Der wegen der Schweinegrippe-Epidemie entstandene Gesundheitsnotstand hat neben den Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung große politische und soziale Auswirkungen, die einer Erklärung bedürfen. Dies vor allem deshalb, weil die widersprüchlichen Regierungserklärungen zu großer Verwirrung und zu einem Vertrauensverlust geführt haben. Auch der wissenschaftlichen Information, der Wahrheit und der politischen Kritik muss der Weg geebnet werden.
Revolutionäre Arbeiterpartei (PRT)
Am 24. April 2009 erklärten der Gesundheitsminister, José Angel Córdoba Villalobos, und Felipe Calderón den Gesundheitsnotstand wegen einer Schweinegrippe-Epidemie. Ihr waren bereits viele Menschen zum Opfer gefallen und sie breitet sich in mehreren Staaten Mexikos aus. Diese Erklärung erfolgte spät. Die angeordneten Maßnahmen gingen zwar in die richtige Richtung, sind aber ungenügend und bedrohen demokratische Grundrechte (z. B. mögliche Hausdurchsuchungen bei Verdacht auf Grippekranke). Zudem zeugen sie von einer autoritären Haltung von Seiten der Politik und des Gesundheitswesens. Wie die Regierung bei Katastrophen ist auch das Gesundheitswesen nicht in der Lage, in kritischen Situationen adäquat zu reagieren, das heißt mit umfassenden und wirksamen Maßnahmen (Erdbeben 1985, Überschwemmungen und Wirbelstürme, die Cancún, Tabasco, Chiapas und Sinaloa heimgesucht haben).
Vor der gegenwärtigen Schweinegrippe-Epidemie haben zahllose ExpertInnen und BewohnerInnen von Dörfern gewarnt, in denen sich ausgedehnte Schweine- und Hühnerfarmen befinden, vor allem in La Gloria im Staat Veracruz. Die Regierung überhörte diese Warnungen und ging sogar hart gegen jene vor, die es wagten, Kritik zu üben, und die Hygienekontrollen und die Durchsetzung der Vorschriften bezüglich Produktion und epidemiologische Kontrollen in Schweine- und Geflügelfarmen forderten.
Zu Beginn der Epidemie spielte die Regierung deren Ausmaß herunter, indem sie erklärte, es bestehe kein Grund zur Beunruhigung. Noch einen Tag vor der Erklärung des Gesundheitsnotstandes hatte sie erklärt, es handle sich lediglich um nicht ansteckende Grippefälle (ein weiterer „Schnupfen“ wie die wirtschaftliche „Lungenentzündung“). Sie gab Informationen heraus, die im krassen Widerspruch zu Daten der Weltgesundheitsorganisation standen, die die Pandemie-Alarmstufe 3 ausgerufen hatte [Pandemie bedeutet, dass sich der Virus weltweit ausgebreitet hat, Anm. d. Übers.].
Die Bevölkerung ist einmal mehr getäuscht worden und misstraut den Regierungserklärungen und den angeordneten Maßnahmen. Das ist nicht ohne Folgen geblieben. Parallel dazu entstanden ein breites Aktionsnetz und ein großer Erfahrungsaustausch wie nach den Erdbeben von 1985 in Mexiko-Stadt. Damit zeigt sich einmal mehr der hohe Grad an Solidarität, zu dem dieses Land und seine BewohnerInnen, vor allem jene „von unten“, fähig sind. Eine andere Welt bahnt sich an, eine solidarische, humanistische Welt, voller Respekt für die Unterschiede und extrem kreativ, die sich der Welt der korrupten Magnaten und Regierenden widersetzt. Die Betroffenen, die ArbeiterInnen, Hausfrauen, StudentInnen und das Gesundheitspersonal unterstützen sich in den Wohnvierteln und den sozialen Organisationen gegenseitig, diskutieren und tauschen ihre Erfahrungen aus. Aus diesen Aktionen und Erfahrungen entsteht das Bewusstsein, dass es einen Wechsel braucht, dass ein neues Gesundheitssystem, eine neue Ordnung aufgebaut werden muss. Dass es ein anderes Mexiko braucht und dass ein Mexiko möglich ist, wo vorrangig die Bedürfnisse der Mehrheit befriedigt werden, wo das Leben über die Profite gestellt wird, wo eine Kultur und Organisationsmethoden gepflegt werden und wo die kollektive Initiative gefördert wird, um einer Welt zu widerstehen, in der „die da oben“, die Großunternehmer und ihre Regierung, uns tagtäglich angreifen.
