Das Erdbeben vom 11. März in Japan löste das schlimmste Unglück in einem Atomkraftwerk seit Tschernobyl 1986 aus. Auch bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe war die Situation noch nicht unter Kontrolle. Wenige Tage nach Beginn der Katastrophe analysierte unser Ökologieexperte die Lage und benannte die dringendsten Forderungen.
Daniel Tanuro
Der Lage auf dem Gelände des Atomkraftwerks im japanischen Fukushima wird von Stunde zu Stunde ernster. Das Betriebspersonal scheint keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge mehr zu haben. Die Gefahr einer Katastrophe vom Ausmaß des Tschernobyl-Unglücks oder schlimmer nimmt zu.
Der Komplex von Fukushima-Daichi besteht aus sechs Atomreaktoren vom Siedewassertyp nach den Plänen von General Electric. Die Leistung dieser Reaktoren liegt zwischen 439 MW (Reaktor 1) und 1067 MW (Reaktor 6). Der Brennstoff im Reaktor Nr. 3 ist MOX (eine Mischung aus Oxiden von abgereichertem Uran und von Plutonium); die anderen arbeiten mit Uran. Die Inbetriebnahme erfolgte zwischen März 1971 und Oktober 1979. Es handelt sich also um sehr alte Anlagen, weit über zwanzig Jahre alt, die immer mehr Anzeichen von Verschleiß zeigen, was zu Störungen führt. Neben den Reaktoren gibt es am Standort auch Lager für feste Abfälle. Der Anlagenbetreiber Tepco gibt dazu bekanntlich keine vollständigen und zuverlässigen Informationen heraus.
Die Reaktoren 5 und 6 wurden vor dem Erdbeben heruntergefahren. Die Risiken dort scheinen begrenzt zu sein, aber am Dienstag, den 15. März wurde ein leichter Temperaturanstieg gemeldet. Doch die anderen vier Reaktoren waren von mehreren schweren Unfällen betroffen: vier Wasserstoffexplosionen, ein Feuer und drei partielle Kernschmelzen.
Die Probleme begannen im Reaktor Nr. 1. Es scheint, als sei am Dienstag, den 16. März, der Kern des Reaktors zu 70 % geschmolzen und der von Reaktor Nr. 2 zu 33 %; dies beruht auf Angaben des Anlagenbetreibers (New York Times, 15. März). Die Informationen über eine Kernschmelze im Reaktor Nr. 3 sind widersprüchlich, aber nach Angaben der japanischen Regierung ist der Druckbehälter dieser Anlage beschädigt (Kyodo News, 15. März). Nach Angaben der französischen Atomsicherheitsbehörde ASN "gibt es keinen Zweifel, dass in den Reaktoren Nr. 1 und Nr. 3 eine Kernschmelze begonnen hat und dies wohl auch im Reaktor Nr. 2 der Fall ist" (Le Monde, 16. März).
Der Druckbehälter des Reaktors Nr. 2 soll nicht mehr dicht sein (Le Monde, 15. März). Nach Angaben der IAEO gab es im Reaktor Nr. 4 eine Wasserstoffexplosion, auf die ein gewaltiges Feuer folgte. Auch hier soll der Druckbehälter beschädigt sein, aber der Reaktor wurde beim Tsunami heruntergefahren; daher soll die Gefahr eines Austritts von Radioaktivität geringer sein.
Auch die Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente sind von Unfällen betroffen. In diesen Einrichtungen müssen die Brennstäbe wie in den Reaktordruckbehältern ständig von einem Wasserstrom gekühlt werden. Da es nicht genug Wasser gibt, ist die Temperatur der Brennstäbe soweit gestiegen, dass sie den Rest der Flüssigkeit zum Sieden gebracht haben und der Überdruck sich einen Weg ins Freie gesucht hat (BBC News, 15. März).
