Europa

Austerität für ganz Europa

Martine Orange

Ein düsterer 1. Mai! Überall in Europa werden die Kundgebungen von einem Thema überschattet: den anstehenden Sparmaßnahmen und sozialen Einschnitten, die der Bevölkerung zugemutet werden sollen. Das Beispiel Griechenlands lässt erahnen, was bald auf ganz Europa zukommen könnte: eine Politik stetigen Sozialabbaus und durchgängiger Austerität.

Nachdem die griechische Regierung bereits die Löhne der öffentlich Beschäftigten eingefroren und einen Einstellungsstopp verfügt hat, die Steuern auf Benzin und Alkohol erhöht hat und sich anschickt, das Rentenalter anzuheben, fordern IWF und EU auf Druck Deutschlands weitere Restriktionen. Zusätzlich zu den bereits ergriffenen Maßnahmen sollen das 13. und 14. Monatsgehalt im Öffentlichen Dienst abgeschafft und das Rentenalter von 53 auf 67 Jahre angehoben werden sowie die Mehrwertsteuer und andere indirekte Steuern erhöht und alle öffentlichen Ausgaben reduziert werden. Durch diese gewollt drastischen Vorgaben soll die griechische Regierung gezwungen werden, das Staatsdefizit von 10 % des BIP bis 2012 zu reduzieren. Damit wird einem Land, dessen Wirtschaft ohnehin angeschlagen und frei von Inflation ist, eine Rosskur auferlegt.

Beruhigt durch diese knallharten Eingriffe des IWF atmen die Märkte auf. Ihre Erleichterung ist umso größer, als die europäischen Regierungen eine volle Woche lang durch die Panik auf den Finanzmärkten handlungsunfähig waren. Um nicht in die gleiche Zwangslage wie Griechenland zu geraten, üben sich alle in vorauseilendem Gehorsam und mimen den IWF, ohne dass dieser eingreifen müsste. Runter von den Defiziten, den Staatsausgaben und den sozialen Rechten! Ein Wettlauf um die härteste Sparpolitik, um ja nicht in die Schusslinie der Märkte zu geraten und durch Abstufung den Zugang zum Kapitalmarkt zu verlieren.

Bereits am Vorabend der Abstufung Portugals durch die Ratingagentur Standard & Poor’s schloss der „sozialistische“ Premierminister des Landes, Socrates, mit der größten Oppositionspartei des Landes – der rechtskonservativen Sozialdemokratischen Partei unter Pedro Passos Coelho – ein präventives Abkommen, um die Sparmaßnahmen besser durchsetzen zu können, mit denen die Investoren ruhig gestellt werden sollen. Nach gewohnter Rezeptur will die Regierung bis 2013 die Staatsverschuldung von 9,4 % auf 2,8 % des BIP herunterschrauben. Zu diesem Zweck sollen die öffentlichen Ausgaben derart drastisch gesenkt werden, dass allein darüber die Hälfte der vorgesehenen Einsparungen erzielt werden.

Mindestens drei Jahre lang sollen im öffentlichen Dienst die Löhne strikt eingefroren und keine Neueinstellungen vorgenommen werden. Die öffentlichen Investitionen sollen von 4,9 % des BIP auf 2,9 % gesenkt werden und der Militärhaushalt um 40 %. Privatisierungen sollen 6 Milliarden Euro bringen, hiervon 1,5 Mrd. im laufenden Jahr. Die Lohnsteuer soll erhöht werden, wobei die Steuermaßnahmen insgesamt jedoch nur 15 % des geplanten Volumens ausmachen.

Spanien – auch ein Land auf der Liste der gefährdeten Staaten – hatte bereits vor der griechischen Krise ein Sparprogramm zur Schuldenreduzierung angekündigt. Die Regierung will ihre Ausgaben innerhalb von drei Jahren um 50 Mrd. € senken. Dafür ist ein Einstellungsstopp im öD verfügt worden und eine Rentenreform in Vorbereitung, nach der das gesetzliche Rentenalter von 65 auf 67 Jahre steigen soll. Aber diese Maßnahmen reichen in den Augen der „Märkte“ noch nicht aus. Noch weigert sich die „sozialistische“ Regierung unter José Luis Zapatero angesichts einer Arbeitslosenrate von 20 % die Sparpolitik zu verschärfen. Aber der – bislang noch verhaltene – Druck dürfte zunehmen, wenn es bei dieser Weigerung bleibt.