Der Partido Revolucionario de los Trabajadores (Revolutionäre Arbeiterpartei) unterstützt deshalb die Vorbeugemaßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, hält aber auch unwiderruflich an der Respektierung der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten fest. Wir rufen zum Aufbau eines neuen Gesundheitswesens auf, das dieser Herausforderung gewachsen ist. Wir rufen dazu auf, jene zu bestrafen, die für die späte Reaktion verantwortlich sind, was Menschenleben gekostet hat, die hätten gerettet werden können und was zu Leid geführt hat, das hätte vermieden werden können. Der Sekretär für das Gesundheitswesen muss abgesetzt werden, und es braucht eine tiefgreifende Untersuchung der Ursachen, die zu dieser Krise geführt haben. Es braucht Vorbeuge- und Kontrollmaßnahmen, um zu verhindern, dass diese und weitere Gesundheits- und „Natur“-Katastrophen weiterhin Menschenleben kosten und tausenden Menschen großes Leid verursachen, wie dies vor allem in den letzten drei Jahrzehnten seit Beginn des neoliberalen Modells in Mexiko und weltweit die Norm war.
Am 4. April 2009 erschien in La Jornada ein Artikel über den Kampf im Ort La Gloria mit einem Bild eines Kindes, das in einer Demonstration eine Tafel mittrug, auf dem ein Schwein gezeichnet war und unter dem folgende Legende stand: „Achtung Gefahr: Granja Carrolls“ (granja= Bauernhof, Farm). Dieser Demonstration war eine Kontrolle der lokalen Gesundheitsbehörde vorausgegangen, bei der Ende 2008 festgestellt wurde, dass über 60 % der Bevölkerung an einer untypischen Infektion der Atemwege litt, deren Herkunft unbekannt war. Ab März wurden auch Fälle einer untypischen Infektion der Atemwege in Perote und dann in Jalapa bekannt, die von den Alarmsystemen unbeachtet blieben. Nach Ansicht von María Montoya vom Forschungszentrum für die Gesundheit von Tieren in Barcelona konnte es für die Zahl der Todesfälle und die Ausbreitung der Epidemie entscheidend sein, wie viel Zeit für die Identifizierung der Grippeart gebraucht wurde. [1] Erst anfangs April, also sehr spät, wurden die ersten Fälle von Schweinegrippe anerkannt. Zuerst war die Diagnose falsch, dann wurde die Krankheit als Infektion der Atemwege mit dem Virus des Typs A:H2N3 diagnostiziert. Bei der erneuten Untersuchung des konservierten Blutes eines vierjährigen Kindes musste die Diagnose korrigiert werden. Es handelte sich um das Virus des Typs A:H1N1, der für die heutige Epidemie verantwortlich ist. Noch vor diesen Entdeckungen wurde die Nachricht über Geflügelgrippespuren in Hühnerfarmen der Firma Granjas Bachoco verschwiegen. [2]
Heute weiß man, dass das Schweinegrippevirus Erbgutbestandteile von Mensch, Schwein und Huhn enthält. Das lässt vermuten, dass das Virus genetisch auf verschiedene Spezies übertragen wurde. Bei den Produktionsbedingungen, die auf den großen Schweine- und Geflügelfarmen herrschen, ist dies mehr als wahrscheinlich. Diese befinden sich abgeschieden im Gebiet von Perote in Veragruz. Doch davor wurde schon an verschiedenen Orten auf der Welt gewarnt. Ist dieser Virus lokalen Ursprungs oder wurde er importiert, ist dies nicht so schlimm. Tatsache ist, dass auf diesen Farmen die Bedingungen zur Reproduktion und zur genetischen Übertragung dieses Virus gegeben sind. Dadurch sind die Voraussetzungen für die Entstehung solcher Epidemien gegeben. Trotz der beiden Alarmrufe aus diesem Gebiet, wo die BewohnerInnen auf eine abnorme Erkrankung der Atemwege in der Nähe der Granjas Carrol und auf den Beginn der Hühnergrippe auf den Hühnerfarmen aufmerksam machten, reagierte das Epidemiewarnsystem des Gesundheitswesens erst, als sich die Krankheit bereits ausbreitete und es bereits zu schweren Fällen untypischer Lungenentzündung mit mehreren Todesfällen an anderen Orten, insbesondere in Mexiko-Stadt, gekommen war. In dieser Metropole mit ihrer großen Bevölkerungsdichte kann sich die Epidemie wegen fehlender Vorbeugemaßnahmen rasch ausbreiten.