Die heroischen Arbeiter sind dabei, ihr Leben zu opfern (wie die "Tschernobyl-Liquidatoren" vor ihnen), aber sie bekommen die Situation nicht unter Kontrolle. Es wurde versucht, die Reaktoren mit Meerwasser zu kühlen. Ein beispielloser und verzweifelter Versuch, bei dem die möglichen Folgen (aus der Tatsache, dass Meerwasser eine Vielzahl von Verbindungen enthält, die mit Anlagenteilen reagieren können) ignoriert werden. Fehlschlag. Die Temperatur ist in bestimmten Einrichtungen (insbesondere den Abklingbecken) so hoch, dass die Beschäftigten sich ihnen nicht nähern können. Versuche, Wasser über den Reaktoren vom Hubschrauber aus abzuwerfen, mussten aufgegeben werden: Die Radioaktivität ist zu hoch. Nach Angaben der japanischen Atomaufsichtsbehörde beträgt die Dosis (Gradmesser für Radioaktivität) am Werkstor 10 Millisievert pro Stunde (10 mSv/h); das ist in einer Stunde das Zehnfache des Werts, der für ein ganzes Jahr akzeptabel wäre.
Die Katastrophe von Tschernobyl scheint sich vor unseren Augen zu wiederholen. Das Ergebnis könnte noch schlimmer sein als in der Ukraine vor 25 Jahren. Denn im Falle einer vollständigen Kernschmelze des Reaktors Nr. 3 würde der Reaktordruckbehälter höchstwahrscheinlich brechen und sich der geschmolzene Brennstoff in den Sicherheitsbehälter ergießen, der dem nicht standhalten würde. Bei diesem alptraumhaften Szenario werden nicht nur die Isotope von Jod, Cäsium und selbst Uran in die Umwelt freigesetzt, sondern sogar Plutonium 239, das gefährlichste aller radioaktiven Elemente. Es entwickelt sich ein apokalyptisches Szenario des Todes in allen verstrahlten Bereichen, deren Ausmaß eine Funktion der Kraft und der Höhe ist, mit der die Partikel in die Umwelt freigesetzt werden ...
Auch wenn uns dies Szenario hoffentlich erspart bleibt, wäre die Bilanz schon schrecklich genug. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass das Schlimmstmögliche wirklich passieren könnte. Und daraus die Schlussfolgerung ziehen: vollständiger und schnellstmöglicher Ausstieg aus der Atomenergie. Ausstieg nicht nur aus der zivilen Atomenergienutzung, sondern auch aus der Atomrüstung (die beiden Sektoren sind unlösbar miteinander verknüpft). Mobilisieren wir massenhaft und weltweit für dieses Ziel! Geht auf die Straße, besetzt symbolische Orte, unterzeichnet Petitionen! Die Atomenergie ist unbeherrschbar. Zeigen wir unsere kategorische Ablehnung mit allen denkbaren Mitteln, individuell und kollektiv. Schaffen wir eine Welle der Empörung und des Entsetzens, um die Herrschenden zu zwingen, unserem Willen zu folgen. Es geht um unser Leben, um das Leben unserer Kinder und um das Leben überhaupt.
Man darf den Regierungen nicht vertrauen. Im schlimmsten Fall behaupten sie, dass die Ursache der Katastrophe von Fukushima – der seit über einem Jahrtausend heftigste Tsunami – "außergewöhnlich" sei, so einzigartig, dass man mit Erdbeben dieser Stärke in anderen Gebieten der Welt nicht rechnen müsse.
Es ist das Liedchen, das die französischen und britischen Befürworter des Atoms summen, und in das ihre politischen Freunde einstimmen.
Als könnten andere außergewöhnliche, also einzigartige Ursachen (Flugzeugabsturz, Terroranschlag, ...) nicht auch andere Katastrophen in anderen Teilen der Welt auslösen!
Im besten Fall werfen die Regierungen Ballast ab und kündigen eine Prüfung der Sicherheitsstandards, einen Investitionsstopp oder ein Moratorium für Entscheidungen über Laufzeitverlängerungen bestehender Anlagen oder sogar die Schließung der baufälligsten Anlagen an. Das ist die Linie, wie sie am spektakulärsten von Angela Merkel verfolgt wird, die in der Frage gerade eine Wende um 180 Grad vorgenommen hat. Die Gefahr ist groß, dass diese Linie in den meisten Fällen hauptsächlich die Bevölkerung einlullen wird, ohne die Atomenergie radikal in Frage zu stellen.
