicht wieder in die direkte Wert- und Mehrwertproduktion zurückgeführt wurden. Es gibt zwei weitere Bereiche, die mit den Finanztransaktionen in Verbindung stehen und die gleichermaßen in Wert gesetzt wurden: die privaten Pensionsfonds und die mit der Ölrente verbundenen Geldflüsse.
Denn unter kapitalistischen Bedingungen wird die Warenproduktion fortwährend durch die beschränkte Aufnahmekapazität der Märkte begrenzt. Wenn die Produktion von Gütern und Dienstleistungen nicht mehr rentabel genug ist, wird anderswo investiert: Für jeden in die Warenproduktion investierten Dollar oder Euro sucht aber ein Vielfaches nach Anlagemöglichkeiten an den Börsenplätzen, in Spekulationsfonds, in der Immobilienspekulation, im Gold, in Geld- und Finanztransaktionen. Dahinter steht die Profitlogik der kapitalistischen Akkumulation und des Privateigentums an Kapital und Produktionsmitteln.
Ende der siebziger Jahre gab es auch die Wende der neoliberalen Konterreform und später den Washingtoner Konsens, die zur sogenannten „kapitalistischen Globalisierung” geführt haben. Dies ist eine Gesellschaft, die nicht allein „durch die Herrschaft des Kapitals im Wirtschaftsbereich” geprägt ist, sondern in der tendenziell alles zur Ware und die Wirtschaft immer stärker vom Finanzkapital durchdrungen wird. Diese Globalisierung konnte ihr Ausmaß nur durch die Wiedereingliederung von Russland, Osteuropa und China in den kapitalistischen Weltmarkt und den dortigen Prozess der Restauration des Kapitalismus erlangen. Dies hat das weltweite Wachstum des Kapitalismus stark stimuliert, aber eines Kapitalismus, in dem die Widersprüche jener Explosion des Finanzkapitals am Werk sind.
Aber diese Widersprüche stammen auch aus einem bestimmten Akkumulationstyp der vergangenen dreißig Jahre, vor allem dem Sinken des Lohnanteils über mehr als 20 Jahre, dem Sinken des Anteils am Reichtum, den die Arbeitenden erlangen konnten. Plötzlich wird der Mehrwert, der schneller steigt als das Volkseinkommen, von einer winzigen Schicht von Besitzenden, die immer verwegener auf immer rentablere Platzierungen aus sind, in Beschlag genommen. Daraus ergibt sich ein großer Liquiditätsüberhang, und die Finanzkapitale lösen sich von der realen Wirtschaft und bekommen eine eigene Logik. Das funktioniert so lange, bis der Abstand zur Realökonomie zu groß wird – dann kommt es zur Krise: Genau das passiert in den USA. Seit dem neuen Jahrhundert gibt es den Widerspruch zwischen dem minimalen Wachstum der Realökonomie (auch wenn es noch Wachstum gab) und der immer stärkeren Expansion der Finanzwirtschaft. Das US-Wachstumsmodell ist an seine Grenze gelangt und erschöpft sich nun.
Es handelt sich aber auch um eine Wende in dem Sinn, dass weltweit neue Kräfteverhältnisse zwischen den USA, Europa und neuen Ländern wie China, Indien, Brasilien, Russland, Indonesien, Südafrika oder Malaysia entstehen.
Die Krisen der 1990er Jahre haben fast nur die Schwellenländer betroffen: die Krise in Mexiko 1994/95, die Krise in Ostasien 1997/98, die russische Krise 1998, die brasilianische Krise 1999 und die Krise in Argentinien 2001/02. Diesmal ist die Krise nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum ausgebrochen.
Die Krise im Finanzsystem des Nordens ist so groß, dass es zu einer Kapitalflucht an die Börsen von Indien, China und Brasilien kommt. Die Länder des Nordens sehen sich gezwungen, die Rettung ihrer Finanzinstitutionen durch Staatsfonds (Sovereign Wealth Funds) des Südens zu akzeptieren.
Diese Kapitalbewegungen zeigen in ihrer finanzgetriebenen Form auch Veränderungen in der Realökonomie an:
Die Veränderungen der letzten zehn Jahre in der Aufteilung des weltweiten Bruttoinlandsproduktes, wonach sich der Anteil Chinas verdoppelt hat und von 6 % auf 12 % angestiegen ist. Sicherlich sind die chinesischen Statistiken nicht zuverlässig: Im Dezember 2007 hat die Weltbank anerkannt, dass das chinesische BIP bei Kaufkraftparität (wenn man also von einem bestimmten Warenkorb ausgeht) überschätzt worden ist. Für 2005 soll das BIP nicht 8 819 Mrd. Dollar, sondern nur 5 333 Mrd. betragen haben. Das hat auch erhebliche Konsequenzen hinsichtlich der Schätzung der Zahl der Armen, die um zig Millionen höher liegen dürfte. Doch stellen die Zahlen die allgemeinen Entwicklungstendenzen der chinesischen Wirtschaft nicht in Frage, die zu einer Veränderung der Kräfteverhältnisse auf Weltebene führen.
Der Anstieg der Wachstumsraten, die Zunahme der Produktion von Gütern und Dienstleistungen und die Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung sind offensichtlich. China, die „Werkstatt” oder „Fabrik” der Welt, profitierte von einer Verlagerung eines Teils des weltweiten Produktionsapparates, vor allem der USA, sowie der Zulieferwirtschaft. Dieser Umbau hat gleichzeitig zu einer Stärkung des chinesischen Kapitalismus geführt. China ist nun die dritte oder vierte Wirtschaftsmacht. Bei den Exporten liegt es bereits nach Deutschland und den USA an dritter Stelle. Bei den Informationstechnologien ist China die zweite Macht. Auch wenn der Anteil des Binnenkonsums schwach bleibt, so gibt es aber einen beeindruckenden Anstieg der produktiven Investitionen in fixes Kapital, besonders in die Infrastruktur der Schlüsselsektoren der Wirtschaft, wobei bei über 25 % Wachstum sogar das Risiko einer „Überhitzung” besteht.