Der Sekretär für Gesundheit zögerte mit seiner Erklärung, wonach es sich um eine saisonale Grippe handle und die Krankheitsfälle zu keinerlei Sorge Anlass gäben, die Reaktion auf den bereits eingetretenen Gesundheitsnotstand hinaus. Die in Mexiko veröffentlichten Zahlen wichen von den von der Weltgesundheitsorganisation später veröffentlichten Zahlen ab, nachdem auch in anderen Ländern, vor allem in Kanada und den USA, aber auch im spanischen Staat, in Großbritannien und Neuseeland Krankheitsfälle aufgetreten waren. Das Auftreten der Krankheit außerhalb Mexikos führte dann zur Ausrufung der Pandemie-Alarmstufe 3 und dann Alarmstufe 4. Diese Stufe bedeutet, dass sich die Epidemie weltweit ausbreitet, die Krankheitsfälle nicht mehr nur importiert sondern die Folge lokaler Ansteckung sind – was vor allem für die USA und den Spanischen Staat zutrifft – und dass die Krankheit mindestens in zwei Weltregionen aufgetreten ist. Beim Ausbruch des Zahlenkrieges, angesichts des internationalen Drucks und des öffentlichen Drucks in Mexiko selbst, blieb der mexikanischen Regierung und dem Sekretär für Gesundheit schließlich nichts mehr anderes übrig als den Gesundheitsnotstand auszurufen und mit verschiedenen Maßnahmen die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen.
All dies zeigt klar, dass Profite wichtiger sind als Menschenleben. Die großen internationalen und nationalen Konzerne, die Schweinefleisch, Geflügelfleisch und Eier produzieren, können sich über Normen und Vorschriften hinwegsetzen, auch wenn damit die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung gefährdet werden. Die Kritik und die Forderungen der Betroffenen nach Untersuchung und Diagnose ihrer Krankheit gelten nichts und werden nicht gehört. Das Gesundheitssystem, die Kontrolle sowohl bei Menschen wie bei Tieren, wird large gehandhabt, damit die Konzerne bei ihren Geschäften möglichst nicht gestört werden. Deshalb können wir sagen, dass die gegenwärtige Gesundheitskrise auch Ausdruck der kapitalistischen Irrationalität und einer Zivilisationskrise ist.
Angesichts der vergangenen Manipulationen und Betrügereien (man erinnere sich nur an die „Wahl“ Calderóns oder an das Gerede von einem „kleinen Katarrh” in Bezug auf die Wirtschaftskrise), nicht zu reden von den Fiaskos bei der Vorbeugung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten in unserem Land (Cholera, Dengue, Tuberkulose und Malaria), misstraut die Bevölkerung den offiziellen Darstellungen, lehnt sie ab und sucht eigene Antworten, zumal die Regierungserklärungen widersprüchlich waren und die Zahlen geheim gehalten wurden. Aus diesem Grund war die Reaktion der Bevölkerung exemplarisch, insbesondere in Mexiko-Stadt, und dies trotz Angstmacherei und der Tatsache, dass unter den Vorbeugemaßnahmen auch solche waren, die die Menschenrechte und demokratischen Freiheiten verletzen (wie die Möglichkeit von Hausdurchsuchungen bei Verdacht auf Ansteckung, um eine Untersuchung und Isolierung in die Wege zu leiten). Die Zweifel in der Bevölkerung haben etwas mit dem erklärbaren und berechtigten Misstrauen gegenüber den Regierungserklärungen zu tun, speziell gegenüber dieser illegitimen Regierung. Das legitime Misstrauen brachte einige dazu zu glauben, es handle sich bei der ganzen Sache um eine Erfindung, um manipulieren zu können. Oder es wurde geglaubt, dass falls es sich um eine echte Epidemie handelt, diese dazu benutzt wird, um die Polizei- und Repressionsmaßnahmen zu verstärken, und dass die Informationen manipuliert werden, um zu demobilisieren und die Leute dazu zu bringen, die Probleme individuell zu lösen und sich zum Beispiel in Haus oder Wohnung isoliert einzuschließen.
