Pakistan

Kriegsschauplatz Pakistan

Durch die kalte Hinrichtung von Osama Bin Laden auf Barack Obamas Befehl hat Pakistan wieder einmal in die Schlagzeilen der internationalen Aktualität gefunden. Einige haben gemeint, das Verschwinden des Führers von Al-Qaida würde nicht viel ändern. Das stimmt womöglich, wenn man an die arabische Welt denkt. Doch aus der Sicht von Washington und Islamabad handelt es sich keineswegs um eine Anekdote! Sie verschärft die Widersprüche, die in der pakistanischen Gesellschaft ohnehin am Werk sind. Sie beleuchtet die Interessenskonflikte, die das Bündnis mit den USA schwächen. Doch Pakistan ist ein Schlüsselbaustein der Geostrategie, die von den asiatischen früheren sowjetischen Republiken bis nach China reicht. Die Konsequenzen der „Operation Geronimo“ [1] werden sich nicht auf die Region beschränken.

Pierre Rousset

Dieser Artikel beschäftigt sich nur mit Pakistan; wir möchten dennoch einen kleinen Umweg in Richtung USA einschlagen. Die kalte Hinrichtung von Bin Laden gab Gelegenheit für eine breite politische Offensive mit dem Ziel, die Freiheit der Intervention des US-amerikanischen Imperialismus wiederherzustellen, der in den Augen der öffentlichen Meinung durch die Lügen und Skandale der Bush-Administration diskreditiert war. Es sollte gezielten Tötungen, der Kerkerhölle von Guantanamo (die Obama eigentlich schließen wollte), dem Einsatz der Folter (das Auffinden von Bin Laden soll durch Geständnisse, die durch fortgesetzte Folter erzwungen wurden, erleichtert worden sein), der direkten und geheimen Intervention auf fremden Territorien im Namen des nationalen Interesses und durch den Abschied von jeder Regel des Rechts und der Moral eine neue Legitimation verschafft werden. Alles spielte sich auf dem Hintergrund eines gesteigerten Nationalismus einer Großmacht ab. Diese ideologische Offensive ist umso verheerender, als sie von Obama angeführt wird, einem schwarzen und demokratischen Präsidenten, dessen Wahl zu Freudenstürmen bei vielen fortschrittlichen Menschen in den USA und weltweit geführt hatte.

Kommen wir auf Pakistan zurück. Die Bin-Laden-Affäre bestärkt das Bild eines Landes, dessen Bevölkerung Geißel von regionalen Konflikten ist – der Afghanistankrieg und der Konflikt mit Indien –, aber auch des islamischen Terrorismus, der Geheimdienste, der Armee und der geschäftstüchtigen Familienklans, sowie von ausländischem Druck und Interventionen (der USA, aber auch von Saudi-Arabien und anderen). Leider gibt es an diesem Bild viel Wahres und wir müssen das Warum zu verstehen suchen.

Ein wichtiger Hinweis: Pakistan ist ein besonders komplexes Land – wahrscheinlich mehr als die meisten anderen Länder. Aber schon in ziemlich „einfachen“ Fällen ist es niemals einfach, hinter dem Anschein die untergründigen Realitäten zu erfassen. Wie steht es um den Sunnismus? Das Universum der Stämme? Die Kultur der Urdu, Paschtu, Belutschi oder Hindi Sprechenden? Welches ist das besondere Zusammenspiel der Mächte in den verschiedenen Provinzen, die heute zu Pakistan gehören – und wie läuft es auf Bundesebene ab? Der Autor möchte hier nicht auf diese Fragen antworten. Dieser Artikel hält sich – sagen wir – an ein erstes Analyseniveau. Er verfolgt nur beschränkte Ziele: Diese Komplexität aufzuzeigen, die nationalen und internationalen Aspekte der gegenwärtigen Krise herauszuarbeiten und einige grundlegende Fragen zu stellen.

In der Tat zeigt die pakistanische Krise einige hochkritische Aspekte, vielleicht wegen den Bedingungen, die seiner Geburt vorausgingen (die Teilung des britischen Reichs der Indien 1947), der Versäumnisse der herrschenden Klassen und der historischen Schwäche der Linkskräfte. Das gilt beispielweise für die „Taliban“, die Nuklearisierung des Konflikts zwischen Indien und Pakistan, oder auch die aufeinander folgenden Sackgassen der imperialistischen Politik der USA. Man kann aus solchen kritischen Höhepunkten, deren Reichweite weit über diese Region hinausgeht und die uns alle interessieren, viel lernen.