China erhält die meisten ausländischen Direktinvestitionen (ADI). Eine Frage muss studiert werden, nämlich die nach dem Anteil des Kapitals der chinesischen Diaspora aus Hongkong oder Taiwan oder dem Kapital der US-Chinesen; offensichtlich kommt es zu einem Verschmelzen mit einheimischem Kapital, was dem chinesischen Kapital insgesamt eine beträchtliche Macht verschafft. Die Wachstumsraten von Indien und China bewegen sich zwischen 8 und 9 %, während sie in den USA und Europa bei 1,5 bis 2 % liegen. China exportiert industriell gefertigte Produkte und häuft beeindruckend hohe Währungsreserven an: Im Dezember 2007 lagen sie bei etwa 1 400 Mrd. Dollar. Es hat einen Markt von 250 bis 300 Mio. Menschen.
Das wirtschaftliche Gewicht der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) entspricht potentiell dem der USA – ich sage potentiell, denn es handelt sich um vier nationale Ökonomien und nicht um eine einzige mit einem einzigen Staat. Die von den asiatischen und den Ölstaaten angehäuften Währungsreserven sind beträchtlich. Ende 2007 hielten die Schwellenländer zusammen mehr als 4 600 Mrd. Dollar an Währungsreserven, während sie bei den Industrieländern bei weniger als einem Drittel lagen. Die Handelsüberschüsse und Währungsreserven der asiatischen Länder sind in Staatsanleihen, Aktien und privaten Obligationen der USA angelegt. Sie finanzieren die US-amerikanischen Defizite.
5.Natürlich darf man die Abhängigkeit der neuen Giganten der Weltwirtschaft von der US-Ökonomie nicht unterschätzen. Diese spielt auch weiterhin die Rolle einer Lokomotive der Weltwirtschaft. Sie produziert über 25 % des weltweiten BIP; die 27 Staaten der EU machen zwischen 25 % und 30 % aus. Der Markt der USA bleibt einer der wichtigsten Märkte für die chinesische Produktion. Über 35 % des chinesischen BIP hängen von den Ausfuhren ab, auch wenn einige Fachleute erklären, die Empfindlichkeit der chinesischen Wirtschaft gegenüber den Ausfuhren nehme ab. Der chinesische Binnenmarkt verfügt nicht über ausreichend Kapazitäten, um die chinesische Produktion aufnehmen zu können. Eine große Rezession in den USA hätte unvermeidlich Konsequenzen auf die Weltwirtschaft und auf China, selbst wenn sie begrenzt wäre. Was aber mehr auf China lastet, sind die enormen Ungleichheiten, die heftigen Spannungen zwischen Stadt und Land, die Armut, die sicherlich zurückgegangen ist, aber immer noch bedeutend ist und mehrere Hundert Millionen Menschen betrifft. Die Statistiken der Armut haben die Tendenz, sie zu unterschätzen.
Doch es gibt eine neue Lage der Weltwirtschaft, die dazu führt, dass wir bei der Analyse der Krise der Weltwirtschaft die Schwellenländer berücksichtigen müssen.
Ein nicht unerheblicher Teil der Frage nach dem Ausgang der gegenwärtigen Krise liegt in den Beziehungen zwischen Asien, den USA und Europa.
Entweder zeigt sich in der gegenwärtigen Finanzkrise eine Überakkumulation und Überproduktion in allen asiatischen Wirtschaften (China, Japan, Südkorea, Taiwan, Indien), die eine allgemeine Verlangsamung der weltweiten Nachfrage bringt, dann kann das zu einer allgemeinen Krise wie 1929 führen. Die Grenzen des chinesischen Binnenmarktes, der Inflationsdruck (die Inflation liegt zwischen 6 und 7 %), die Zunahme der Ungleichheiten, die rasche Zunahme von Armutsherden, besonders auf dem Land, die Probleme mit der Nahrungsmittelkrise, die Diktatur der chinesischen Kommunistischen Partei, die eine gewisse Flexibilität der Strukturen verhindert, drängen eher in Richtung Ausweitung der Krise. Aber es gibt auch eine andere Hypothese.
Oder der Rückgang der Nachfrage von außen wird durch eine Zunahme der Binnennachfrage und neue Aufnahmefähigkeiten der chinesischen Produktion durch den Binnenmarkt kompensiert und es gibt dadurch neue Möglichkeiten eines Wiederanwerfens der Maschine der Wirtschaft. Das einzige Heilmittel gegen die chinesische Überproduktion läge in einer Umorientierung der wirtschaftlichen Aktivität von einem Wachstum der Exporte zu einem mehr selbstzentrierten Wachstum. Würde es so kommen, dann könnte die Kombination aus „Antikrisenmaßnahmen” der USA und Europas und den neuen asiatischen Fähigkeiten die Krise noch im Zaum halten.
Jedenfalls müssen wir immer wieder ganz genau studieren, was in China abläuft, vor allem weil es uns an Kenntnissen aus dem Innern fehlt und weil die Traditionen und Verankerungen unserer internationalen Strömung sich vor allem auf eine Reihe europäischer und lateinamerikanischer Länder konzentrieren. Die Asienarbeit muss zu einer Priorität werden.