Als die Epidemie endlich offiziell anerkannt und der Gesundheitsnotstand erklärt worden war, wurden die Präventions- und Kontrollmaßnahmen von der Bevölkerung befolgt. Die Informationen wurden in den Gemeinden und den sozialen Organisationen verbreitet und entsprechende Aktivitäten vorangetrieben. Insbesondere in Mexiko-Stadt war das Verhalten von Engagement und Solidarität geprägt und das löste eine Dynamik aus, die auf eine andere Form der Organisierung des täglichen Lebens und des zwischenmenschlichen Umgangs zielte. Aber auch in kleineren Kommunen ist das so gelaufen. Jedenfalls haben die Kontrollmaßnahmen entsprechend dem für Hygienemaßnahmen zur Verfügung stehenden Budget der Distriktsregierung und zusammen mit der konsequenten Reaktion der Verwaltung der Hauptstadt dazu geführt, dass die weitere Ausbreitung verhindert werden konnte. Allerdings gab es auch einige Schwierigkeiten und Nachlässigkeiten, unter anderem die Diskriminierung einiger prekär beschäftigter ArbeiterInnen in der ausgelagerten Stadtreinigung und in den Sicherheits- oder Reparaturdiensten. Dieser Teil der arbeitenden Bevölkerung, der nur über wenig Mittel verfügt und sozial nicht abgesichert ist, hatte die schlechtesten Aussichten auf Versorgung im Erkrankungsfall. Schließlich ist auch der Zugang zum Gesundheitswesen und dessen Qualität je nach sozialer Lage höchst unterschiedlich.
Als Folge der Angstkampagne gab es in einigen Gebieten des Landes eine „antichilanga“-Reaktion [chilangos werden die BewohnerInnen von Mexiko-Stadt genannt, Anm. d. Ü.] Beispielsweise wurden im Distrikt Guerrero einige Autos mit Kennzeichen des Distrikts Mexiko mit Steinen beworfen. Im Ausland wurden MexikanerInnen Opfer diskriminierender Maßnahmen. Diese Reaktion ist falsch und hat klar reaktionäre und rassistische Wurzeln. Es muss deutlich gesagt werden, dass es sich um die Entstehung einer Pandemie handelt, die sich nicht auf eine Stadt, ein Land oder eine Ethnie zurückführen lässt sondern auf die Irrationaliät des Kapitalismus, der den Gewinn über die Gesundheit der Bevölkerung stellt, und für die auch die Regierung mit ihrer Ineffizienz verantwortlich ist. Ohne Legitimität und entgegen den Interessen der Bevölkerungsmehrheit ordnet sie sich den Interessen einer Minderheit nationaler und internationaler Kapitalisten unter und begegnet der Krise mit noch autoritäreren und repressiveren Polizeimaßnahmen.
