Diese Analyse der Hintergründe der griechischen Finanzkrise und der Haltung der verschiedenen Kräfte zum massiven Sparprogramm erschien am 1. Mai 2010 in der griechischen Zeitschrift Spartakos.
Nikos Tamvaklis
Seit mehreren Monaten ist die ökonomische Krise auf unvorhergesehen gewaltsame Weise in die soziale und politische Realität Griechenlands eingedrungen. Genau zu einer Zeit, wo die internationalen Regierungskreise und Massenmedien systematisch Hoffnungen auf eine – und sei es schwache – Wiederbelebung der kapitalistischen Weltwirtschaft im Jahr 2010 verbreiteten, zeigte „das griechische Drama“ plötzlich, wie anfällig und labil diese in Wirklichkeit bleibt. Noch deutlicher erweist sich die absolute Herrschaft des Finanzkapitals, das die Richtlinien der Politik der Regierungen auf Basis seiner direkten Interessen diktiert, dadurch aber nur den blinden Kurs des Kapitalismus auf eine unkontrollierte Aufblähung der „Blase“ der Staatsverschuldungen und einer allgemeinen Weltwirtschaftskrise beschleunigt. Für die Rettung der Banken mussten von den Staatsbudgets in den beiden vergangenen Jahren unvorstellbare Summen aufgebracht werden, die insgesamt 25 % des weltweiten BSP, d. h. 14 Billionen Dollar, betrugen. Während die öffentlichen Einnahmen wegen der Rezession einbrachen, stieg die Staatsverschuldung besonders in der kapitalistischen Peripherie. Die entsprechenden Staaten erscheinen den Banken nun als zu unglaubwürdig, als dass sie Kredite zu niedrigen Zinssätzen erhalten könnten. In einem Kommentar heißt es treffend: „Nachdem das Finanz- und Kreditsystem seine Balance wiedererlangte, indem es sich die staatlichen Reserven einverleibte, wandte es sich um und fiel seinen Retter an.“ Im Fall Griechenlands verschärfte sich das Problem besonders, als im vergangenen Oktober die tatsächliche Höhe Staatsverschuldung „enthüllt“ wurde.
Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Eventualität eines Bankrotts eines so kleinen Lands wie Griechenland, das nur 2 % des europäischen BSP repräsentiert, in dramatischer Weise die Stabilität der Eurozone insgesamt bedroht. Damit erweist sich einerseits der Grad der gegenseitigen Durchdringung und Abhängigkeit der Wirtschaft in den Ländern der Eurozone, andererseits auch das Ausmaß ihrer ungleichen ökonomischen Entwicklung. Die Interessen der herrschenden Klassen der Länder der Eurozone sind zwar vom einheitlichen Markt der EU in derartigem Maß abhängig, dass der Austritt jedes ihrer Mitgliedsländer und daher sogar eines so kleinen wie Griechenland unmöglich geworden ist, da in einem solchen Fall unvorhersehbare Folgen für die Stabilität der übrigen Staaten zu befürchten wären. Dies gilt besonders für Deutschland, das wegen der Größenordnung seiner Wirtschaft, die 27 % des BSP der Eurozone umfasst, aber auch eine herausragende Rolle bei den führenden, technologisch fortgeschrittenen Großunternehmen und bei der technologischen Ausrüstung der EU-Länder insgesamt spielt. Andererseits führt das Nichtvorhandensein eines föderierten, aber geeinten bürgerlichen europäischen Staats, der die öffentlichen Finanzangelegenheiten zentral steuern könnte, dazu, dass sich die innereuropäischen kapitalistischen Widersprüche, die sich aus der ungleichen Entwicklung ergeben, verschärfen. Diese Zuspitzung der Gegensätze unter den Bedingungen der Krise verursacht einen zusätzlichen Aderlass und die Abwertung der schwächeren Volkswirtschaften. Die Verwirrung und die panikartige Reaktion des „Rette sich, wer kann“ dominiert, wenigstens vorläufig, in den Unternehmen und in den Kommandozentralen der europäischen Regierungen. Die ehrgeizigen langfristigen europäischen Perspektiven, wie die vollmundigen Erklärungen über die „Vision“ eines geeinten Europa mit einer Art bürgerlich-parlamentarischen Institutionen, scheinen sich buchstäblich in Luft aufzulösen. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Bundesstaats scheitert an der Struktur der EU selbst, in der keine geeinte Bourgeoisie mit starkem Bewusstsein ihrer gemeinsamen Interessen existiert.
