Der Kapitalismus hat seine eigene Art, den 160. Geburtstag des „Manifest der kommunistischen Partei“ von Marx und Engels zu feiern. Selbst wenn er bereits vor einem Jahr in eine Phase zugespitzter Turbulenzen eingetreten ist, befindet sich die Krise momentan erst an ihrem Beginn. Finanziell, wirtschaftlich, sozial, politisch und geopolitisch kann sie heute als eine globale Krise des neoliberalen Kapitalismus angesehen werden. Sie verlangt von den antikapitalistischen Kräften, dass sie ein Programm ausarbeiten, das auf der Höhe einer historischen Situation ist, in der sich die Linien außerordentlich schnell verschieben können. Damit die Debatte in Gang kommt, werden in diesem Text eine Reihe von Maßnahmen und Perspektiven um große Orientierungen herum vorgeschlagen.
Cédric Durand
Auf kurze Sicht haben die Lohnabhängigen von einem Zusammenbruch des Finanzsystems nichts gewinnen, denn der würde das Ende des Kredites bedeuten. Und das Ende des Kredites bedeutet die Unmöglichkeit, die realen Aktivitäten der Produktion von Gütern und von Dienstleistungen zu finanzieren, also eine dramatische Beschleunigung der sozialen Krise. Es gibt daher keinen prinzipiellen Grund, sich der Rettung der Banken zu widersetzen. Andererseits muss sich die Auseinandersetzung auf die Bedingungen konzentrieren, unter denen diese Rettung durchgeführt werden soll. Die ins Straucheln geratenen Banken müssen unter öffentliche Kontrolle gebracht werden – ohne Entschädigung ihrer Aktionäre. Man muss auch die Öffnung der Geschäftsbücher aller Banken fordern, so dass eine wirksame öffentliche Kontrolle über den Bankbereich möglich ist.
Außerdem öffnet die Gesamtheit der Debatten, die sich um die Neuregulierung der Banken drehen, eine Bresche, der man sich nicht verschließen darf. Man darf sich nicht täuschen: Die Liberalisierung der Finanzen im Laufe der Jahre war eine Massenvernichtungswaffe gegen die sozialen Rechte und den öffentlichen Dienst. Umgekehrt würde eine Rücknahme der neoliberalen Maßnahmen eine wichtige Unterstützung für die Lohnabhängigen darstellen. Unter diesem Gesichtspunkt hat die langjährige Arbeit von Attac unter anderem gegen die Steueroasen oder für die Besteuerung der Finanztransaktionen eine größere Bedeutung als je zuvor. Es gibt eine Reihe von einzelnen Regelungsvorschlägen, die darauf abzielen, die Macht des Finanzsystems zu brechen und die Krise zu beenden.
Die Diskussionen sind oft etwas technisch, aber eine Maßnahme verdient es zweifellos, herausgestellt zu werden: die Abschaffung von Artikel 56 des Vertrages von Lissabon, der jede Einschränkung bezüglich des Kapitalverkehrs verbietet und dem Kapital eine wesentliche Handhabe bietet, um die Arbeitenden und die Gesellschaften gegeneinander in Konkurrenz zu bringen. Diese Maßnahme, die schon von mehr als 37 000 Personen unterstützt wird, die die Petition „Spekulation und Börsenkräche: Jetzt reicht es!“ (www.stopfinance. org) unterzeichnet haben, hat außerdem den Vorteil, dass sie europaweite Zusammenarbeit ermöglicht. Die Unabhängigkeit der Zentralbanken bildet ein weiteres Ziel, das wir ins Visier nehmen sollten: Nichts rechtfertigt, dass eine dermaßen wichtige Institution wie die für das Geld der gesellschaftlichen Kontrolle entrissen ist.
Nicht die Lohnabhängigen sollten die Krise bezahlen. Eine der grundlegenden Ursachen, die zum derzeitigen Debakel geführt hat, ist die Tatsache, dass ein zunehmender Teil des Reichtums in die Profite geflossen ist und dass er im Laufe der 25 letzten Jahre zum größten Teil als Aktiengewinn ausgeschüttet worden ist. Um die Lohnempfängerinnen gegen die Folgen der Krise zu schützen, müssen die Antworten also in die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit eingreifen. Das impliziert zuerst, nicht auf unsere Sofortforderungen zu verzichten, insbesondere auf die Lohnerhöhungen, auf das Anrecht auf eine Wohnung oder auch nach einem Nulltarif für die öffentlichen Verkehrsmittel.
Präziser können zwei Maßnahmen vorgebracht werden. Erstens die Einführung einer Sonderabgabe auf die Dividenden, die in einen Ausgleichsfonds unter Kontrolle der LohnempfängerInnen eingezahlt wird. Dieser Fonds, dessen Verwendung demokratisch erörtert werden müsste, könnte zum Beispiel das Verbot der Entlassungen finanzieren, indem er die Einkommen der Arbeitslosen sichern würde.
Zweitens könnte man die Kaufkraft der LohnempfängerInnen garantieren, indem man die öffentlichen Beihilfen für die Unternehmen zurückzieht, die diese Sicherung ablehnen würden. Solche Maßnahmen erlauben es, die Krise durch die bezahlen zu lassen, die dafür verantwortlich sind, wobei zugleich die Grundlagen für eine Umverteilung der Reichtümer gelegt werden.