Anfangs gab das Gesundheitsministerium Communiqués mit Zahlen über die bestätigten und Verdachtsfälle heraus. Das heißt, dass ein Teil – die Verdachtsfälle – zwar Zeichen und Symptome einer Influenza bzw. deren Komplikationen aufwiesen – z. B. atypische schwere Lungenentzündung –, dass aber ein Beweis in Form einer Blutuntersuchung fehlt, das heißt eine Immunanalyse mit spezieller Typisierung des Serotyps, womit das Virus im Individuum nachgewiesen werden kann. Dies erklärt die unterschiedlichen Zahlen betreffend Erkrankungen und Todesfälle. Jetzt wird nur noch die Zahl der gesicherten Fälle veröffentlicht, womit das Ausmaß der Epidemie verschleiert wird und Informationen zurückgehalten werden. Trotzdem kann man sagen, dass der Prozentsatz an Todesfällen unter den Erkrankten (Letalitätsrate) unterschiedlich hoch ist, sowohl in verschiedenen Gegenden des Landes wie auch weltweit. Die niedrigste Letalitätsrate findet sich in Mexiko im Distrikt Mexiko-Stadt, die höchste in San Luis Potosi, soweit sich das derzeit beurteilen lässt. In den USA und in Europa ist die Rate erheblich niedriger als in Mexiko. Weil es sich bei dieser Epidemie um einen neuen Virustyp handelt, ist schwer zu beurteilen, ob diese Unterschiede auf eine unterschiedliche Empfänglichkeit der Bewohner unterschiedlicher Länder und Regionen zurückzuführen sind. Näherliegend ist es, dass diese Unterschiede auf mangelhafte medizinische Versorgung zurückzuführen sind, das heißt auf erschwerten Zugang (was dazu führt, dass die Menschen erst in fortgeschrittenem Stadium zur Behandlung kommen) und auf Mängel in der Versorgung selbst (entweder Personalmangel oder fehlende diagnostische und therapeutische Mittel für den sofortigen Behandlungsbeginn: Im Distrikt Mexiko-Stadt wurde von Fällen berichtet, wo Kinder – dies geschah auch mit Erwachsenen und auch in anderen Distrikten, aber in Mexiko-Stadt zirkulieren die Informationen schneller – diagnostisch schlecht abgeklärt und nicht rechtzeitig stationär aufgenommen wurden und dann in erheblich schlechterem Zustand wiederkamen. Mindestens zwei von ihnen starben).
Bei der Schweinegrippe ist das Immunverhalten des Erregers neu, und es muss ein neuer Impfstoff produziert werden. Tatsache ist, dass seit der Regierung von Salinas de Gortari eine eigene, nationale Antwort auf einen solchen Notfall verhindert wurde. Die staatseigene Impfstoffproduktion wurde eingestellt. In den fünfziger und sechziger Jahren verfügte Mexiko über Laboratorien, die die Mehrheit der benötigten Impfstoffe herstellten. Die Institute für Hygiene und Virologie hatten diese Produktionskapazität, aber seit den Zeiten von Salinas und danach in der Zeit von Ernesto Zedillo wurde diese Kapazität abgebaut, die Laboratorien zusammengelegt und schließlich eine halbstaatliche Institution (Laboratorios de Biológicos y Reactivos de Mexiko, SA de CV (Birmex)) gegründet. Diese Institution produziert nur noch zwei der zwölf Basisimpfstoffe. [3]
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass in Mexiko sowohl bezüglich des Volumens wie bezüglich der Qualität der Forschung auf dem Gebiet der Virologie, Immunologie, Genetik und Molekularbiologie die wissenschaftliche und technologische Kapazität vorhanden ist, um die notwendigen Impfstoffe zu produzieren. Aber die Regierung hat sie lieber importiert, um damit transnationale Laboratorien zu belohnen – eine offene Politik der technologischen und wissenschaftlichen Unterordnung, die offensichtliche gesundheitspolitische Auswirkungen hat. Länder wie Brasilien und Kuba haben im Gegensatz dazu investiert, um die Selbstversorgung auf diesem Gebiet aufrechtzuerhalten und damit gezeigt, dass diese Form von Abhängigkeit und „Drittwelt“-Verhältnis die klare Folge der Wahl einer bestimmten Wirtschaftspolitik und entsprechender Prioritäten ist, nämlich der Anbindung an das neoliberale Modell.