Die durch die Krise verursachte Panik veranlasst die herrschenden Klassen der europäischen Länder daher, sich auf ihre eigenen, unmittelbaren Interessen und deren Absicherung zurückzuziehen, obwohl ihnen deutlich bewusst ist, dass die Aufgabe und der Zusammenbruch eines schwachen Kettenglieds fatale Folgen haben und ihre eigene Stabilität bedrohen können. Was von den europäischen Regierungen als einzige „Lösung“ vorgeschlagen wird, ist nichts anderes als ein beispielloser Angriff auf die Einkommen der abhängig Beschäftigten und die Errungenschaften des „Sozialstaats“. Die Regierungen ignorieren die sozialen Konsequenzen und garantieren die Bankenprofite. Breite Schichten werden im Namen der „Produktivität“ und der „Konkurrenzfähigkeit“ der nationalen Wirtschaft in Armut, Verelendung, Arbeitslosigkeit und ins soziale Abseits abgedrängt. Die Furcht vor einer allgemeinen Erhebung der Opfer dieser Politik beginnt bereits, in Europa bedrohlich umherzugehen. Neben der Ausrüstung der Repressionsorgane und der entsprechenden Gesetzgebung werden von der bürgerlichen Propaganda systematisch die nationalistischen und rassistischen Massenreflexe geschürt. Die Zentraleuropäer gegen die „faulen Schweine“ des Südens. Die Südeuropäer gegen die üblen Deutschen, deren DNAs nazistische Instinkte enthalten.
Die angeblich plötzliche Feststellung der Brüsseler Bürokratie, wie „unglaubwürdig“ die offiziellen statistischen Daten waren, die bis Oktober 2009 über die tatsächliche Höhe der Defizite (12,7 % des BSP statt 4 %, wie von der Nea-Dimokratia-Regierung behauptet) vorgelegt worden waren, in Kombination mit der relativ hohen Staatsverschuldung (123 % des BSP) gaben den Ratingagenturen den Vorwand, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Zweifellos sind weder die Höhe der Defizite bedeutender als in vielen anderen europäischen oder anderen entwickelten Ländern (z.B. England 13,1 %, Spanien 11,4 %, Frankreich 8,7 %) noch die Höhe der Staatsverschuldung (z. B. Japan 197 %, Italien 127 %), um von den absoluten zur Debatte stehenden Größen gar nicht zu reden, die im Fall Griechenlands im Vergleich zu den größeren Ländern unbedeutend sind. Die Ratingagenturen stellen, wie die Fachleute der bürgerlichen Presse zugeben, nichts anderes als die beauftragten Instrumente des Finanzkapitals selbst, d. h. der auf Profit spekulierenden Wucherer, dar. Die Herabstufung der Kreditwürdigkeit führte ihrerseits zum Anstieg der Kreditzinsen durch die berüchtigten Geld- und Kredit-„Märkte“. Die Wirtschaft des Landes geriet in den ausweglosen Kreislauf der ständig steigenden Staatsverschuldung und der Zinswucherei, die sie reproduziert.
