Griechenland

Die Bedeutung des griechischen Krise

Von Morgen bis Abend wird uns die Botschaft um die Ohren gehauen, erst „die Griechen“ und dann „wir alle“ müssten massiv sparen, um den Staatsbankrott abzuwenden. Unser Autor blickt auf die Fakten.

Pascal Franchet

Vieles wurde in den letzten Wochen über die Krise und Griechenland gesagt, vieles widerwärtig [1] oder verwirrt. Ergebnis ist eine Argumentation. die in alle entwickelten Länder exportierbar ist. Die Medien haben die offizielle Botschaft immer wieder aufgegriffen, die sich in fünf Punkte gliedert:

  1. Griechenland hat betrogen, um die „nicht nachhaltige“ Staatsverschuldung zu verstecken;

  2. Es ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit, wie auch andere Länder der Eurozone;

  3. Die Europäische Union ist voller Mitgefühl, kann aber nicht umhin, zu strengen Maßnahmen zu drängen und zu fordern, das Land unter Aufsicht zu stellen;

  4. Griechenland muss Sparmaßnahmen ergreifen, um sein Haushaltsdefizit zu verringern;

  5. Um die Krise in den entwickelten Ländern zu lösen, sind ähnlich strenge Sparmaßnahmen erforderlich.

Diese ideologische Botschaft, die an alle Völker des Nordens gerichtet ist, soll Punkt für Punkt entschlüsselt werden.


1) Griechenland hat betrogen, um die „nicht nachhaltige“ Staatsverschuldung zu verstecken


Ja, zweifellos ist der Staat von Korruption und „kleinen Gefälligkeiten unter Freunden“ geplagt. Es scheint heute klar, dass die US-Bank Goldman Sachs komplexe Instrumente (Devisen-Swaps) und daraus abgeleitete Produkte geschaffen hat, die es der griechischen Regierung ermöglichten, ihre Staatsverschuldung mit Hilfe unsichtbarer Darlehen fiktiv um 2 Milliarden Euro [2] zu reduzieren, Das hat es Griechenland erlaubt, der Eurozone beizutreten. Es ist ebenfalls klar, dass die aufeinander folgenden Regierungen seit 2001 ihre Augen vor dieser Reduktion der Staatsverschuldung verschlossen haben.

Aber Griechenland ist nicht der einzige Fall, und die Länder der Eurozone entfachen einen Sturm der Heuchelei zu diesem Thema.

Italien hat 1996 Swaps von J. P. Morgan verwendet, um sein Defizit künstlich zu verringern. Später hat Berlusconi die Eintrittsgelder für die staatlichen Museen gegen 10 Mrd. Euro an eine Finanzgesellschaft verkauft, die im Austausch jährlich 1,5 Mrd. Euro in den nächsten 10 Jahren erhält. Frankreich hat im Jahr 2000 Anleihen ausgegeben, bei denen die Auszahlung der Zinsen am Ende eines Zeitraums von 14 Jahren erfolgen soll. Im Jahr 2004 haben Goldman Sachs und die Deutsche Bank ein Finanzierungsinstrument für Deutschland namens „Aries Vermögensverwaltung“ geschaffen.

Deutschland würde darüber zu Zinsen leihen, die deutlich über Marktkonditionen liegen, nur um zu vermeiden, dass diese Schulden in öffentlichen Bilanzen auftauchen. [3]


Den „unergründlichen Abgrund“ in Griechenland relativieren


Griechenland hätte also ein Defizit von 12,7 % und nicht 6 %, wie von der früheren Regierung behauptet, und eine Staatsverschuldung von 115 %, aber wenn man das im Vergleich zu anderen Ländern sieht, gibt es keinen Grund, mit den Wölfen zu heulen. Die Kosten für den Schuldendienst betrugen 14 % des BIP im Jahre 1993, heute sind es 6 %! Der Stand der griechischen Haushaltsbilanz ist sicherlich weit vom Gleichgewicht entfernt, aber er hat sich weniger verschlechtert als in anderen Ländern des Nordens.