Derzeit ist die Produktion eines Impfstoffes dringlich, auch wenn das mehrere Monate dauern wird und die aktuelle Epidemie nicht verhindern kann. Trotzdem braucht es dies unbedingt, um sowohl in anderen Ländern als auch hier in Mexiko zukünftige Ausbrüche solcher Krankheiten und die Ausdehnung auf andere Staaten und damit eine erneute Epidemie zu verhindern. Zudem müssen die Bemühungen verstärkt werden, um die Normen zur Überwachung und Überprüfung der Hygienevorschriften bei der Fleischproduktion (natürlich nicht nur bei Schweinen und Geflügel) durchzusetzen. Denn diese Phänomene könnten sich auf das gesamte Agrobusiness ausweiten, das den Markt über die Gesellschaft stellt, beispielsweise bei der Produktion von Zuckerrohr und Mais für die Ethanolproduktion zur Stromerzeugung und bei der Einführung transgener Pflanzen in ein Land, das wegen des Freihandelsabkommens gezwungen ist, Mais und andere Agrarprodukte zu importieren.
Auch in diesem Bereich erleben wir die Folgen neoliberalerer Politik der vergangenen Jahre, die als Teil eines auf den Markt ausgerichteten Bildungsmodells die Investitionen in die Wissenschaft reduziert und Gesundheitswesen und Sicherheitsorgane privatisiert hat.
Aber nicht alles ist negativ. Zahlreiche Arbeiterorganisationen haben die Bemühungen zur Kontrolle und Vorbeugung der Epidemie unterstützt, nicht ohne dabei Kritik an den tadelnswerten Aspekten des Verhaltens der Regierung und des Gesundheitsministeriums zu üben. Am diesjährigen 1. Mai, an dem normalerweise Tausende von ArbeiterInnen auf die Straße gehen, um ihre Unzufriedenheit mit den desolaten Folgen der Wirtschaftskrise und den Regierungsmaßnahmen zu zeigen, wurde entschieden, die Präventionsmaßnahmen zu respektieren – mit denen in erster Linie der Kontakt mit Erregern bei Menschenansammlungen, aber auch in kleineren Gruppen, verhindert werden sollen -, die Mobilisierungen zu verschieben oder alternative Protestaktionen durchzuführen. In anderen Städten wie Cuernavaca hingegen konnten Demonstrationen durchgeführt werden. Die teilweise Stilllegung der Wirtschaft rief ganz unterschiedliche Solidaritätsaktionen in der Bevölkerung hervor. So wurde zum Beispiel zwischen Nachbarn turnusmäßig die Kinderbetreuung gemeinsam wie in einer Großfamilie organisiert. Die Supermärkte hingegen weigerten sich zu schließen und wiesen auf ihre Rolle als Versorger mit lebenswichtigen Gütern hin. Wie wenn alle schon vergessen hätten, was vor einigen Monaten geschah: die Supermärkte erklärten sich damals „solidarisch“ mit den „Maßnahmen“ dieser Betrugsregierung und bereit, die Preise zu senken oder zumindest konstant zu halten. Sie taten dies allerdings erst, nachdem sie ihre Produkte umetikettiert hatten. Bei der Aufregung, die durch die Lage in einigen Bereichen ausgelöst wurde, gab es vor vielen Supermärkten große Menschenansammlungen, die „Panikkäufe“ tätigen wollten und damit gegen eine der wichtigsten Präventionsmaßnahmen verstießen.
Zweifellos werden sich die Maßnahmen negativ auf die eh schon schlechte Wirtschaftslage auswirken. Die unterschiedlichen sozialen Klassen und Schichten werden davon jedoch unterschiedlich betroffen sein. Besonders jene trifft es hart, die nur von einem Tag zum anderen leben. Andere wiederum werden profitieren (die Supermärkte, die von den Panikkäufen profitieren, die Produzenten und Lieferanten von Arzneimitteln und anderer Produkte, die für Behandlung und Prävention gebraucht werden – Mundschutz beispielsweise oder Desinfektionsmittel).
