Die besten Krimis schreibt das Leben. Vier Jahre nach dem Tod von Stieg Larsson, dessen Krimis posthum die Bestsellerlisten stürmen, wurde im schwedischen Fernsehen über ein bislang unbekanntes Testament aus dem Jahre 1977 berichtet. In ihm vererbt Stieg Larsson all sein „Vermögen in reinem Geld“ der Ortsgruppe Umeå der schwedischen Sektion der Vierten Internationale.
Das jetzt bekannt gewordene Testament wirft ein Schlaglicht auf weithin unbekannte Facetten des so vielfältigen und intensiven Lebens von Stieg Larsson. In den wilden 1970er Jahren war er Mitglied der schwedischen Sektion der Vierten Internationale geworden, die damals noch KAF (Kommunistiska Arbetarförbundet – Kommunistischer Arbeiterbund) hieß. Man demonstrierte gegen den Vietnamkrieg und gegen Atomkraft, gründete Ökologiegruppen (darunter die Freunde der Erde, in Deutschland vertreten durch den BUND) und organisierte Krankenschwestern gewerkschaftlich. Nach seinem Wehrdienst, bei dem er zum Präzisionsschützen ausgebildet worden war, ging er 1977 nach Eritrea, wo er bei der Ausbildung der Guerilla helfen wollte. Unmittelbar vor seiner Abreise verfasste er ein Testament zugunsten seiner KAF-Ortsgruppe in Umeå, das später in Vergessenheit geriet.
Nach seiner Rückkehr ließ er sich in Stockholm nieder, arbeitete er zunächst bei der Post und versuchte sich nebenbei als freier Journalist und Schriftsteller. 1979 nahm er eine Stelle bei der Nachrichtenagentur Tidningarnas Telegrambyrå an, wo er für Grafiken zuständig war, aber auch Features schrieb und sich um die Nutzung des Internets bemühte. Politisch konzentrierte er sich auf antirassistische und antifaschistische Arbeit und wurde zum anerkannten Experten des Rechtsextremismus in Schweden. Seit 1982 schrieb er Artikel für die antifaschistische britische Zeitschrift Searchlight. Mitte der 1980er Jahre war er aktiv beim Aufbau der antirassistischen Bewegung Stoppa Rasismen. 1987 trat aus der Sektion aus, die sich 1982 in „Socialistiska Partiet“ (SP) umbenannt hatte, um sich von der „Despotie und Unterdrückung des Stalinismus“ abzugrenzen. Entgegen anderslautenden Gerüchten war er übrigens (leider) nie Redakteur oder gar Herausgeber ihrer Theoriezeitschrift Fjärde Internationalen [Vierte Internationale].
Er blieb der Vierten Internationale trotz inhaltlicher Differenzen, vor allem in der Bewertung der osteuropäischen Gesellschaften, freundschaftlich verbunden und war häufiger Autor der schwedischen Wochenzeitung Internationalen, die von der SP herausgegeben wird. 1990 gelang es uns, ihn für den von Hans-Jürgen Schulz herausgegebenen Sammelband Sie sind wieder da über den Aufschwung des Rechtsextremismus in Europa zu gewinnen. Wir wollen es nicht überbewerten, aber es war praktisch seine erste Buchveröffentlichung. Zusammen mit Anne-Lena Lodenius schrieb er anschließend das Buch Extremhögern (1991, 1994) und gemeinsam mit Mikael Ekman Sverigedemokraterna – den nationella rörelsen (2001), jeweils Bestandsaufnahmen der extremen und populistischen Rechten in Schweden.
Nachdem Neonazis sieben Menschen umgebracht hatten, gründete Stieg Larsson 1995 die antirassistische Stiftung Expo. Seit 1999 war er hauptamtlicher Redakteur der gleichnamigen Zeitschrift.