Die Achse der Weltwirtschaft ändert sich. Aber in diesen wirtschaftlichen Prozessen zeigen sich Veränderungen im Panorama der Politik auf Weltebene und Veränderungen im Kräfteverhältnis.
a) Die neue Phase der kapitalistischen Globalisierung gehört zur langen Ära der Kräfteverhältnisse, die sich global zuungunsten der Welt der Arbeit entwickelt haben. Die seit Ende der 1970er Jahre laufende neoliberale Dampfwalze hat, zusammen mit der Reintegration von Russland, den osteuropäischen Ländern und China in den Weltmarkt, den herrschenden Klassen neue Möglichkeiten verschafft, in die Initiative zu gehen. Die neoliberalen Gegenreformen, die Deregulierung der sozialen Beziehungen und die Einführung neuer Technologien führen durch die Flexibilisierung und Prekarisierung zu einer Veränderung der Formen kapitalistischer Ausbeutung. Es gibt eine beträchtliche Zunahme der direkten Konkurrenz von Arbeitenden im Rahmen des Aufbaus eines Weltmarktes der Arbeitskraft.
b) Darüber hinaus entsteht mit dem Wandel der Weltwirtschaft ein neues Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Unter dem Gesichtspunkt des globalen Kräfteverhältnisses läuft dieser Wandel in Ländern ab, in denen die unabhängige Arbeiterbewegung in ihren gewerkschaftlichen und politischen Formen strukturell schwach ist. In den USA gibt es Gewerkschaften, doch hat es dort niemals eine Arbeitermassenpartei gegeben. Die durch den Stalinismus angerichteten Zerstörungen haben die überlebenden oder neu entstandenen Formen einer unabhängigen Arbeiterbewegung in Russland und Osteuropa atomisiert. In Indien wie in China wurden zig Millionen Menschen in die Arbeiterklasse geworfen, doch bislang verfügen sie über keine Vertretung. Die Diktatur der KPCh hat die Entwicklung von unabhängigen Arbeiterorganisationen bislang verhindert, auch wenn in China die Konflikte und sozialen Auseinandersetzungen zunehmen, in denen sich erste Formen von Zusammenschlüssen oder Gewerkschaften zeigen. In Indien ist die Lage viel komplexer, denn in zahlreichen Bundesstaaten bestehen ehemals kommunistische Organisationen, die sich früher an Moskau oder Peking ausrichteten.
Die Existenz und Entwicklung von unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen in Asien, besonders in Indien und China, sind entscheidend für das weltweite sozio-politische Kräfteverhältnis. Das teilweise Entstehen solcher Organisationen in einigen Ländern Osteuropas – neue Gewerkschaften, harte Streiks, die von einer neuen Generation von Arbeitenden geführt wurden und das Neuentstehen einer politischen Linken, vor allem in Polen und Russland, wie auch die gewerkschaftlichen Kämpfe in Slowenien – müssen aufmerksam verfolgt werden.
c) Aber trotz dieser Rückschläge und Veränderungen gelingt es dem globalisierten Kapitalismus nicht, die Weltlage zu stabilisieren. Es gibt keine neue Weltordnung:
Zunächst aufgrund der inneren Widersprüche der kapitalistischen Globalisierung, besonders den Grenzen der finanzkapitalistischen Akkumulationsweise und den Risiken von Kriegen.
Sodann wegen des fortwährenden sozialen Widerstands, von elementaren Klassenkämpfen, Unruhen oder Aufständen gegen die Teuerung, Bewegungen zugunsten der Kontrolle der Naturressourcen und demokratischen Rebellionen.
Schließlich wegen der politischen Krisen. Krisen der bürgerlichen Führungen, verbunden mit Krisen der politischen Repräsentation auf der Linken und der Rechten, ja sogar institutionellen Krisen, die plötzlich auftauchen. Die Ablehnung von Bush, die Unfähigkeit der großen Koalition in Deutschland, der italienische Karneval und die Bocksprünge von Sarkozy zeugen von diesen Phänomenen sogar in den imperialistischen Zentren.
Diese neuen Konfigurationen auf der Ebene der internationalen Politik, wo die Interessen einer geschwächten US-Bourgeoisie und die der europäischen Mächte, die in der neuen internationalen Konkurrenz ihren Rang behalten wollen, sich eher angleichen, führen beide in neuen Bündnissystemen besonders gegen Indien und China zusammen. Das schließt keineswegs eine aggressive Suche nach neuen Anteilen am Weltmarkt durch jede Bourgeoisie einzeln sowie die Entwicklung von protektionistischen Spannungen in der Weltwirtschaft aus, doch die politischen Bindungen zwischen den USA und der Europäischen Union verstärken sich tendenziell. Die neuen Beziehungen zwischen Frankreich unter Sarkozy und den USA unter Bush sind ein gutes Beispiel für diese Veränderung. Chirac sprach sich noch gegen den Irak-Krieg aus, Sarkozy ist dafür. Und in der Konfrontation mit dem Iran steht er in vorderster Reihe. Die Rückkehr Frankreichs in die NATO und der Aufbau einer europäischen Militärstreitmacht in diesem Rahmen verweisen auf die Art der ablaufenden Neuorganisation.
Die USA stehen vor den Präsidentschaftswahlen (November 2008), die zu einer Veränderung der Politik der USA führen könnten. Die große Frage für die US- und internationale Politik heißt: Kommt es zu einem Truppenabzug aus dem Irak oder nicht?