Um der Sackgasse zu entkommen, wandte sich die PASOK-Regierung an die EU-Institutionen mit der Bitte um Unterstützung. Sie wollte der Verhängung von „Sanierungs-“Maßnahmen durch die Runde der EU-Führung zuvorkommen und verkündete am 3. März „die erste Serie von Maßnahmen“ eines „Stabilitätsprogramms“. Damit hoffte sie, die europäischen Führer gewogen zu stimmen und dazu zu bewegen, der griechischen Regierung einen Kredit mit einem „normalen“, nicht übertrieben hohen Zinssatz zu gewähren. Es zeigte sich aber, dass der „Unterstützungsmechanismus“, der nach Marathon-Verhandlungen und intensiven verbalen Auseinandersetzungen zustande kam und an dem der IWF beteiligt wurde, keinerlei Schutz vor dem Appetit der Bankwucherer bot. Die Erläuterungen der Regierungschefs zum „Unterstützungsmechanismus“ in der Telekonferenz vom 12. April bestätigten erneut die Herrschaft des Bankenkapitals und seiner neoliberalen Logik. Der Kreditzins des „Unterstützungsmechanismus“ orientiert sich an dem der „Märkte“ und den Abzahlungsbedingungen, die vom IWF aufgrund seiner „Sachkenntnis“ vorgegeben werden. Darüber hinaus bleibt das Funktionieren des Mechanismus unklar, da es an den Einwänden der deutschen Regierung hängen bleibt. Auf diese Weise fanden der Anstieg und die Differenzen der Wucherzinsen auf die jeweilige Staatsverschuldung, die „spread“, Eingang in unsere Alltagsrealität. Letztlich sind sie es, die die Höhe unserer Löhne und Renten, die Höhe der Mehrwertsteuer auf unverzichtbare Konsumgüter, die Einkommenssteuersätze, die die zur Verrentung notwendige Lebensarbeitszeit und die Anzahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten bestimmen.
Es ist sehr zweifelhaft, ob die Lohn- und Rentenkürzungen irgendwelche Auswirkungen auf die Höhe der Budgetdefizite und besonders der Staatsverschuldung haben werden. Klar ist aber, dass die Zerschlagung der letzten Bastion der Gewerkschaftsbewegung, die im öffentlichen Dienst und in den DEKO, den staatlichen Unternehmen, gehalten wird, die höchste Priorität der Maßnahmen der EU-Führung und des IWF darstellt. Außerdem wird immer deutlicher, dass diese Maßnahmen als Pilotprojekt für einen allgemeinen Angriff auf die arbeitende Bevölkerung zunächst – in absehbarer Zukunft – in den Ländern Südeuropas dienen.
Die ungeheure Wucht dieses Angriffs fegte auch die letzten Illusionen hinweg, die in all den letzten Jahren der Anwendung neoliberaler Politik in der öffentlichen Meinung Griechenlands gehegt wurden und vorherrschend waren. Es waren die Jahre, die von Beginn der 90er an vom Zusammenbruch der benachbarten stalinistischen Regime, dem ständigen Rückgang der organisierten Arbeiter/innen-Bewegung, dem schrittweisen Abbau des ohnehin blutarmen „Sozialstaats“ Griechenlands in den 80ern und von der ideologischen Vorherrschaft der neoliberalen Mythen gekennzeichnet waren – Auffassungen von der Allmacht und den „positiven Auswirkungen“ der Konkurrenz und der zeitlosen Blüte des Unternehmertums und der „Privatinitiative“. Das „starke Griechenland“, das unbezweifelbare EU-Mitglied mit seinen hohen Wachstumsraten, mit seinen dynamischen Investitionsaktivitäten auf dem balkanischen „Binnenmarkt“, mit seinem „nationalen Stolz“ auf die erfolgreiche Austragung der glänzenden Olympischen Spiele von 2004, steht, wie sich plötzlich herausstellt, auf tönernen Füßen. Es ist, kurz gesagt, der Schwachpunkt der Eurozone, die erste und leichteste Zielscheibe der im Hinterhalt lauernden „Spekulanten“. Gleichzeitig wurde es auch noch über einen langen Zeitraum von der europäischen Presse und den Fernsehkommentatoren wegen seiner geschönten offiziellen statistischen Daten, der weit verbreiteten Korruption und der Ineffizienz seines öffentlichen Dienstes, sogar wegen „der Faulheit seiner Bevölkerung“, die „systematisch über ihre Verhältnisse lebt“, verhöhnt.