Denn der Kapitalismus kann kurzfristig auf die Atomenergie nicht einfach verzichten. Als durch und durch produktivistisches System kann er auf das Wachstum der materiellen Produktion nicht verzichten, was zu steigender Belastung der natürlichen Ressourcen führt. Es gibt reale Fortschritte bei der Effizienz der Nutzung dieser Ressourcen, die aber durch die absolute Zunahme der Produktion mehr als ausgeglichen werden. Angesichts der Gefahr des Klimawandels und angesichts der physischen und politischen Spannungen (die Revolutionen in der arabisch-muslimischen Welt!), die die Versorgung mit fossilen Brennstoffen belasten, ist die Energiefrage für dieses unersättliche System wirklich die Quadratur des Kreises.
Die einzig realistische Lösung ist letztlich, das Unmögliche zu wagen: die Perspektive einer Gesellschaft zu vertreten, die nicht für den Profit produziert, sondern für die Befriedigung der wirklichen (nicht vom Markt entfremdeten) menschlichen Bedürfnisse, unter demokratischer Kontrolle und sorgfältiger Beachtung der natürlichen Grenzen der Ökosysteme.
Eine Gesellschaft, in der die Grundbedürfnisse erfüllt sind, wird das menschliche Glück allein mit dem wirklich entscheidenden Maßstab messen: freie Zeit. Zeit zum Lieben, Spielen, Genießen, Träumen, Arbeiten, Schaffen, Lernen.
Der Weg zu dieser unerlässlichen Alternative führt nicht in erster Linie über das Umschwenken des Einzelnen zu einem (gleichwohl erforderlichen) umweltbewussten Verhalten, sondern durch gemeinsamen Kampf für gewiss ambitionierte, aber durchaus realisierbare politische Forderungen wie z. B.:
Allgemeine radikale Reduzierung der Arbeitszeit ohne Lohnverlust, mit entsprechenden Neueinstellungen und drastischer Reduzierung der Arbeitsgeschwindigkeit. Man muss weniger arbeiten; alle sollen arbeiten und weniger produzieren;
Abschaffung der nutzlosen oder schädlichen Produktion unglaublichen Ausmaßes, die entweder dazu dient, die Märkte künstlich aufzublähen (überflüssige Produkte) oder uns für das menschliche Elend unserer Existenz zu entschädigen, oder dazu dient, uns für Rebellion gegen dieses System zu bestrafen (Waffenproduktion) – mit Umschulung der in diesen Branchen beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter;
entschädigungslose Enteignung des Energie- und Finanzsektors. Energie ist ein Gemeingut der Menschheit. Ihre kollektive Rückeroberung unter Bruch mit den Imperativen des Profits ist die Voraussetzung für eine gerechte, effiziente und schnelle Energiewende hin zu erneuerbaren Quellen. Dieser Übergang erfordert andererseits erhebliche Ressourcen, was die Beschlagnahme des Vermögens von Banken, Versicherern und anderen parasitären Kapitalisten ausreichend rechtfertigt.
radikale Ausweitung des öffentlichen Sektors (kostenlose öffentliche Verkehrsmittel hoher Qualität, öffentliche Unternehmen zur Gebäudeisolierung etc.) und ebenso radikale Rücknahme der Waren- und Geldwirtschaft: kostenlose Versorgung mit Gütern des Grundbedarfs wie Wasser, Energie und Brot bis zu einem vernünftigen Verbrauchsniveau.
Der Kapitalismus ist ein System des Todes. Möge es Fukushima gelingen, unsere Sehnsucht nach einer ökosozialistischen Gesellschaft voranzubringen, einer Gesellschaft von Produzentinnen und Produzenten, die sich frei assoziieren, um unseren schönen Planeten, die Erde, umsichtig und respektvoll zu verwalten. Es gibt nur die eine.
17. März 2011 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 474/475 (Mai/Juni 2011).