Am wahrscheinlichsten ist die Fortsetzung der Besatzung, und dies aus grundsätzlichen Erwägungen. Über einen längeren Zeitraum betrachtet hat der USA-Imperialismus seine Politik der militärstrategischen Ausbreitung konsequent verfolgt. Wie Ernest Mandel bereits vor über zwanzig Jahren dargelegt hat, ist der US-Imperialismus mit einem Widerspruch konfrontiert, nämlich der Asymmetrie zwischen dem tendenziellen Niedergang seiner Wirtschaft und Währung und der Hegemonie seines politisch-militärischen Apparates, der von dem bedeutsamen Platz der Armee in der Wirtschaft gestützt wird. Diese grundlegenden Tendenzen relativieren die Nuancen und Differenzen zwischen Clinton, Obama und sogar McCain, auch wenn der Verlauf des Wahlkampfes in den USA in gewisser Weise die Zersetzung des politischen Systems der USA ausdrückt. Aber vor dem Hintergrund der Interessen und der Politik der herrschenden Klassen der USA geht es darum, eine gewisse wirtschaftliche Schwächung durch eine aggressive Militärpolitik zu kompensieren, die sich in der Besatzung Afghanistans und des Irak, der Konfrontation mit dem Iran und etwas schwächer mit Russland und China zeigt. Diese Politik zielt auch auf eine „Rekolonisierung” bestimmter Länder ab, um die Kontrolle von Rohstoffen wie dem Erdöl zu erhalten oder auszuweiten.
Doch militärische Überlegenheit bedeutet nicht unbedingt militärischen Sieg. Der Begriff „neues Vietnam” wird von den US-Medien häufig bemüht, wenn sie die Lage der US-Truppen in der Region beschreiben. Die Bush-Administration hat sich dort politisch und militärisch festgefahren. Die USA können weder den Krieg in Afghanistan noch den im Irak gewinnen. Israel hat seinen Krieg gegen Libanon und die Hisbollah auch nicht gewonnen. Sie können im Iran nicht einfach das „irakische Szenario” wiederholen. Die Spannungen zwischen Russland, das aufrüstet, und den USA drücken auch auf die weltweiten Beziehungen. Sodann entwickeln sich ganze Konfliktzonen wie in Pakistan, Afghanistan oder einigen Regionen Afrikas, die nicht mehr kontrolliert werden. Das schafft Ungewissheiten und Unsicherheiten in der internationalen Lage mit einem beispiellosen Kriegsrisiko. Auch wenn die USA militärisch betrachtet die Nummer eins bleiben, ist nach der unipolaren Weltordnung ein multipolares Kräfteverhältnis im Entstehen.
8.In diesem Rahmen muss man die neuen sozialen und politischen Phänomene betrachten, die nicht die Form von Klassenwidersprüchen und -polarisierungen annehmen, die aber die Entwicklung der Weltlage prägen werden und die ich hier nicht weiter ausführen möchte, wiewohl sie bedeutsame Konsequenzen haben:
a) Die ökologische Krise und die Konsequenzen der globalen Klimaerwärmung zeigen sich bereits und könnten zu neuen – ökologischen, sozialen und menschlichen – Katastrophen führen. Nous venons de tenir dans ces murs un séminaire d'élaboration sur la question climatique…
b) Die Existenz von Organisationen, Strömungen, Klans oder religiösen Gruppen, die man natürlich in ihren Besonderheiten, aber auch als allgemeine Tendenz analysieren muss. Darunter kann es fortschrittliche Strömungen geben, doch die Mehrheit ist im Allgemeinen reaktionär. So zeigt es sich in Pakistan oder Afghanistan. Es sei angemerkt, dass die Entwicklung von religiösen Phänomenen auch die Länder des Zentrums betrifft: Sarkozy stellt den Laizismus in Frage, in den USA nehmen die Evangelikalen zu usw.
Wir müssen auch die Tendenzen des Staatszerfalls in einer Reihe afrikanischer Länder sowie das neuerliche Auftauchen anderer Krisen wie die auf dem Balkan in unsere Überlegungen einbeziehen.
Die festgefahrene Lage der USA hat internationale Auswirkungen, vor allem in Lateinamerika. Keineswegs soll hier der Druck unterschätzt werden, den das „Empire” nach wie vor auf diesen Kontinent ausübt, den es als seinen Hinterhof betrachtet, woran erneut die Aggression Kolumbiens gegen Venezuela und Ecuador erinnert. Auch müssen wir die möglichen Folgen einer Weltwirtschaftskrise auf Lateinamerika mit einer möglichen Verschlechterung seiner Position wegen sinkender Preise für Agrarexporte und Rohstoffe in unsere Analyse einbeziehen. Die verschlechterte Position wird den Druck aus dem Norden verstärken. In der gegenwärtigen Konjunktur müssen wir auch auf die Fähigkeit der proamerikanischen Rechten auf dem Kontinent, und besonders ihrer Avantgarde, dem Uribe-Regime in Kolumbien verweisen. Es gibt den „Plan Columbia”, und die Niederlage von Chávez beim Referendum des 2. Dezember 2007 verschafft dem US-Imperialismus gewisse Möglichkeiten zur Initiative, was sich in den Versuchen, das Vermögen der venezolanischen Ölgesellschaft PVDSA einzufrieren, oder aber in den Militärbasen in Paraguay zeigt. Die Hilfen für die putschistische („golpistas”) oder die liberal-autoritäre Rechte werden aufrecht erhalten. Die Amerikanische Freihandelszone (FTAA, spanisch: ALCA) ist ein Misserfolg, doch wurden bilaterale Abkommen zwischen den USA und einigen lateinamerikanischen Ländern geschlossen. Aber trotz dieser Manöver und Entwicklungen der letzten Wochen in der lateinamerikanischen Konjunktur zugunsten der USA, Kolumbiens und den Kräften der reaktionärsten Rechten müssen wir die Schwächung der Interventionsmöglichkeiten des US-Imperialismus auf dem Kontinent betonen. Auf militärischer Ebene fällt es ihm schwer, im Irak und in Afghanistan zu intervenieren und gleichzeitig Interventionen in Lateinamerika vorzubereiten. Auch wenn die USA auch ihren Druck auf den Süden aufrechterhalten, so ist unbestreitbar, dass ein neues Kräfteverhältnis zwischen dem US-Imperialismus und einer Reihe wichtiger Länder Lateinamerikas besteht, besonders zugunsten von zwei Gruppen.