Am Anfang stand der Krieg


Pakistan ist als Staat sehr spät (1947) geschaffen worden. Am Anfang standen die Bevölkerungsverschiebungen auf religiöser Grundlage anlässlich der „Teilung“ des britischen Reichs der Indien: es wurden etwa 17 Millionen Menschen auf die eine oder die andere Seite „verschoben“. Der neue Staat wurde in den Regionen des Nord-Ostens und Nord-Westens gegründet, wo die Muslime historisch in der Mehrheit waren. Außerdem kamen noch sieben Millionen Muslime aus anderen Regionen Indiens nach Pakistan – die Muhadschirin ("Auswanderer" [Anm. d. Red.]).

Seit der „Vivisektion“ von 1947 gibt es in Pakistan sehr wenige Hindus. Indien jedoch verfügt über eine beträchtliche muslimische Minderheit mit über 150 Millionen Menschen, fast ebenso viele wie Pakistan Einwohner hat. Sie stellen etwa 12 Prozent der indischen Bevölkerung dar.

Sicherlich kann man im heutigen Pakistan alte historische Wurzeln finden, vor allem in den bevölkerungsreichsten Provinzen Pandschab (in der Mitte) und Sindh (im Süden). Aber von allen großen asiatischen Ländern ist Pakistan dasjenige, dessen Grenzen am künstlichsten sind. Zu Beginn umfasste es zwei Landesteile, die weit auseinander lagen und durch Indien getrennt waren, einerseits das westliche Pakistan (das die politische Macht monopolisierte) und sodann das östliche Pakistan (dessen Bevölkerung größer war). Nach dem Krieg von 1971 hat sich dieser Teil abgespalten und unter dem Namen Bangladesch seine Unabhängigkeit erklärt.

Doch auch nach der Abtrennung von Bangladesch (eine zweite Teilung!) blieben die Grenzen Pakistans auf zweifache Weise künstlich; sie wurden auf der westlichen Seite durch den britischen Kolonialismus gezogen und auf der östlichen durch die Teilung von 1947 – im Norden waren sie durch die Kette des Himalaja gewissermaßen naturgegeben (auf der anderen Seite befindet sich China) und im Süden durch das arabische Meer. Auch der Name Pakistan (Land der Reinen) ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben von Pandschab, Afgania (Paschtunenprovinzen im NW des Landes), Kaschmir, Sindh und den drei letzten Buchstaben von Belutschistan.

Häufig gibt es eine stärkere gemeinsame historische Identität zwischen den Bevölkerungen auf der einen oder anderen Seite der Grenze als zwischen den verschiedenen Bevölkerungen der pakistanischen Provinzen: Paschtunen oder Pathanen gibt es im Nordwesten und in Afghanistan, Belutschen im Westen und im Iran, im Pandschab und Sindh und Indien im Osten oder Kaschmir im Norden. Die östlichen Provinzen sind vom britischen Kolonialismus tief geprägt worden, doch dies gilt für die westlichen Provinzen viel weniger: Die erstgenannten waren in die blutigen Auseinandersetzungen um die Teilung 1947 direkt verwickelt, doch für die westlichen Provinzen gilt dies nicht. Durch den Zustrom von Vertriebenen ergab sich nach der Teilung zusätzlich ein Mosaik von Bevölkerungsgruppen, die im zu gründenden Pakistan leben: die aus Indien eingewanderten Muslime, die Muhadschirin („Auswanderer“ [Anm. d. Red.]), haben sich gewissermaßen Karatschis bemächtigt und sich den Bewohnern des Sindh entfremdet.

Die Vereinigung Pakistans wurde nie vollendet und Irredentismus oder bewaffnete Bewegungen der nationalen Befreiung existieren seit vielen Jahren, so in Belutschistan, wo fünf Kriege stattfanden: 1947–1949, 1955, 1958–1969, 1973-1977 (8 000 Tote) und seit 2004. Seit seiner Gründung ist Pakistan also ein Land, in dem Krieg geführt wurde, das von inneren Konflikten durchzogen und von heftigen Grenzspannungen geprägt ist. Es steht auch im Zentrum wichtiger geostrategischer Ziele sowohl in Südasien als auch im Hinblick auf die großen Weltmächte.