Die plötzliche Verschärfung der Krise Griechenlands warf ein Licht nicht nur auf die Strukturschwächen des griechischen Kapitalismus, sondern auch auf die Rolle der Politiker und der Parteien des Landes, aber ebenso des europäischen politischen Systems, der Gewerkschaftsführungen und der Massenmedien. Die „verantwortlichen“ Politiker und die Arbeitgeber erlassen einen patriotischen Aufruf zur Rettung der Nation nach dem anderen und werden dabei von den Fanfarenstößen der Massenmedien unterstützt, ohne allerdings die Gründe für diese Krise benennen zu können oder auch nur auf die Suche nach ihnen zu gehen. Um schon gar nicht davon zu reden, dass sie es wagen würden, sich der Ausweglosigkeit des Kreislaufs der neoliberalen Politik ehrlich zu stellen.
Für Angela Merkel scheinen die Wahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen wichtiger zu sein als das Schicksal der europäischen Institutionen und die Perspektive der Einigung Europas. Die Brüsseler Bürokratie und die EU-Institutionen stellen nicht ohne Verwunderung fest, dass ihr „spezifisches Gewicht“ und ihre Möglichkeiten angesichts des Willens und der Entscheidungen ihres wirklichen Bosses – der deutschen Bourgeoisie – belanglos sind. Nachdem die herrschende Klasse Deutschlands zehn Jahre lang die Löhne und Renten der abhängig Beschäftigten eingefroren hat, fand sie nun die Gelegenheit, deren unterschwellige Wut und Verärgerung – wenigstens vorläufig – auf einen sich anbietenden fremden Sündenbock zu lenken, die „faule“ arbeitende Bevölkerung Griechenlands, die es nicht verdient, Mitglied der privilegierten Familie der Eurozone zu sein. Die zurückgebliebenen Nichtstuer Südeuropas drohen die Mühen und die Opfer der hart arbeitenden Deutschen zu untergraben! Die konservative Regierung Merkel weckte damit die schlimmsten Traditionen ausländerfeindlicher und rassistischer Massenmanipulation. Sie verschweigt geflissentlich, dass die Überschüsse in der deutschen Leistungsbilanz zum Teil auf den griechischen Defiziten beruhen, ebenso, dass die deutschen Investitionen in den Ländern der Eurozone wegen des einheitlichen Marktes in hohem Grad die Wirtschaft der übrigen Länder, und besonders die Südeuropas, bestimmen. Verschwiegen wird nicht nur, dass die arbeitende Bevölkerung Griechenlands keine Verantwortung für das Missmanagement des griechischen Staates trägt, sondern auch, dass die unmittelbaren Interessen des deutschen Kapitals mitverantwortlich für die weit verbreitete Korruption und die Ineffizienz des öffentlichen Sektors sind – wie der Siemens-Bestechungsskandal, die Daimler-Affäre und die Bestechungsgelder für Rüstungsimporte beweisen. Unterschlagen wird natürlich auch, dass die abhängig Beschäftigten Griechenlands nach den Koreaner/innen zu denen mit der höchsten Wochenarbeitszeit und gleichzeitig zu den am schlechtesten bezahlten in Europa gehören.