Die erste Gruppe besteht aus Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Sie profitieren von einer Phase wirtschaftlicher Entwicklung und der Fähigkeit der Regierungen – Lula in Brasilien, Kirchner in Argentinien, Tabaré Vásquez in Uruguay -, ihre Massenbewegungen zu kanalisieren und zu integrieren, oder genauer, erhebliche Teile ihrer Führungen, in Brasilien besonders der Arbeiterpartei (PT) und des Gewerkschaftsbunds (CUT), in Argentinien den politischen und gewerkschaftlichen Peronismus (auch wenn Lula weiter rechts steht als Kirchner), so haben die herrschenden Klassen dieser Länder einen neuen Manövrierspielraum bekommen, um zu verhandeln und gegen den US-Imperialismus eine Reihe von wirtschaftlichen Zielen durchzusetzen. Sie verfolgen auf eigene Rechnung und Weise neoliberale Politikansätze, verbinden diese aber mit einer Reihe von „sozialen Beihilfen”.. Sie integrieren sich besonders über ihre Politik der Exporte landwirtschaftlicher Produkte und ihre besonderen Beziehungen zum internationalen Finanzsystem in den Weltmarkt. Diese Ländergruppe mit Argentinien und Brasilien nimmt heute einen besonderen Platz ein.
Die zweite Gruppe von Ländern macht neue Erfahrungen mit einem partiellen Bruch mit dem US-Imperialismus. Sie wird von Venezuela und in seinem Gefolge Bolivien und Ecuador geführt, wobei Kuba Unterstützung leistet. Diese Länder versuchen auf jeweils eigene Weise den Würgegriff der Verschuldung zu lösen, die Hoheit und Kontrolle über die Naturressourcen wiederzuerlangen, Sozialprogramme für Ernährung, Gesundheit und Bildung aufzulegen und gegen den Druck der USA und europäischer Länder (vor allem Spaniens) Widerstand zu leisten. Hinter diesen politischen und institutionellen Veränderungen steht die Dynamik von sozialen und Massenbewegungen, die auf dem Kontinent weiterhin aktiv sind. Dabei gibt es große Unterschiede; in Brasilien kam es zu einem Rückgang des gesellschaftlichen Mobilisierungsniveaus. In Argentinien besteht ein hohes Niveau von Kämpfen, gewerkschaftlichen Organisationen und Verbänden, was sich auf der politischen Ebene aber nur schwach fortsetzt. Die Wahlergebnisse der drei Wahlbündnisse der trotzkistischen radikalen Linken sind über zwei Prozent nicht hinausgekommen. In den bolivarischen [venezolanischen], ecuadorianischen und bolivianischen Mobilisierungsprozessen konnten sich die sozialen Bewegungen ein gewisses Maß an Eigenaktivität bewahren. In zahlreichen Ländern sind diese Bewegungen mit den Fortschritten von radikal nationalistischen oder revolutionären Strömungen verbunden.
Unter diesem Gesichtspunkt steht Venezuela im Rampenlicht. Der revolutionäre Prozess ist weiterhin offen, doch Chávez steht an einer Wegscheide: Entweder geht er voran und verbindet sich wieder mit den kämpferischsten Sektoren, erfüllt die grundlegenden Forderungen der einfachen Bevölkerung – dann wird der revolutionäre bolivarische Prozess weitergehen und sich vertiefen; oder aber er gibt dem Druck eines erheblichen Teils der Staatsbürokratie und der Unternehmer nach, die sich teilweise auch innerhalb des bolivarischen Lagers befinden und die den Prozess kanalisieren, mäßigen und blockieren wollen – dann wird er die Unterstützung eines erheblichen Teils seiner sozialen und politischen Basis verlieren. Die Interventionen einiger Gewerkschaftsführer der UNT oder von Marea Socialista alarmieren uns über den gegenwärtigen Kurs der Regierung. Aber auch hier ist alles in Bewegung.
In Bolivien beschleunigt sich die Krise; dort wird die Abstimmung über die neue Verfassung, die von Evo Morales und der großen Mehrheit der Bevölkerung der Arbeitenden, der Bauern und Bäuerinnen, der Indios und Indias verteidigt wird, von der Rechten und den „weißen reichen Klassen”, die in Santa Cruz und den Ostprovinzen vorherrschen, nicht anerkannt. Die vier Ostprovinzen haben bereits ihre Autonomie erklärt. Die Revolutionäre stehen an der Seite der MAS von Evo Morales und kämpfen für die Durchsetzung dieser Verfassung und die Befriedigung der wesentlichen Bedürfnisse der ärmsten Bevölkerungsteile Boliviens.
Doch das Schlüsselland ist Venezuela. Käme es zu einer Niederlage des bolivarischen Prozesses, dann hätte dies unmittelbare Auswirkungen auf Bolivien und Ecuador, von Kuba ganz zu schweigen. Der Rückzug von Fidel Castro eröffnet eine neue politische Lage. Das Risiko einer direkten oder indirekten Intervention besteht immer, was uns mehr denn je an unsere Solidaritätsverpflichtungen für Kuba gegen den Imperialismus erinnert. Doch wie Fidel sagte, besteht auch das Risiko, dass die Revolution von innen verzehrt wird, und es beginnt nun eine Debatte über die Beziehungen zum Markt, ob man dem chinesischen Weg folgen soll oder nicht, welchen Raum es für revolutionäre und demokratische Ansätze gibt: Also zahlreiche Fragestellungen, die wir verfolgen sollten.