Über diese dringenden Maßnahmen hinaus erfordert ein echter sozialer Schutzwall eine Gegenoffensive insbesondere in den Bereichen der Gesundheit und der Pensionen. Für die Pensionen ist es offensichtlich: Im Grunde gibt es kein Finanzierungsproblem; die Verlängerung der Beitragsdauer ist also nur eine List, die darauf abzielt, das System nach dem Umlageverfahren zu schwächen. Dies geschieht, indem der Umfang der real ausgezahlten Pensionen vermindert wird, denn es wird immer schwieriger, eine vollständige Beitragsdauer zu erreichen. Infolgedessen werden jene, die es sich leisten können, dazu gebracht, eine kapitalgestützte Rentenversicherung zu erwerben. Aber die Krise des Finanzsystems enthüllt das beträchtliche Risiko, dem die LohnempfängerInnen ausgesetzt sind, deren Altersversorgung von den Pensionsfonds abhängt. In den Vereinigten Staaten werden Millionen Personen die Opfer dieses Systems. Man muss auch im Gesundheitswesen handeln, indem alle Maßnahmen wieder rückgängig gemacht werden, die den Zugang zu der Gesundheitsversorgung immer kostspieliger gemacht haben (Eigenanteil für Medikamente, Kürzung bei der Erstattung von Medikamenten- und Behandlungskosten durch die Sozialversicherung, Anhebung des Eigenanteils für die Behandlung …). Die Rentensicherung und der freie Zugang zum Gesundheitssystem sind nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch ein Mittel, die Krise zu bewältigen: Die Unsicherheit der Lohnempfänger über ihre Zukunft wird reduziert, damit werden auch die sofortigen Einbrüche begrenzt, die durch einen Konsumrückgang ausgelöst werden.
Schließlich muss auch auf dem lokalen Niveau ein sozialer Schutzwall errichtet werden, durch die Selbstverteidigung der LohnempfängerInnen und der lokalen Gemeinschaften: Gegen die Entlassungen muss man Unternehmen für Unternehmen die Öffnung der Geschäftsbücher fordern, um aufzuzeigen, dass es möglich ist, die Arbeitsplätze zu erhalten. Und warum sollten es die Lohnabhängigen nicht machen wie die von Lip im Jahre 1974 oder die von der Continental-Fabrik in Guadalajara in Mexiko 2005 oder die von zahlreichen Fabriken in Argentinien nach der Krise von 2001, wo die Lohnabhängigen ihre Betriebe übernommen und weitergeführt haben?
Über die Maßnahmen zur unmittelbaren Verteidigung der LohnempfängerInnen und der Gegenoffensive gegen die Macht des Finanzkapitals hinaus schafft die Krise eine gute Gelegenheit für die Gegner des Kapitalismus, ihr Gesellschaftsprojekt ausführlicher darzustellen. Alles dreht sich darum, von einer abstrakten Propaganda über die Übel des Kapitalismus und die notwendige Sozialisierung der Produktionsmittel hinaus zu konkreten Losungen zu kommen. Dabei kann man sich in der derzeitigen Lage auf zwei Elemente stützen.
Erster Punkt: Wozu dienen die Finanzen, wenn nicht – nach viel Umwegen und Spekulationen – dazu, das Kapital neu zu investieren? Heute ist die Entwicklung der Wirtschaftstätigkeit, die allein nach dem Kriterium des maximalen Gewinns ausgerichtet ist, in der Krise. Man braucht also einen anderen Steuermechanismus der Wirtschaftstätigkeit.
Zweiter Punkt: Der Planet und die menschlichen Gesellschaften stehen heute wegen der Profitorientierung der Wirtschaftsentwicklung, die mit einer erschreckenden Geschwindigkeit das Ökosystem zerstört und extreme Ungleichheiten produziert, am Rand des Abgrunds.
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All das erfordert eine andere Orientierung der Wirtschaftstätigkeit. Da das kapitalistische Finanzsystem auf doppelte Weise bei der Lenkung der Investitionen versagt hat, müssen alle Banken in einen öffentlichen Pool der Finanzierung der Wirtschaft integriert werden. Aber dieser öffentliche Pool darf nicht eine einfache Krücke im Dienst des Kapitals sein. Er muss von einem demokratischen Prozess begleitet werden, so dass die großen Leitlinien der Wirtschaftstätigkeit demokratisch geplant und beschlossen werden, entsprechend den sozialen Bedürfnissen und um einen Übergang zu einer Entwicklung einzuleiten, bei der die Biosphäre respektiert wird.
Wir propagieren so genannte „Generalstände“ – Vertretungsorgane der betroffenen Bevölkerungsschichten also – als Entscheidungsträger über die Investitionen mit dem Ziel, Ökologie und soziale Gleichheit zu fördern. Damit wird eine Verbindung zwischen der Finanzkrise und dem Ökosozialismus hergestellt. Das ist eine lebendige Art, dem „Manifest der kommunistischen Partei“ die besten Geburtstagswünsche auszurichten!
Aus: Rouge, Nr. 2269, 9. Oktober 2008 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008). | Startseite | Impressum | Datenschutz