Tabelle 1: Stand der Staatsverschuldung in den wichtigsten Ländern der Eurozone in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)

 200720082009*2010**Zunahme
seit 2007
Österreich59,4 %62,5 %70,4 %75,2 %26,6 %
Belgien84 %89,6 %95,7 %100,9 %20,1 %
Finnland-33,4 %39,7 %45,7 %36,8 %
Frankreich63,8 %68 %75,2 %81,5 %27,7 %
Deutschland65,1 %65,9 %73,4 %78,7 %20,9 %
Griechenland94,8 %97,6 %103,4 %115 %21,3 %
Irland25 %43,26 %61,2 %79,7 %218,8 %
Italien103,5 %105,8 %113 %115 %12,2 %
Niederlande45,6 %58,2 %57 %63,1 %38,4 %
Portugal63,5 %66,4 %75,4 %81,5 %28,3 %
Spanien36,2 %39,5 %50,8 %62,3 %72,1 %
Eurozone66 %69,3 %77,7 %83,6 %26,0 %

*Schätzung ; ** Prognose.

Quelle: Eurostat

Anmerkung: Für Finnland ist die Zuwachsrate gegenüber 2008 berechnet


Weder die Kommission noch Eurostat und noch weniger die Rating-Agenturen haben Griechenland Lektionen zu erteilen!


Seit 2001 konnte die Europäische Kommission die Unzuverlässigkeit der von Griechenland vorgelegten Aufstellungen nicht mehr ignorieren. Um das Haushaltsdefizit des griechischen Staates zu ermitteln, hätte sie nur einen Blick auf die Konten der zentralen Verwaltung dieses Landes werfen müssen, oder sich die Vervielfachung der Rüstungsaufträge ansehen müssen; oder die Kosten der Olympischen Spiele 2004 abschätzen und mit den Haushaltsmitteln und den von der griechischen Zentralbank gehaltenen Reserven vergleichen müssen, um zu verstehen, dass die Staatsverschuldung nicht mit den angegebenen (für den Beitritt zur Eurozone geschönten) Zahlen übereinstimmen konnte. Sie konnte es nicht ignorieren, aber sie wollte es auch nicht wirklich thematisieren.

Die Integration Griechenlands in die Eurozone war aus politischen und geostrategischen Fragen notwendig. Die besten Advokaten Griechenlands waren im Jahr 2001 Frankreich (zweitwichtigster Waffenlieferant Griechenlands) und Deutschland. Banken der beiden Länder halten heute 80 % der griechischen Schulden.


Auch Eurostat hat keinen Grund, Lektionen zu erteilen.


Laut Bloomberg war Eurostat über diesen Vorgang völlig im Bilde. Es geschieht auch im Namen einer wohl arrangierten Buchführung, dass die EU-Statistikbehörde die den Banken im Rahmen des Rettungsplans ohne Gegenleistungen gewährten Milliarden Euro von der laufenden Staatsverschuldung abtrennt (ESVG-Verordnung vom Juni 2009 )? Es ist dieselbe Eurostat, die es erlaubt, die Beträge der von den Staaten ausgegebenen Anleihen („grand emprunt“ [von Sarkozy geplante Sonderanleihe über 35 Mrd. Euro] in Frankreich, griechische und portugiesischen Anleihen) bei der Berechnung der Staatsverschuldung außer Acht zu lassen.

Trotzdem werden die Steuerzahlerinnen und -zahler (jene, die nicht von den Steuersenkungen für die wohlhabenden Klassen profitieren) diese Beträge auf die eine oder andere Weise begleichen müssen.


Zu den Rating-Agenturen: Wie zuverlässig sind ihre Bewertungen?


Ihre Glaubwürdigkeit muss mit verdammter Vorsicht gesehen werden; noch drei Tage vor dem Konkurs bewerteten sie die verbrieften Subprimes der Lehman Brothers mit dem höchsten „AAA“!

Dieselben „hellseherischen“ Agenturen entscheiden trotzdem über Regen und Sonnenschein auf den Finanzmärkten, einschließlich der unregulierten sogenannten OTC (Over The Counter - Über den Ladentisch), auf denen toxische Produkte wie die CDS (Credit Default Swaps - Kreditausfallversicherungen) gehandelt werden. Sie sind eng mit den angelsächsischen Banken (darunter insbesondere Goldman Sachs und Citibank) verbunden.

Diese Agenturen arbeiten nicht mit einer Kristallkugel, sondern mit Daten, die von den Emittenten einer hier betrachteten Anleihe oder den Vermarktern einer solchen oder anderer Produkte zur Verfügung gestellt werden. In unserem Fall haben sie die Staatsanleihen nur deswegen herabgestuft, weil sie von der griechischen Regierung nach dem Mehrheitswechsel neue Daten erhalten hatten.