Die deutsche Regierung ist sich sicher bewusst, dass der Zusammenbruch eines Landes der Eurozone alle anderen Länder in den Sog aufeinanderfolgender ökonomischer Krisen hineinziehen kann. Ihre direkten Verbindungen zum Finanz- und Kreditkapital erlauben es ihr aber nicht, eine mittelfristige Strategie währungspolitischer Politik zu verfolgen, um dieser Gefahr zu begegnen. Auf diese Weise wird ihre beklagenswerte Unfähigkeit angesichts der Sackgasse offenbar. Die einfache Zuflucht, in der sie Heil sucht, d. h. der Entfachung rassistischer und ausländerfeindlicher Hysterie in breiteren Bevölkerungskreisen, ist besonders gefährlich und könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft als selbstzerstörerisch erweisen. Die entsprechende griechische Reaktion der Regierung sowie aller parlamentarischer Parteien vom rechtsradikalen LAOS bis zur KP Griechenlands war bislang darauf abgestimmt, die üblichen antiimperialistischen und patriotischen Reflexe zu fördern. Die unbezahlten deutschen Reparationen für die Zerstörungen und die deutsche Kriegsanleihe während des Zweiten Weltkriegs sowie die Erinnerungen an die Kriegsverbrechen in Distomo und Kalavryta werden wieder in die Diskussion gebracht. Die offenbare Schwäche, die Allianz und die Unterordnung der griechischen Bourgeoisie unter den ökonomischen Imperialismus des deutschen Kapitals lassen es aber nicht zu, dass diese Art von Reaktion die real bestehenden Probleme zur Sprache bringt und über einige auf den Augenblick beschränkte verbale Attacken hinausgeht.
Damit wird klar, dass der Entwurf einer unabhängigen internationalistischen Klassenpolitik für den Widerstand und das Überleben der arbeitenden Menschen absolut erforderlich ist. Der lohnabhängigen Bevölkerung Deutschlands kommt wegen ihrer entscheidenden Stellung in der mächtigsten europäischen Volkswirtschaft eine Schlüsselrolle für die Entwicklung einer solchen Klassenpolitik zu. Die Lohnabhängigen Griechenlands und der anderen europäischen Länder müssen alles dafür tun, diesen Prozess der Bewusstseinsbildung zu unterstützen. Ein Rückzug der griechischen Linken auf die zwecklose patriotische Rhetorik führt genau in die entgegengesetzte Richtung.
Die im griechischen Parlament vertretenen Parteien gaben unter dem Druck der Krise ihre Klassenorientierung sowie ihre Beschränkungen deutlicher als sonst zu erkennen. Die von der Regierung am 3. März bekanntgegebenen Maßnahmen bedeuten eine beispiellose Einkommenskürzung für die Lohnabhängigen und Pensionierten. Die Betroffenen sind immer noch von der Heftigkeit dieses Angriffs überrascht und werden in den kommenden Monaten schrittweise seine Folgen für ihr Alltagsleben und ihren Lebensstandard begreifen. Ihre Situation wird sich infolge verschiedener neuer Maßnahmen des „Stabilitätsprogramms“, etwa der Erhöhung der Mehrwertsteuer auf lebenswichtige Produkte und des Inkrafttretens des neuen Steuer- und Rentensystems weiter verschlechtern. Diese Einkommenskürzung der Lohnabhängigen wird auf bisher unbekannte Weise direkt und brutal, zulasten des Nominallohns und gleichzeitig der Kaufkraft durchgesetzt. Bis zur Einführung des Euro verursachten die ständige „gleitenden“ oder sogar abrupten Abwertungen der Drachme sicher auch Einbußen des Realeinkommens, aber auf indirektere Weise und dank der relativen Beharrlichkeit des Binnenmarktes sowie dadurch, dass die Lohnempfänger/innen durch den Druck des täglichen Klassenkampfs die Verluste ausgleichen konnten.