Besondere Aufmerksamkeit gebührt den Einschränkungen der demokratischen Freiheiten, wie die Relativierung der Privatsphäre oder des Demonstrations- und Versammlungsrechts, die unter dem Vorwand des gesundheitspolitischen Ausnahmezustands in Frage gestellt werden. Damit erfolgt ein weiterer Schritt in Richtung Einschränkung der Grundrechte. Das Vorgehen von Armee und Polizei, das bis anhin mit der Bekämpfung des Drogenhandels und des organisierten Verbrechens gerechtfertigt wurde, wird jetzt als Präventionsmaßnahme gegen die Epidemie verkauft. Wir Revolutionäre erklären unseren entschiedenen Widerstand gegen die Verletzung und Einschränkung der Freiheitsrechte, während wir uns gleichzeitig mit den Vorbeuge- und Kontrollmaßnahmen gegen die Epidemie einverstanden erklären. Dabei muss aber die Würde und die Freiheit der Person ohne jede Einschränkung respektiert werden. Denn vor allem anderen tragen wir die Verantwortung dafür, dass unsere Kinder, Jugendlichen und Schwangeren geschützt werden, die von der Epidemie am meisten gefährdet sind. In dieser wie in jeder politischen oder gesundheitspolitischen Frage kämpfen die RevolutionärInnen für die Verlängerung des Lebens, für ein Leben in Würde, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Wir streben nach Glück und wollen eine Welt aufbauen, die von Harmonie mit der Natur geprägt ist und in der sich alle Welten wiederfinden. Und wir sehen es als unsere Pflicht an, die Maßnahmen zu unterstützen und voranzutreiben, die nötig sind, um die Auswirkungen dieser bereits weltweiten Epidemie einzudämmen.
In diesem Gesundheitsnotstand und sicherlich unmittelbar danach werden sich neue soziale Kämpfe entwickeln. Sie müssen unterstützt und zum Aufbau einer breiten und einigen Organisation genutzt werden. Wir müssen unsere Anstrengungen zur Verteidigung der Menschenrechte verdoppeln. Zum Kampf gegen vergangene straflose Verbrechen und Ungerechtigkeiten, belegt durch die hohe Zahl an politischen Gefangenen, Verfolgten und Verschwundenen, muss jetzt der nötige Widerstand gegen die Gesetzesinitiativen der Legislative und der Regierung kommen, die in diesen Tagen beschlossen werden, um die demokratischen und politischen Rechte weiter einzuschränken. Aber auch im Sozialbereich und beim Widerstand gegen die Angriffe auf die Rechte und den Lebensstandard der ArbeiterInnen, die sich angesichts der Rezession abzeichnen, gegen die Arbeitslosigkeit und den dramatischen Kaufkraftverlust droht sich die Lage in Verbindung mit der Gesundheitskrise zuzuspitzen. Gleichzeitig finden exemplarische Kämpfe statt, die dringend Unterstützung brauchen, wie der schon 21 Monate andauernde Streik der Minenarbeiter von Cananea.
Die Protagonisten der Globalisierung stehen derzeit vor einer riesigen Herausforderung. Ihr Wirtschaftsmodell ist gescheitert und Naturkatastrophen häufen sich (Tsunamis, Überschwemmungen wie in New Orleans, Erdbeben, Ausbruch von Krankheiten). All dies stellt das kapitalistische System selbst und seine Fähigkeit in Frage, für Sicherheit, Ernährung, Arbeit, für ein Leben in Würde und manchmal sogar für das Überleben zu sorgen. Insgesamt wird es jeden Tag offensichtlicher, dass dieses System nicht in der Lage ist, auch nur die elementaren Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung zu befriedigen. Eine andere Welt ist nötig, ein Modell, das die Bedürfnisse der jetzt ausgeschlossenen Masse der Bevölkerung an die erste Stelle setzt. Eine andere Welt entsteht aus dieser Krise, eine solidarische Welt, die sich dem Leben und seiner Anmut zuwendet, die zeigt, dass es einen anderen Weg gibt, ein anderes Mexiko, das sicher möglich, vor allem aber dringend nötig ist. Eine Welt, die auf dem Respekt und der Solidarität zwischen Männern und Frauen und zwischen den Völkern beruht.
Politisches Komitee der Revolutionären Arbeiterpartei (PRT), Mexiko, D.F., 30.4.2009 Übersetzung: Ursi Urech und Thadäus Pato |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 452/453 (Juli/August 2009). | Startseite | Impressum | Datenschutz