2) Griechenland ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit, wie auch andere Länder der Eurozone


Die erste Funktion dieser Nachricht ist: Steigerung der Zinssätze (Risikoprämien) und damit der Gewinne der Darlehensgeber (also Goldman Sachs und Hedge Fonds). So werden die von Griechenland ausgestellten Schuldverschreibungen zu 6,40 % gehandelt, das ist das Doppelte dessen, was ein Gläubiger eigentlich erwarten könnte. Es ist bemerkenswert, dass diese Anleihe über 5 Milliarden Euro seit ihrer Ausschreibung dreifach überzeichnet wurde. [4] Heftig dementiert seitens der Financiers eines Landes, das als „am Rande der Zahlungsunfähigkeit“ betrachtet wird.

Die herrschende Ideologie hat eine Tendenz, die Situation des Staatshaushalts mit der eines privaten Haushalt oder eines Unternehmens zu vergleichen, was keinen Sinn ergibt. Ein Staat hat, im Gegensatz zu einem privaten Haushalt oder einem Unternehmen, immer die Möglichkeit, seine Einnahmen durch Steuern zu erhöhen. Dies ist, neben einer viel höheren Lebenserwartung, ein großer Unterschied und Grund dafür, dass dieser Vergleich absurd ist. Der US-Staat existiert seit 221 Jahren und akkumuliert Schulden seit 1837, das sind 173 Jahre in Folge. [5]

Der zweite Grund dafür ist Panikmache, um die öffentliche Meinung vorzubereiten, Sparpolitik und Sozialabbau zu akzeptieren. Die griechische Regierung hat auch alle Freiheit, eine gründliche Reform des Steuersystems vorzunehmen und Steuervergünstigungen und soziale Wohltaten für die Reichen und Kapitalgesellschaften zu beseitigen sowie die Kapitalerträge und Zinsen zu besteuern, also kurz gesagt die Steuereinnahmen zu erhöhen und das Haushaltsdefizit zu beseitigen. Es ist eine Frage politischer Entscheidungen, dass die PASOK (sozialdemokratische Partei in Griechenland) dies nicht tun wollte, weil sie mit dem Neoliberalismus im Wesentlichen überstimmt: Die griechische Welt ist eine neoliberale Marktwirtschaft und muss es bleiben!

Die seit vielen Jahrzehnten von aufeinander folgenden Regierungen durchgeführte Politik hat das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung immer weiter steigen lassen. Der Beitritt zur Eurozone (2001) hat dieses Phänomen nur verstärkt (siehe Tabellen 2, 3 und 4 unten).

Tabelle 2 : Vergleich der Steuerpolitik Griechenlands und der EU der 27

 Steuereinnahmen
(in Prozent des BIP)
Gesetzlicher Spitzensteuersatz
auf Einkommen
Steuersatz
für Unternehmen
GriechenlandDurchschnitt
EU der 27
GriechenlandDurchschnitt
EU der 27
GriechenlandDurchschnitt
EU der 27
200034,6 %40,6 %45 %44,7 %40 %31,9 %
200631,3 %39,7 %40 %31,9 %25 %23,6 %
200732,1 %39,8 %40 %37,8 %25 %23,5 %
200034,6 %40,6 %45 %44,7 %40 %31,9 %
Änderung 2007/2000-2,5-0,8-5-6,9-15-8,4

Quelle: Eurostat, 22.06.2009, STAT/09/02

Tabelle 3: Staatssaldo (in Prozent des BIP)

 2000200120022003200420052006200720082009
Griechenland-3,7-4,5-4,8-5,6-7,5-5,2-2,9-3,9-7,7-12,7
Eurozone0-1,8-2,5-3,5-2,9-2,5-1,3-0,6-2na

Quelle: Eurostat, Abruf am 23. März 2010 (na = nicht angegeben)

Tabelle 4: Staatsverschuldung (in Prozent des BIP)

 2000200120022003200420052006200720082009
Griechenland103,4103,7101,797,498,610097,195,699,2113,4


3) Die Europäische Union ist voller Mitgefühl, kann aber nicht umhin, strenge MaSSnahmen zu verlangen und zu fordern, das Land unter Aufsicht zu stellen


Die Europäische Zentralbank (EZB) hat nicht das Recht, den Staaten Kredite zu gewähren!