Die PASOK-Führung rückte plötzlich in den Mittelpunkt dieser Entwicklungen, deren Ausmaße sie nicht vorhersehen und im Rahmen ihrer politischen Gegebenheiten noch weniger abwenden konnte. Sie ergriff diese Maßnahmen am 3. März mit der unnachahmlichen Begründung, „die anderen würden sie uns aufzwingen, wenn wir sie nicht selbst ergreifen würden.“ Damit gab sie praktisch zu, dass die Regierung die nationale Souveränität verloren hat. Eine andere Politik zu entwerfen als die, die der IWF und die EZT diktieren würden, wäre für die PASOK-Führung schlicht unvorstellbar. Ihre Glaubwürdigkeit stützt sich bisher darauf, dass die breiten Bevölkerungsschichten überrascht wurden, sowie auf die ständige Präsentation des Images eines aktiven und nicht korrumpierbaren Ministerpräsidenten und auf das Fehlen von glaubwürdigen Alternativvorschlägen sowohl der rechten als auch der linken Opposition. Da die Regierung vorwiegend aus von der Parteibasis abgeschnittenen Technokrat/innen besteht, geht sie zur Anwendung des Maßnahmenkatalogs über, ohne wirklich ein Gefühl dafür zu haben, wie sich eine stumme Wut in der Gesellschaft aufstaut. Die Gewerkschaftsbürokratie von GSEE (des privaten Sektors) und ADEDY (des öffentlichen Dienstes), die vom Staat ausgehalten wird und eng mit der Regierung verbunden ist, tritt gewöhnlich in der Rolle des scharfen Kommentatoren der Regierungspolitik auf oder beschränkt sich darauf, die Trümmer des „Sozialstaats“ zu beklagen. Ihre tatsächliche Funktion, die bezahlte Vermittlung dafür, dass die Maßnahmen mit möglichst wenig sozialen Erschütterungen umgesetzt werden, wird in den Augen der Lohnabhängigen immer offenbarer. Die zeremoniellen Mobilisierungen, die sie bislang in die Wege leitete, beweisen ihre völlige Konzeptlosigkeit und ihr schwindendes Ansehen. Die Aktionen auf der Straße sind ohne Übertreibung vor allem auf den Einsatz der Basisorganisationen der Gewerkschaften und der außerparlamentarischen Linken zurückzuführen.
Die Massenmedien erzeugen systematisch ein Horrorklima vor der Eventualität des „Staatsbankrotts“ und propagieren unablässig die Notwendigkeit weiterer und noch härterer Maßnahmen, während die spread steigen. Die neoliberale Einbahnstraße, die einzig die Wucherzinse der Banken kurzfristig garantiert, wird von den Fernsehkommentatoren wie von Papageien als gegeben und unabänderlich hingestellt.
Der rechtsradikale LAOS trat als besonders eifriger Unterstützer des Stabilitätsprogramms in Erscheinung, verlangte seine sofortige Anwendung und Erweiterung und warnte vor dem bevorstehenden „Staatsbankrott“. Hinter der Maske des Populismus trat damit sein wahres Gesicht hervor, das des treuen und konsequenten Dieners und eventuellen Wachhunds der herrschenden Klasse. Die vulgäre Logik und die allgemeine Kritik am „korrupten System“, aber gleichzeitig auch die ständige Anprangerung des „gewerkschaftlichen Zunftwesens“, der Angestellten des öffentlichen Dienstes, der Errungenschaften des Sozialstaats, der „unerträglichen Situation mit den vielen Ausländern“ findet immer mehr Gehör in breiteren kleinbürgerlichen Schichten. LAOS hat sich damit als der gefährlichste Feind der organisierten Arbeiter/innen-Bewegung profiliert. Das antideutsche Klima, das in der Bevölkerung vorherrschte, ermöglichte es dem LAOS-Vorsitzenden Karatzaferis, einige Propagandalosungen zum Boykott der deutschen Konsumgüter auszugeben. Derartige Kampagnen, bei denen der Volkszorn etwas Luft ablassen kann, indem die Illusion irgendeiner Form von Widerstand erzeugt wird, gefährden in keiner Weise die Profite des Bankensektors.