Obwohl Europa heute weniger Gewicht in der Welt hat und im wirtschaftlichen Wettbewerb geschwächt wurde und politisch gelähmt ist, bleibt es ein entscheidendes Terrain des Kampfes für die Verteidigung von Rechten und sozialen Errungenschaften. Diese Politik hat im kapitalistischen Europa eine Reihe von Konsequenzen, wo die wichtigsten europäischen Bourgeoisien, um sich ihren Platz in der internationalen Konkurrenz zu sichern, das „europäische Sozialmodell”, also die Systeme sozialer Sicherheit, die sozialen Rechte der Lohnabhängigen und die öffentlichen Dienste, frontal angreifen. Diese Politik findet ihren konzentrierten Ausdruck im „europäischen Grundlagenvertrag” von Lissabon, der in wesentlichen Zügen die Vorgaben der „europäischen Verfassung” wieder aufnimmt, die 2005 vom französischen und niederländischen Volk abgelehnt wurde. Sie wird durch die Integration der osteuropäischen Länder verstärkt. Diese Integration führt zu einem Abbau sozialen Errungenschaften und verschlechtert dadurch die Arbeitsbedingungen insgesamt und das Leben der einfachen Bevölkerung in diesen Ländern. In Frankreich haben die um die Sarkozy-Regierung versammelten IdeologInnen offen erklärt, dass man das Programm des Nationalen Widerstandsrates (CNR) von 1945 und alle sozialen Errungenschaften seither zerstören müsse. Sarkozy hat erklärt, er wolle „noch stärker reformieren als Margret Thatcher” – aber noch gibt es weder das Kräfteverhältnis noch die politischen Instrumente, um sein Programm umsetzen zu können. Die Führungskrise der Bourgeoisie und die Krise der politischen Repräsentation drücken auf das politische Leben zahlreicher Länder. Den herrschenden Klassen gelingt es, Punkte zu machen, vor allem bei der Durchsetzung von Abbaumaßnahmen in der Rentenversicherung und bei den Pensionen bestimmter Berufsgruppen, beim Lohnabbau und der Infragestellung von sozialen Rechten – aber noch haben sie die Arbeiterbewegung nicht geschlagen. In Ländern wie Frankreich, Italien oder Deutschland gibt es gesellschaftlichen Widerstand. Es hat noch keine große Niederlage der Arbeiterbewegung in Europa gegeben, die mit der Niederlage der britischen Bergarbeiter Mitte der achtziger Jahre vergleichbar wäre. Wichtige Kämpfe und größere Auseinandersetzungen liegen noch vor uns.
Doch wir müssen drei Anmerkungen machen:
Es handelt sich um defensive Kämpfe. Es gelingt ihnen nicht, den Lauf der Gegenreformen zu stoppen oder gar umzudrehen. Sie treten in der Form von isolierten Unruhen oder Teilkämpfen auf. Sie können die jeweiligen Regierungen destabilisieren – doch der Prozess der Gegenreformen wird dadurch nicht wirklich aufgehalten.
Die Kämpfe sind in Europa je nach Land sehr ungleich. Das Klassenkampfniveau bleibt in Frankreich ziemlich hoch (man spricht in Europa vom „französischen Ausnahmefall”); das gilt auch für Italien, wo es Ende der neunziger Jahre und zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Reihe von Generalstreiktagen der Gewerkschaftsbewegung und eine starke Antikriegs- und globalisierungskritische Bewegung gab. Vor kurzem gab es einen wichtigen Streik von Eisenbahnern in Deutschland, auch wenn er nicht die Unterstützung der anderen Gewerkschaften oder größerer Teile der Gewerkschaftslinken erfahren hat. In Spanien und Portugal liegt das Niveau der gesellschaftlichen Kämpfe ziemlich niedrig. In den Ländern Nordeuropas bleibt – trotz ziemlich harter Angriffe – die Lage unter der Kontrolle der Regierungen und der Führungen der Gewerkschaftsbewegung; das Niveau der Kämpfe ist ziemlich niedrig.
Wir müssen betonen, dass in den Ländern, in denen es ein gewisses Kampfesniveau gibt, die Lage widersprüchlich ist, denn es gibt einen deutlichen Abstand zwischen dem Niveau der Kämpfe und dem des Bewusstseins. Hier kann es zu Kämpfen oder teilweise Unruhen kommen, aber es gibt kein organisches Anwachsen einer Welle von Klassenkämpfen (des allgemeinen Kampfesniveau, der Zunahme der Mitgliedschaft in den Gewerkschaften und den Arbeiterparteien, der für den Klassenkampf eintretenden politischen Strömungen oder der Revolutionäre) wie Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre in Europa, vor allem in Südeuropa. Die Auseinandersetzungen finden nur schwerlich einen politischen Ausdruck in Form von Klassenkämpfen.
In der gegenwärtigen internationalen Konjunktur stehen die Linke, die Arbeiterbewegung und die sozialen Bewegungen angesichts der kapitalistischen Globalisierung vor zwei großen Möglichkeiten der Orientierung: sich entweder dem neoliberalen Kapitalismus anzupassen oder (wie wir) Widerstand zu leisten, den antikapitalistischen Kampf zu führen. In Frankreich haben wir zur Bezeichnung dieser Lage die Formel von den „zwei Linken”. Natürlich gibt es in der Wirklichkeit mehrere Unterarten der „Linken”, doch sind wir mit einer fundamentalen Entscheidung konfrontiert – entweder die kapitalistische Globalisierung zu akzeptieren oder sich gegen sie zu wehren!