Während die Europäische Zentralbank 2008-2009 zur Rettung privater Banken vor dem Bankrott massiv eingegriffen hat, ist es ihr nicht gestattet, das Gleiche zu Gunsten staatlicher Instanzen der Mitgliedstaaten zu tun. Das ist eine Schande.

Es stimmt, dass nach dem Artikel 123 des Vertrags von Lissabon der Europäischen Zentralbank und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten „der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln [von Zentralregierungen, regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften ... oder öffentlichen Unternehmen der Mitgliedstaaten]“ untersagt ist.

Also, kein „unmittelbarer“ Erwerb (und keine Unterstützung von Staaten), aber dennoch werden Darlehen zu Vorzugsbedingungen den Banken gewährt, die diese als Sicherheit ... für Staatsobligationen (einschließlich denen des griechischen Staats!) deponieren.

Schöne Heuchelei, dass dieser Mechanismus durch den Vertrag von Lissabon erlaubt ist.

Die Europäische Investitionsbank, deren Amoralität in den Entwicklungsländern bekannt ist, [6] kann das griechische Defizit nicht finanzieren? Auf dem Papier stimmt das. Aber im „wahren Leben“ finanziert sie viele fragwürdige Investitionsvorhaben, die die Staatsverschuldung erhöhen, wie die Olympischen Spiele 2004, deren Gesamtkosten immer noch unbekannt sind (schätzungsweise zwischen 20 und 30 Milliarden Euro). [Inzwischen haben sich die europäischen Finanzminister mit dem Euro-Rettungspaket souverän über diese Regelungen hinweggesetzt.]


4) Griechenland muss SparmaSSnahmen ergreifen, um sein Haushaltsdefizit zu verringern


Dies ist das Ziel, das die Verfechter des Wirtschafts- und Finanzkapitalismus' erreichen wollen! Unter dem Vorwand einer als „nicht nachhaltig“ bezeichneten Staatsverschuldung verordnet die Regierung im Namen einer Haushaltskonsolidierung ihrer Bevölkerung eine beispiellose Kur von Sparmaßnahmen: Ende jeglicher Konjunkturmaßnahmen, Einfrieren der Gehälter der Staatsbediensteten im Jahr 2010, Senkung der Prämien um 10 % und der Zulagen um 30 % im öffentlichen Dienst, Senkung der Staatsausgaben um 10 %, davon 100 Mio. Euro weniger für Bildung, Verringerung der Ausgaben für Krankenhäuser, Erhöhung des Rentenalters um 2 Jahre, das damit 63 Jahre überschreitet, Einstellungsstopp, Nichtverlängerung von Zeitverträgen im Staatsdienst, Anhebung der Steuern auf Kraftstoffe, Tabak, Handys, Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte ... und die EU will immer noch mehr! Sie fordert Strukturreformen, die die gesamte Verwaltung betreffen, die Liberalisierung des Handelsmärkte, die Flexibilisierung der Arbeit, umfassende Reformen des Renten- und Gesundheitssystems ... Nach vorsichtigen Schätzungen der Deutschen Bank muss sich das griechische Volk auf einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um mindestens 15 % und einen Rückgang des BIP von 7,5 % einstellen.

Doch es gibt andere haushaltsinterne Lösungen!

Die nach dem Sparprogramm erwarteten Einsparungen liegen in der Größenordnung von 5 Mrd. Euro. Andere Entscheidungen mit gleichem Ergebnis wären möglich! So ist Griechenland das EU-Land, dessen Militärausgaben den größten Anteil am nationalen BIP erreichen. Sie umfassen 9,642 Milliarden Dollar im Jahr 2006. [7] Im Jahre 2008 waren Griechenlands Rüstungsausgaben mit 2,8 % des BIP die höchsten in Europa, und diese Zahl beinhaltet noch nicht einmal alle Militärausgaben. [8] Von diesen erheblichen Kosten für den Staatshaushalt profitieren vor allem die Rüstungsindustrie Amerikas und Europas.

Griechenland hat auch die weltweit größte Handelsflotte mit mehr als 4000 Schiffen, die dem griechischen Staat durch Steuervorteile jährlich fast 6 Mrd. Euro Mehrwertsteuer entzieht.

Die Mehrheit der großen Unternehmen haben ihr Vermögen an Offshore-Gesellschaften in Zypern übertragen (und zahlen dort nur einen Steuersatz von 10 %). Die griechisch-orthodoxe Kirche ist von Steuern befreit, obwohl sie die größte Immobilienbesitzerin des Landes ist.