Die Nea Dimokratia (ND), nun Hauptoppositionspartei der bürgerlichen Rechten, schafft es nicht, sich nach der Wahlniederlage vom vergangenen Oktober neu zu formieren, und schliddert immer weiter in eine tiefe innerparteiliche Krise. Die neue Samaras-Führung ist krampfhaft bemüht, wenigstens ansatzweise eine oppositionelle Linie vorzubringen. Die Beteiligung des IWF am „Rettungsmechanismus“ gibt Samaras den Vorwand, sich von der Regierungspolitik teilweise zu distanzieren. In Wirklichkeit gibt es keinerlei Differenzen, was die Substanz des Stabilitätsprogramms betrifft. ND bleibt weiter wegen der faktischen Aufgabe der öffentlichen Dienste (Gesundheit, Erziehung, Sozialversicherungen), des katastrophalen Missmanagements und der zahlreichen Skandale während ihrer Regierungszeit (2004-09) vom Volkszorn belastet. Andererseits hat Dora Bakoyianni, die bei der Präsidentenwahl von ND nach dem Rücktritt des Ex-Ministerpräsidenten K. Karamanlis den Kürzeren zog, die Partei eines bedeutenden Teils der griechischen Bourgeoisie ergriffen und sich für die Beteiligung des IWF ausgesprochen. Dora B. unterstützt die Garantie der Banken-Wucherzinsen auf „verantwortungsbewusste“ Weise, wie es sich für eine authentische Repräsentantin des Großkapitals gehört. Die Situation, in der die Samaras-Führung ihren Kurs zu bestimmen versucht, wird dadurch noch komplizierter. Die in der Partei ausgebrochene Verwirrung spiegelt anschaulich die allgemeine Situation, die Panik und die Dilemmata der herrschenden Klasse Griechenlands unter den Bedingungen der Krise wider.
Die stalinogene Linke offenbarte ihre zutiefst reformistische Orientierung sowie die Scheidelinie, die die Kursbestimmung der Parteien durchzieht. Diese Scheidelinie wird in den mehr oder weniger kurzsichtigen ökonomischen Analysen der linken Professoren und den gewohnten rhetorischen Anklagen des Neoliberalismus oder sogar des Kapitalismus insgesamt durch die linken Berufspolitiker deutlich, aber ganz besonders in der Frage des strategischen Vorschlags, die jetzt unausweichlich in den Vordergrund gerückt ist. Auf der einen Seite sind die die rechtsreformistischen „europafreundlichen“ Merkmale der SYN-Führung zu bemerken. Der Parteivorsitzende Tsipras scheint zusammen mit dem rechtsgerichteten „Erneuerer“-Flügel und dem größeren Teil des Parteiapparats, d. h. des sogenannten „linken Flügels“, eher um die Gefahren für die „europäischen Institutionen“ und die Perspektive Griechenlands in ihnen besorgt zu sein, die mit dem Eindringen des von Washington kontrollierten IWF in die Eurozone verbunden sind. Das Festhalten an der Idee vorgeblich über den Klassen schwebender demokratischer Institutionen der EU zu einem Zeitpunkt, an dem ihr autoritärer und an den Interessen der Herrschenden ausgerichteter Charakter in unzweideutiger Weise zu Tage tritt, unterstreicht, wie sehr die rechtsreformistische Linke vor den bestehenden Machtverhältnissen kapituliert hat. Ihr Zuspruch bei breiteren Bevölkerungsschichten geht ständig zurück. Ihr einziger Trost besteht darin, dass ihre „Glaubwürdigkeit“ und ihr Status als „verantwortungsbewusste“ politische Kraft von den Massenmedien wieder anerkannt werden.
Auf der anderen Seite findet die patriotische antieuropäische Haltung der KP Griechenlands (KKE) und eines Teils der linken Strömung des SYN, aber auch eines bedeutenden Teils der antikapitalistischen Linken, die auf die eine oder andere Weise die Chimäre einer nationalen „Volksökonomie“ außerhalb der EU anstreben, in Wirklichkeit keinen breiteren Widerhall, wenn man von den engeren von den Parteien beeinflussten Kreisen absieht. Die herrschende Klasse Griechenlands ist insgesamt völlig vom einheitlichen Markt der EU und ihrem Banken- und Kreditsystem abhängig. Es gibt in ihr keine „produktionsorientierte“ Fraktion, die an einer Ausstiegsstrategie interessiert wäre.