Der Euro – ein Zwangskorsett


Die französische Regierung nimmt die Vorgänge um Griechenland und den Euro zum Vorwand, um die Rentenreform zu legitimieren und voran zu treiben. Das Triple A, nach der Frankreichs Kreditwürdigkeit firmiert, könnte rasch in Bedrohnis geraten, wenn das Land auf der Stelle tritt – so wird im Elysée gemunkelt. Premier Francois Fillon hat die Marschrichtung vorgegeben, als er darauf verwies, dass Europa ohne „steuerliche und soziale Harmonisierung“ nicht bestehen könne. Dies kann nur bedeuten, dass die Rente überall und für alle ab 67 nach deutschem Vorbild zur europäischen Norm geraten ist. Andererseits wird kein Wort über die steuerliche Entlastung (der Unternehmen), die Steueroasen oder gar über das 3 Mrd. schwere Steuergeschenk an Hotel- und Restaurantbesitzer – das sich in den Endpreisen so gut wie nicht niederschlägt – verloren. Die Sparmaßnahmen betreffen offensichtlich nur den Sozialsektor, statt dass die Einnahmeseite des Staates gestärkt würde.

Somit ist der Sozialabbau zum gemeinsamen Nenner der Europapolitik geworden. Unter der drückenden Last der Schulden im Gefolge der Krise, der sinkenden Steuereinnahmen und der Rettung des Finanzsektors bleibt den Regierungen keine andere Wahl, wenn sie sich weiterhin – wie in den vergangenen beiden Jahren – weigern, den Finanzsektor auch nur im Geringsten anzutasten. Dies gilt erst recht, solange die Steuerentlastungen für die Reichsten und Unternehmen, die die Staaten während der letzten 30 Jahre systematisch entkleidet haben, heilige Kühe bleiben.

Wenn all diese Parameter weiterhin Bestand haben, erweist sich der Euro als Zwangskorsett in Zeiten der Krise: Die Länder haben keine Möglichkeit, abzuwerten, an der Zinsschraube zu drehen oder sich der Inflation zu bedienen. Ihre einzige verbleibende Waffe ist die soziale Umstrukturierung als quasi interne Abwertung – ohne dies freilich so zu nennen.

Dies ist – nach Ansicht einiger Analysten – die Politik, wie sie von Deutschland seit 2002 im Rahmen der von allen politischen Parteien und Gewerkschaften unterstützten „Agenda 2010“ erfolgreich betrieben wird. Die deutsche Regierung verweist auf die Erfolge dieser Politik und verlangt fürderhin, dass die Anderen dieselbe Sparpolitik einschlagen sollen. Allerdings sind weder die strukturellen noch konjunkturellen Voraussetzungen vergleichbar. Zum einen hat Deutschland eine hochqualifizierte Industrie mit hoher Profitabilität und Exportausrichtung, was auf all die anderen europäischen Volkswirtschaften nicht zutrifft. Zum anderen folgte dieser Sozialabbau auf die starken Verwerfungen im Zuge der Wiedervereinigung, und er wurde während eines weltweiten wirtschaftlichen Aufschwungs durchgeführt. Dennoch waren die sozialen Kosten sehr hoch. Letztlich hat Deutschland doch davon profitiert, weil es das einzige Land war, das eine solche Politik betrieben hat. Seine Handelsüberschüsse wurden durch die Defizite in den restlichen europäischen Ländern, in die 75 % der Exporte flossen, unterhalten. Was würde passieren in Europa und auch in Deutschland, wenn die gesamte europäische Wirtschaft in die Deflation gezogen würde?

Tatsächlich wird diese Politik bereits seit einem Jahr in Irland, Litauen, Lettland, Rumänien und Ungarn mit oder ohne Zutun des IWF umgesetzt. Im Ergebnis hat bspw. die Regierung in Litauen sich trotz der Krise für die Anbindung der Landeswährung an den Euro entschieden, obwohl es gar nicht der Eurozone angehört. Im Gegenzug wurden die öffentlichen Ausgaben um 30 % gekürzt, desgleichen die Beamtengehälter und die Renten um 11 %. Die Mehrwertsteuer wurde von 18 % auf 21 % erhöht und der Steuersatz von 15 % auf 20 %.