Griechische Banken haben aus dem Rettungspaket über 28 Mrd. Euro öffentlicher Mittel ohne jede Gegenleistung erhalten und spekulieren nun völlig ungestraft gegen die Staatsverschuldung. Es gibt also genug Mittel für eine andere Lösung!

Sie erfordert eine durchgreifende Steuerreform, aber die PASOK-Regierung hat sich im Dienste der Kapitalisten dafür entschieden, die Dinge so zu lassen wie sie sind, und die Armen für den Verbleib in der Eurozone bezahlen zu lassen, obwohl sie doch Quelle der Deregulierung und des Verlusts der nationalen Souveränität im Namen des „freien und unverfälschten Wettbewerb“ ist.


5) Um die Krise in den entwickelten Ländern zu lösen, sind ähnlich strenge SparmaSSnahmen erforderlich


In allen entwickelten Ländern wird dieselbe Botschaft von Regierungen und Medien abgespielt. Sei es in Portugal, wo die Regierung ein umfassendes Programm der Privatisierung von öffentlicher Dienstleistungen beschlossen hat; sei es in Spanien, das in eine Immobilienkrise verstrickt ist und das eine Arbeitslosenquote von rund 20 % erlebt; sei es in Irland, dessen Haushaltsdefizit in der Nähe dessen von Griechenland liegt; sei es in Italien, das mit 127 % des BIP die EU-weit höchste Staatsverschuldung erreicht; oder sei es in Großbritannien, dessen Defizit jetzt 14.5 % überschreitet.

Die anderen europäischen Länder müssen damit rechnen, durch dieselbe Mühle der Sparprogramme gedreht zu werden. Reformen der Rentensysteme und das Zerschlagen der Systeme für Gesundheit und soziale Sicherheit sind bereits überall in Europa im Gange.

Eines ist sicher: Die öffentlichen Gelder, die die großen Privatbanken zu sehr niedrigen Zinssätzen von der Europäischen Zentralbank erhalten haben, werden weder bei den privaten Haushalten noch bei den Unternehmen ankommen. Der Kreditbestand ist 2009 überall in Europa massiv gesunken. Dieses Geld wird jetzt wieder in die Spekulation auf das „Hoheitsrisiko“, also das der Nichtrückzahlung der Staatsschulden, fließen. Heute Griechenland, morgen Portugal, Spanien, Italien und Irland. Und übermorgen Belgien und Frankreich ... Die Eurozone ist völlig zersplittert und zeigt ihr wahres Gesicht: Sie ist ein System für die reichsten Volkswirtschaften, errichtet auf dem Rücken der ärmsten.


Vorläufige Schlussfolgerungen und sechs Vorschläge


Die Europäische Union ist politisch bankrott: mit einer gemeinsamen Währung, aber Steuer- und Sozialkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten, mit ihrem gemeinsamen Markt, aber ohne jeden Mechanismus für den Ressourcentransfer von Reich zu Arm, und mit ihrem neoliberalen Dogma, das die Völker erdrückt, ist sie nicht in der Lage, den Menschen eine Antwort auf die Krise zu geben.

Im Gegenzug beginnen die Menschen die Gegenwehr zu organisieren und sich zu mobilisieren: zwei aufeinander folgende massive Generalstreiks in Griechenland und Massendemonstrationen in den meisten größeren Städten; 93 % der Isländerinnen und Isländer haben die vom Icesave-Gesetz vorgesehene Bezahlung der privaten Schulden verweigert; [9] beeindruckende Kundgebungen in Portugal; und die Demonstrationen vom 23. März in Frankreich, die den Auftakt einer dritten Runde sozialer Proteste bildeten. Der Wind erhebt sich in ganz Europa und trägt die Weigerung von Arbeiterinnen und Arbeitern, Rentnerinnen, Rentnern und Armen, die Hauptlast der Krise zu tragen.

Was diesen Mobilisierungen fehlt, ist neben dem Brechen der Isolation der Kämpfe eine Perspektive, die den Zusammenhang zwischen der sozialen und der politischen Antwort schafft.

Überall in Europa müssen soziale Bewegungen Elemente eines Alternativprogramms entwerfen, um auf die Systemkrise zu antworten, und sich für die Verteidigung und Ausweitung kollektiver Rechte gegen die Wertlogik des Kapitals zu entscheiden.