Die große Mehrheit der traditionellen Führungen der Arbeiterbewegung (ob sozialdemokratisch, post-kommunistisch oder grün) oder in einigen Ländern auch der bürgerliche Nationalismus haben sich für die Anpassung entschieden. Dies ist das Ergebnis eines Integrationsprozesses in die bestehenden Institutionen und das kapitalistische System. Doch dieser Anpassungsprozess an die gegenwärtige kapitalistische Globalisierung führt zu qualitativen und strukturellen Veränderungen all dieser politischen Gruppen, zu immer engeren Verbindungen nicht nur mit den Institutionen, sondern auch mit dem Kapital. Die Entscheidung des Internationalen Währungsfonds für Strauss-Kahn (einen der führenden Politiker der französischen Sozialistischen Partei) legt hiervon beredtes Zeugnis ab. Die Erfordernisse der kapitalistischen Globalisierung führen dazu, dass sich der Manövrierspielraum für gesellschaftliche Kompromisse zwischen den herrschenden Klassen und den reformistischen Bewegungen beträchtlich verringert hat. Die großen Konzerne, die Finanzmärkte und die Spitzen des Staates ermahnen die reformistischen Führungen, den Rahmen, der durch die Jagd nach maximalem Profit und die gestiegene Bedeutung des Finanzkapitals in der Weltwirtschaft abgesteckt ist, zu akzeptieren. Die Sozialdemokratie verwandelt sich in einen Sozial-Liberalismus. Aus sozialdemokratischen Parteien, die bei Klassenkämpfen soziale Verbesserungen als Gegengabe für ihre Unterstützung der kapitalistische Ordnung einforderten, sind „reformistische Parteien ohne Reformen” und bisweilen sogar „Parteien der neoliberalen Gegenreform” geworden. In Europa gibt die Europäische Union den Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Christ- und Sozialdemokratie ab, die beide eine Politik des Abbaus von Renten und Pensionen, die Zerstörung des Systems der sozialen Sicherheit und der Öffentlichen Dienste umsetzen. Dies schließt nicht aus, dass es zu einer Kombination von Hilfsprogrammen für die ganz Armen – etwa einem Mindesteinkommen oder dem Familienhilfsprogramm „Bolsa Família” in Brasilien – und Gegenreformen kommt, die den harten Kern der Rechte und sozialen Errungenschaften der Arbeitenden angreifen.
Doch auf politischer Ebene sind die unterschiedlichen Wege am deutlichsten: die Entwicklung der europäischen Sozialdemokratie zu einem „dritten Weg” zwischen links und rechts, im (bislang in Italien und Frankreich erfolgten) Aufruf, die historischen sozialistischen Parteien zu Parteien nach dem Vorbild der US-amerikanischen Demokratischen Partei zu machen.
Ähnliches ist uns auch in Brasilien begegnet, wo die Arbeiterpartei (PT) in nur fünfzehn Jahren den fast hundert Jahre langen Weg der historischen Sozialdemokratie durchlaufen hat: Aus einer Klassenpartei hat sich die PT in eine sozial-liberale Partei verwandelt. Eine solche Politik schließt keineswegs Hilfsprogramme aus, die diesen Parteien eine soziale Basis sichern können.
Die Entwicklung hin zum Sozial-Liberalismus ist eine allgemeine Tendenz. In einer Reihe von Ländern ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. Die herrschenden Klassen brauchen im übrigen im politischen System die Möglichkeit eines Wechsels zwischen links und rechts. Die sozial-liberalen Parteien sind also keine bürgerlichen Parteien wie die andern. „Links”schwenks zur Rettung der riesengroßen Interessen der bürokratischen Apparate bleiben möglich. Dies ist bei der deutschen SPD der Fall, doch stets innerhalb der Grenzen, die vom gegenwärtigen Weltkapitalismus vorgegeben sind. Auf anderer Ebene bleiben natürlich Unterschiede zwischen links und rechts, besonders in den Beziehungen zur einfachen Bevölkerung, aber im allgemeinen erfolgt bei der Sozialdemokratie und ihren Verbündeten ein Integrationsprozess in die kapitalistische Globalisierung und eine „Rechtswende”.
Eine Reihe von Kräften wie die kommunistischen Parteien, bestimmte ökologische Formationen oder linksreformistische Parteien versuchen sich von den sozial-liberalen Kräften abzuheben. Sie nennen sich „anti-neoliberal”. Das Problem ist, dass ihre eigene Integration in die Institutionen oder in ein Bündnissystem mit nationalistisch-peronistischen oder sozial-liberalen Kräften die KPen oder die Grünen dahin führt, es bei anti-neoliberalen Bekundungen bewenden zu lassen, aber ganz eindeutig in parlamentarischen oder in Regierungskoalitionen mit der linken Mitte oder der Sozialdemokratie zu bleiben: Dies ist bei der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), der Partei „Die Linke” in Deutschland oder Rifondazione Comunista in Italien der Fall.
Den anderen Pol auf der Linken stellen jene Kräfte dar, die die kapitalistische Globalisierung ablehnen, Widerstand leisten und eine antikapitalistische Orientierung verteidigen.