Es versteht sich von selbst, dass eine antikapitalistisch-revolutionäre Arbeiter/innen-Regierung, die zur Nationalisierung der Banken und zur Arbeiter/innen-Kontrolle der Unternehmen überginge, nicht nur automatisch von den bürgerlichen EU-Institutionen abgeschnitten wäre, sondern sich in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod mit ihnen befände. Ihr Überleben würde sich aber in erster Linie auf das politische Bewusstsein, die Kampfbereitschaft, die Mobilisierungsfähigkeit und die praktische Solidarität der arbeitenden Bevölkerung in den übrigen EU-Ländern stützen. Die Lohnabhängigen Griechenlands verstehen aus der eigenen Erfahrung des Alltagslebens die wirtschaftliche Verflechtung und Arbeitsteilung in Europa, die das Überleben einer national isolierten Wirtschaft problematisch macht. Solange die KKE und die Befürworter eines nationalen Auswegs diese neue Realität nicht wahrhaben wollen und ihren nationalpatriotischen Schablonen verhaftet bleiben, werden sie nur einige gegen die EU gerichtete Gewehrsalven in die Luft abfeuern.
Was die Tageskämpfe betrifft, ist die Sackgasse der von der KKE gesteuerten Gewerkschaftsfront PAME zu beobachten, die sich weigert, ihre Aktivitäten mit allen übrigen Streikenden und Protestierenden zu koordinieren und mit ihnen gemeinsam den Kampf zu führen. Diese Politik läuft darauf hinaus, die Gewerkschaften und die Arbeiter/innen-Klasse durch die Parteiorganisationen zu ersetzen bzw. zu „substituieren“, was absolut negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten einer Antwort und des Widerstands der Arbeiter/innen-Klasse insgesamt hat. Die antikapitalistischen Organisationen und Formationen, die im Rahmen der SYRIZA-Allianz aktiv sind, versuchen einen kämpferischen Ausweg durch die Gründung örtlicher Komitees gegen das Stabilitätsprogramm zu finden. Diese Initiative müsste aber viel breitere Kreise einbeziehen und ist von Anfang an mit dem Makel des kläglichen rechten oder linken Reformismus des SYN behaftet.
Die bedeutendste und hoffnungsvollste Entwicklung ist das Auftreten des Koordinationskomitees der Basisgewerkschaften unter dem Einfluss der antikapitalistisch-revolutionären Linken. Die dynamische Präsenz dieser Initiativen bei den Streik- und Protestveranstaltungen sind erste Anzeichen für die Wiedergeburt der kämpferischen Gewerkschaftsbewegung. Diese Neuformierung könnte sich als Brückenkopf für die Organisierung und Mobilisierung der großen Masse der nichtorganisierten Lohnabhängigen der Privatunternehmen, der Immigrant/innen, der Bauarbeiter, der in der Landwirtschaft und der Touristikbranche Beschäftigten erweisen. Die Gründung lokaler Komitees zur Verhinderung des Stabilitätsprogramms ist eine weitere richtige Orientierung, die noch durch die chronischen Schwächen der Bewegung, die kleinliche Rechthaberei, das Misstrauen und die Rivalitäten der verschiedenen kleineren Organisationen untereinander, gebremst ist.
Die Herausbildung eines Trägers der antikapitalistischen Linken, der im Zeichen der sich rasch verschärfenden Krise eine entscheidende, vorwärtsweisende Rolle in den Klassenkämpfen spielen könnte, ist derzeit noch nicht abzusehen. Die Formierung von ANTARSYA geht im Schildkrötentempo voran, während sich die sozialen und politischen Entwicklungen beschleunigen. Die beiden größten Organisationen von ANTARSYA zögern, die notwendigen entscheidenden Schritte im organisatorischen Bereich vorzunehmen. Dennoch erscheint die Propagierung einiger gezielter Übergangsforderungen, die die internationalistische Dimension der Arbeiter/innen-Solidarität und der Koordination der Kämpfe mit den europäischen Lohnabhängigen fördern und zur Förderung des politischen Bewusstseins beitragen könnten, heute sowohl notwendig als auch erfolgversprechend.
Übersetzung aus dem Griechischen: A. Kloke |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010) (nur online).