Die zentrale Frage, die von diesen „Krisen-Ausreden“ der Staatsverschuldungen im Norden aufgeworfen wird, zielt auf eine andere Verteilung des Reichtums.

Dazu müssen zwei Eisen im Feuer gehalten werden: Erhöhung der Löhne zu Lasten der Dividenden und Umsetzung einer umfassenden Steuerreform.

Lohnsteigerungen könnten die Haushalte entschulden und Absatzmöglichkeiten für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen eröffnen.

Nötig ist ferner eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn und verbindlichen Neueinstellungen. Dies würde es erlauben, gleichzeitig die Probleme der Arbeitslosigkeit, der Finanzierung der sozialen Sicherheit (durch Erhöhung der Zahl der Beitragszahler) und des Mangels an Freizeit derjenigen, die arbeiten, anzugehen.

Eine harmonisierte Steuerreform auf europäischer Ebene würden es erlauben, die vielen Steuerschlupflöcher zu stopfen, eine progressive Steuer auf alle Einkommen (Einkommens- und Körperschaftssteuer) wieder einzuführen, die indirekten Steuern, die vor allem die Ärmsten treffen (Mehrwert- und Mineralölsteuer), zu reduzieren oder abzuschaffen und eine spezielle Steuer auf Finanzeinkommen und das Vermögen der Gläubiger zu erheben, ohne die Besteuerung von anderen Kapitalerträgen und Immobilienrenten zu vergessen.

Eine nach unseren Vorstellungen bereinigte Steuerpolitik wird auch die unzähligen Befreiungen der Unternehmen von Sozialabgaben streichen, die Beiträge der Unternehmer erhöhen und damit die Entwicklung sozialen Sicherung für alle und eines angemessenes Niveaus der Renten und Pensionen gewährleisten.

Schließlich hat das Finanzsystem seine soziale Schädlichkeit bewiesen. Die Banken und andere Finanzinstitutionen müssen enteignet, in den öffentlichen Bereich übertragen und unter die Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger gestellt werden.

Es ist auch notwendig, die Staatsschulden von einem Bürgerkomitee auf ihre Legitimität oder Illegitimität (was haben sie finanziert?) prüfen zu lassen.

Wir stellen diese Vorschläge zur Diskussion, um eine Liste von Forderungen festzulegen.

Pascal Franchet ist stellvertretender Vorsitzender von CADTM Frankreich.
Online veröffentlicht am 26. März 2010

Übersetzung und [Anmerkungen]: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Die vom Rassismus getränkten „Bonmots“ wie der Titel des Artikels in Le Monde vom 6. Februar 2010 „Das ‚schlechte’ Griechenland setzt den Euro unter Druck“ [ein Wortspiel im Französischen, da das „schlechte Griechenland“ wie das „schlechte Fett“ klingt, das man bei gesunder Ernährung meiden soll] oder das von der ultraliberalen Zeitung The Economist erfundene Akronym „PIGS“, auf englisch „Schweine“ (Portugal, Irland, Griechenland und Spanien).

[2] „Mit der Komplizenschaft von Goldman Sachs hat sie die Darstellung ihrer Konten verbessert; das ist es, was ihnen zur Last gelegt wird. Aber dieser Gewinn war marginal. Die beanstandeten Transaktionen aus dem Jahre 2001 hatten die griechische Verschuldung um 2,367 Mrd. Euro gesenkt, womit sie von 105,3 auf 103,7 % des BIP in dem betreffenden Zeitraum gedrückt wurde.“ https://fr.irefeurope.org/Publications/Articles/Le-masque-grec

[3] http://www.lexpansion.com/Services/imprimer.asp?idc=226849&pg=0

[4] AFP-Nachricht vom 4. März 2010

[5] Randall Wray: « Cessons de comparer le budget du gouvernement à celui d’un ménage », http://contreinfo.info/article.php3?id_article=2976

[6] Auf der Website der Amis de la terre: http://www.amisdelaterre.org/-Banque-europeenne-d-investissement.html

[7] Militärausgaben weltweit http://www.julg7.com

[8] Quelle: Nato, http://www.nato.int/docu/pr/2009/p09-009.pdf

[9] Siehe: Olivier Bonfond, Jérôme Duval, Damien Millet : Ouf, les Islandais ont dit non! http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article16684