Neben seiner Arbeit bei Expo begann er 2001 abends „zur Entspannung“ Krimis zu schreiben: „Ich kam auf die Idee mit Pippi Langstrumpf. Was wäre aus ihr geworden? Wie wäre sie heute als Erwachsene? Wie würde man sie nennen? Eine Soziopathin? Lieschen Dampf in allen Gassen? Sie sieht die Gesellschaft anders als andere. Ich schuf sie als Lisbeth Salander, 25 Jahr alt, mit einer enormen Extrovertiertheit. Sie nimmt niemanden wahr, hat keinerlei soziale Kompetenz. So brauchte man ein Gegengewicht zu ihr. Das wurde Mikael ‚Kalle’ Blomkvist, ein 45-jähriger Journalist. Ein Bruder Tüchtig, der bei einer eigenen Zeitung mit Namen Millennium arbeitet. Die Handlung kreist um die Zeitungsredaktion, aber auch um Lisbeth Salander, die wenig von ihrem eigenen Leben hat.“ [1]
Bibliographie (Auswahl)Sachbücher
Romane (Millennium-Trilogie):
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Stieg erlebte den großen Erfolg seiner Bücher nicht mehr. Nach der Rückkehr von der Mittagspause erlitt er im Büro von Expo einen Herzinfarkt und starb am 9. November 2004 im Alter von nur 50 Jahren. Alle drei Bücher der Millennium-Reihe, die er vor seinem Tod noch fertig gestellt hatte, erhielten posthum hohe Auszeichnungen (darunter zweimal den skandinavischen Krimipreis Glasnyckeln) und erlebten hohe Auflagen, weltweit 6 Millionen. Die Rechte wurden in dreißig Länder verkauft; eine Verfilmung ist in Arbeit. Davon müssten dem Autor schätzungsweise 100 Millionen Kronen (ca. 10 Millionen Euro) zufallen.
Mit seiner Lebensgefährtin Eva Gabrielsson, die er mit 18 Jahren im Vietnam-Komitee von Umeå kennen gelernt hatte, lebte er zwar seit dreißig Jahren zusammen, war aber aus Sicherheitsgründen nicht mit ihr verheiratet, da er wegen seiner Arbeit häufig von Neonazis bedroht wurde und zeitweise im Untergrund lebte. Da es auch kein Testament gab, fiel Stiegs gesamtes Vermögen an seinen Vater und seinen Bruder, mit denen er zu Lebzeiten kaum Kontakt hatte. Eva durfte gerade das behalten, was sich in der Wohnung befand. Ihr wurde von der Familie sogar mit Rauswurf gedroht, wenn sie nicht den Laptop mit dem begonnenen Manuskript des vierten Bandes herausrücke. Sie sagte, man könne die Serie nicht fortsetzen, ebenso wenig wie man einen angefangenen Picasso zu Ende malen könne. Sie wolle kein Geld, aber die Verwertungsrechte an den Büchern, an deren Entstehung sie durch viele Gespräche entscheidend beteiligt war. Bei den Sachbüchern gibt es inzwischen ernste Schwierigkeiten, weil Aktualisierungen nur noch mit Zustimmung der Familie möglich sind.
Bei der Durchsicht von Stiegs Hinterlassenschaften stieß Eva dann auf das 1977 von Stieg verfasste Testament: „Ich bin ja kaum ein reicher Mann, aber mein Vermögen in reinem Geld (und in dem Punkt bin ich sehr bestimmt) soll der Umeå-Ortsgruppe des Kommunistischen Arbeiterbunds zufallen.“ Sie ließ es unbeachtet, weil es nach schwedischem Recht ohne Beglaubigung unwirksam ist.
Das schwedische TV-Nachrichtenmagazin „Uppdrag granskning“ [Auftrag Recherche] bekam von der Sache Wind und macht es als große Sensation auf, die gehörig durch den schwedischen und teilweise sogar internationalen Blätterwald wirbelte. [2] Die Familie kam unter Druck, wurde auf der Straße beschimpft und deutete schließlich an, Stiegs Willen vielleicht doch freiwillig folgen zu wollen – womit sie meinten, wie sie später präzisierten, dass sie Eva auch das Wenige, was sie bekommen hatte, noch nehmen und es „den Kommunisten“ geben wollten.
Die Ortsgruppe Umeå der schwedischen Sektion, die heute Socialistiska Partiet (SP) heißt, erklärte dazu:
„Unsere Partei beteiligt sich an keinem Erbstreit und feilscht nicht um Geld. Wir haben keine Beziehung zu irgendeinem persönlich und wollen niemandem schaden. Wir halten an unseren Idealen Gerechtigkeit und Gleichbehandlung fest, die auch Stieg Larssons Ideale waren. Wir meinen, dass Stiegs lebenslange Beziehung mit Eva Gabrielsson respektiert werden sollte. Die unzeitgemäße schwedische Gesetzgebung, die die Ehe über andere Paarbeziehungen – seien sie gleich- oder gemischtgeschlechtlich – stellt, muss von Grund auf reformiert werden. Menschen sollen nach eigener Entscheidung zusammen leben können, ohne Unsicherheit und Rechtlosigkeit zu riskieren. Wir bewahren Stiegs Erinnerung am besten, indem wie den Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus und für eine Gesellschaft, die gleichen Wert und gleiche Rechte aller Menschen respektiert, fortsetzen.“
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 446/447 (Januar/Februar 2009).