In der Folge stieg die Arbeitslosigkeit von 10 % auf 14 % und die Wirtschaft schrumpfte um 15 %. Zwar hat die Wettbewerbsfähigkeit leicht zugenommen, aber die Wirtschaft steckt seit drei Jahren in der Rezession. Schulen, Krankenhäuser kommen aus Geldmangel nicht mehr über die Runden und mussten teils bereits schließen. Die Selbstmordrate steigt sprunghaft, desgleichen die Emigration. Für Island gilt das gleiche.


Laval neu aufgelegt?


Als Vollmitglied der Eurozone hat sich Irland im April 2009 zu einem beispiellosen Sparkurs durchgerungen, um der Krise und dem schwindelerregendem Anstieg seiner Verschuldung (12,5 % des BIP) zu trotzen. Auch dort zielten alle Bemühungen zunächst auf die öffentlichen Ausgaben. Die Beschäftigtenzahl wurde gesenkt – ebenso deren Gehälter (-7,5 %) und die Renten. Die Einkommenssteuer wurde durchgängig erhöht: 2 % auf die Mindestlöhne und 8 % auf die Spitzeneinkommen.

Auf der anderen Seite blieb die heilige Kuh der Nation selbstverständlich außen vor: die Unternehmenssteuer, durch die zahlreiche multinationale Konzerne geködert werden konnten, die ihrerseits quer durch Europa durch Bilanzverschiebungen organisierten Steuerhinterziehung betreiben. Die Unternehmenssteuer wurde also bei 12,5 % belassen, was die Fondsmanager mit dem freudigen Kommentar: „Irland macht es genau richtig!“ quittierten. Genau aus diesem Grund fassen die Finanzmärkte das Land trotz seiner prekären Finanzlage auch mit Samthandschuhen an.

Trotz aller Sparerlässe hat sich die Lage kaum gebessert. 2009 erlebte das Land eine Rekordrezession von 7,1 % des BIP. Dies dürfte auch im laufenden Jahr noch anhalten, wobei die Experten von einem Minus von wenigstens 1 % ausgehen. Auch dort kam es im Gefolge zu massiven Verwerfungen im Sozialsektor, einer sprunghaften Zunahme der Arbeitslosigkeit und zu Unmut in der Bevölkerung. Und der Staat musste erneut einer vom Konkurs bedrohten Bank zu Hilfe eilen – der Anglo Irish Bank, die wieder rekapitalisiert werden muss, nachdem sie 2009 erst verstaatlicht worden war. Laut Financial Times benötigt der irische Bankensektor 81 Mrd.  €, um seine vorwiegend aus der Immobilienblase stammenden toxischen Papiere los zu werden.

Auch Griechenland droht diese wirtschaftliche Abwärtsspirale. Mangels Absatzmärkten und Subventionen bricht die Wirtschaft ein, die Staatseinnahmen brechen weg und die Schulden wachsen überproportional in unerträgliche Höhen. Genau davor hat der Wirtschaftswissenschaftler Nouriel Roubini in der Financial Times vom 30.4.2010 gewarnt: „Durch den Plan A von IWF und EU zur Stützung Griechenlands drohen ein unkontrollierter Bankrott und eine Finanzkrise“. Besser wäre es seiner Meinung nach, Griechenland umzuschulden und die Staatshaushalte der peripheren Länder der EU (Irland, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien) allmählich anzupassen, flankiert von umfangreichen Beihilfen seitens EU und IWF, und dann die Zinsen zu senken und die Nachfrage in Deutschland anzukurbeln.

Sein Wort in Gottes Ohr! Momentan ist das, was Europa unter dem Diktat der Finanzmärkte predigt, nichts anderes als eine Verschärfung des Laval-Plans von 1935 (einer der wenigen ausgeglichenen Haushalte) auf europäischer Ebene. Um den Franc nicht weiter abzuwerten und die Goldbindung beizubehalten und somit die Kapitaleinkünfte zu wahren, verordnete dieser damals eine Senkung der Löhne und Renten um 10 %, Steuererhöhungen und Preissenkungen. Am Ende des Jahres 1935 war der Staatshaushalt ausgeglichen – so wie es heute denen vorschwebt, die ein Defizit qua Verfassung verbieten wollen – aber die französische Wirtschaft war völlig am Boden. Die Folgen sind bekannt. Nach Kriegsende bekannte Winston Churchill, dass das Ausbleiben von Konjunkturmaßnahmen infolge der damals herrschenden Finanzdogmata (fixe Währungsverhältnisse in Bezug auf den Goldstandard) einer der schlimmsten Fehler Europas in den 30er Jahren war.

Aus: A l’encontre
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 464/465 (Juli/August 2010).