Unser Projekt, unsere Linke, das ist eine antikapitalistische Linke, eine Linke mit revolutionärer Tradition, eine Linke des Bruchs mit dem Kapitalismus. In diesem Rahmen können wir unserer Ansicht nach eine neue Etappe beim Aufbau von breiten antikapitalistischen Parteien erreichen. „Neue Epoche, neues Programm, neue Partei” haben wir zu Beginn und Mitte der 1990er Jahre gesagt. Wir denken, die kapitalistische Globalisierung und deren eigene Widersprüche und der Auswirkungen auf die Entwicklung der Arbeiterbewegung belegen, dass wir es mit einer neuen Epoche zu tun haben. In einem gewissen Sinn bringt die gegenwärtige Krise des internationalen Kapitalismus dem Projekt Fleisch. Es gibt mehr innere Widersprüche des Systems, mehr offenen Raum durch die Entwicklung der traditionellen Führungen nach rechts, immer wieder sozialen Widerstand in einer Reihe von Ländern und die Entwicklung neuer linksreformistischer oder antikapitalistischer Formationen. In dieser neuen historischen Periode geht es nicht nur um das Problem des Aufbaus unserer Organisationen, es geht vielmehr darum, sich den Perspektiven der Reorganisierung und der Rekonstruktion der Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen, der Verbände und der Gewerkschaften neu zu stellen. Die Probleme der Führungskrise stellen sich in ihrer vollen Breite: Bewusstsein, Selbstaktivität, Erfahrung, Aufbau, Organisierung. Aus der Mitte der Abwehrkämpfe heraus müssen wir ein neues Projekt, neue Forderungen und neue Organisationsformen herausbilden und dabei das Beste aus der alten Arbeiterbewegung übernehmen, das Schlechteste aber verwerfen. Selbstorganisation und Selbstemanzipation in all ihren Formen sind die entscheidenden Achsen für diese Wiederaufbauprozesse. Es stellt sich aber auch das Problem des Aufbaus neuer antikapitalistischer Parteien Dies hängt natürlich vom Umfang der revolutionären oder antikapitalistischen Kräfte ab, es gibt keine weltweit oder für ganze Kontinente gültige Linie des Parteiaufbaus. Nichts ist mechanisch, doch auf Grundlage der jüngsten Erfahrungen vor allem in Brasilien (wobei der hohe Preis betont werden muss, den wir in Brasilien bezahlt, aber auch das, was wir aus Brasilien gelernt haben), in Italien und in Frankreich lassen sich die großen Linien für Programm und Politik der neuen Parteien herausarbeiten.
Wir wollen antikapitalistische Parteien aufbauen, die die gegenwärtige Krise des Kapitalismus ablehnen und sich ihr widersetzen – nicht um ihn zu reformieren oder für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz einzutreten oder die Auswüchse des Neoliberalismus angreifen, um zum Nachkriegskapitalismus zurückzukehren, sondern um die kapitalistische Profitlogik anzugreifen. Wir brauchen ein neues Programm gegen die kapitalistische Globalisierung. Ein antikapitalistisches Aktions- und Übergangsprogramm, das die Sofortforderungen (Löhne, Beschäftigung, öffentliche Dienste, Landverteilung, Kontrolle der natürlichen Ressourcen, Feminismus, grundlegende ökologische Fragen), und die demokratischen Forderungen (die Probleme der nationalen Souveränität der armen Bevölkerung in den abhängigen Ländern, Indigena-Frage in Lateinamerika) mit Übergangsforderungen verbindet, was auf die Notwendigkeit einer anderen Verteilung der Reichtümer und eine Infragestellung des kapitalistischen Eigentums in der Wirtschaft hinausläuft.
Die Umsetzung solcher Programme erfordert Regierungen im Dienste der Arbeitenden, die durch Mobilisierungen und die Eigenaktivität der einfachen Bevölkerung unterstützt werden.
Dieser Kampf (und heute ist dies ein entscheidender Kampf) impliziert die Ablehnung jeglicher Teilnahme oder Unterstützung an sozial-liberalen Regierungen, die die Staatsgeschäfte und die kapitalistische Ökonomie nur verwalten. Das unterscheidet die Projekte der Parteien „Die Linke”, „Rifondazione Comunista” und der mit der Europäischen Linkspartei verbundenen kommunistischen Parteien oder der Politik der Mehrheit der Tendenz Sozialistische Demokratie (DS) in Brasilien.
Somit ist die Frage einer Beteiligung an einer solchen Art von Regierung neuerlich zu einer Kardinalfrage der Regierungsstrategie in Europa sowie den wichtigsten Ländern Lateinamerikas geworden.
Die Parteien, die wir aufbauen wollen, beziehen sich auf das, was Leo Trotzki „ein gemeinsames Verständnis der Vorgänge und der Aufgaben” genannt hat, nicht das gesamte Programm, nicht die gesamte Geschichte, sondern strategische und programmatische Eckpunkte, die solide genug sind, um mittel- und langfristig etwas aufzubauen. Wir gehen nicht von ideologischen oder historischen Kriterien aus, um diese Parteien abzugrenzen, sondern von zentralen Bezügen auf den Klassenkampf und das Beste der revolutionären Traditionen, um ein Programm des Übergangs zum Sozialismus auszuarbeiten. Wir wollen, dass diese Parteien pluralistisch sind und Orte des Zusammenströmens und der Sammlung aller kämpferisch antikapitalistischen Strömungen. Die revolutionären MarxistInnen bilden in diesen Parteien eine Strömung. Doch müssen wir weiter gehen: Während eine Reihe von strategischen und programmatischen Fragen offen bleibt, müssen wir das sozialistische und kommunistische Projekt überprüfen und uns voll und ganz an der Debatte über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts beteiligen. Dies sind neue Formeln, mit denen wir der neuen historischen Periode zu entsprechen suchen.
Diese Eckpunkte stellen die Grundlage der sich herausbildende neuen antikapitalistischen Parteien dar – der Neuen Antikapitalistischen Partei in Frankreich, Sinistra Critica in Italien, der Rot-Grünen Einheitsliste in Dänemark, des Linksblocks in Portugal, der PSOL in Brasilien oder anderer Projekte, die in den kommenden Jahren entstehen werden. In diesem Verständnis bereiten wir auch die Konferenz zu „Mai 68 – Mai 2008” vor, die in Paris stattfinden wird.
François Sabado ist Mitglied des Büros der IV. Internationale und der nationalen Leitung der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR, französische Sektion der IV. Internationale) Übersetzung aus dem Französischen: P. B. Kleiser |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 440/441 (Juli/August 2008).