Geostrategischer Kreuzungspunkt


Südasien umfasst sieben Staaten (sofern man Birma im Südosten dazurechnet); zwei sind Inseln (Sri Lanka und die Malediven) und zwei Himalaja-Staaten (Nepal und Bhutan) mit einer weniger großen Bevölkerungszahl. Den westlichen bzw. östlichen Rand bilden zwei der bevölkerungsreichsten Länder der Erde, nämlich Pakistan (über 180 Mio. Einwohner) mit seiner Hauptstadt Islamabad und Bangladesch (über 165 Mio.) mit der Hauptstadt Dhaka. Trotzdem wird der gesamte Subkontinent von einem Giganten dominiert, nämlich Indien mit seinen 1,2 Milliarden Menschen und der Hauptstadt Neu-Delhi. Wegen seiner Größe, der Bevölkerung, der Wirtschaft und seiner Armee ist Indien weit mächtiger als seine Nachbarn (auch wenn Pakistan ebenfalls über die Atombombe verfügt). Indien ist die Regionalmacht.

In dieser Region hat die Rivalität zwischen Indien und Pakistan immer (also seit Ende des 2. Weltkriegs) die politischen Entscheidungen der beiden Seiten bestimmt. So hat Islamabad die Regierung von Sri Lanka unterstützt, während Neu-Delhi die tamilischen „Befreiungstiger“ gegen das Regime in Colombo bewaffnete, das man als zu stark westlich orientiert ansah.

Im Übrigen liegt Pakistan geografisch an der Schwelle zwischen dem Nahen Osten, Zentralasien mit den früheren Sowjetrepubliken und Südasien. Im Osten hat es eine Grenze mit Indien, im Westen mit dem Iran und im Nordwesten mit Afghanistan. Kulturell stellt es eine Region der Begegnung zwischen dem iranischen und dem indischen Raum dar. Als muslimisches Land mit einer sunnitischen Mehrheit (75 %) und einer schiitischen Minderheit (20 %), bekommt es die Schläge der Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ab. Außerdem stellt der Hafen von Karatschi (der wichtigsten Industriestadt des Landes) den besten Umschlagsplatz für das Öl aus Zentralasien dar.

Schließlich stellte Pakistan zur Zeit des Kalten Krieges und des russisch-chinesischen Konflikts ein wichtiger Pfeiler der Geostrategie dar. Damals wurde Islamabad sowohl von Washington wie von Peking gegen Delhi unterstützt. Tatsächlich suchte das kapitalistische Indien die Hilfe Moskaus, um sich gegen die imperialistische Herrschaft zu schützen. Außerdem kam zum sowjetisch-chinesischen Konflikt noch der Konflikt zwischen China und Indien hinzu. Der Himalaja war und ist eine sehr sensible Zone. In seinen Höhen standen sich 1962 China und Indien bewaffnet gegenüber (wobei China den Sieg davontrug), weil es Grenzstreitigkeiten gab. Von Tibet über Nepal bis Bhutan ist die Kette des Himalajas ein Gebiet heftiger Kämpfe um Einfluss zwischen den beiden asiatischen Giganten.

Mittels Afghanistan und den islamistischen Bewegungen, die in der ganzen Region operieren, ist Pakistan auch in die Konflikte zwischen den Großmächten verwickelt, bei denen es um die Zukunft der früheren Sowjetrepubliken Mittelasiens geht – eine Region, die zwischen dem Kaspischen Meer und China liegt. Es geht vor allem um Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan (die alle an Afghanistan grenzen), sowie etwas nördlicher um Kirgisien, wo die USA ihre erste Militärbase in diesem Teil der Welt errichten konnten, die Base von Manas, die heute als Stützpunkt für die NATO-Truppen dient, die in „Afpak“ (Kunstwort aus Afghanistan und Pakistan) operieren.

Durch diese Entwicklungen wurde Pakistan zu einem Eckstein des großen Spiels zwischen Washington, Peking und Moskau, welches vom nordwestlichen Asien (Korea und Japan) bis nach Südasien (die Meerengen des Indischen Ozeans), von Mittelasien (die früheren Sowjetrepubliken) bis zum Nahen Osten (Iran) abläuft. Diesen Eckstein kann man heute umso weniger vernachlässigen, als er über Atomwaffen verfügt. Als strategischer Kreuzungspunkt liegt Pakistan im Mittelpunkt zahlreicher regionaler und internationaler Spannungen.

Die Kriege in Afghanistan binden das Ganze zusammen.


Von der indischen zur afghanischen Front


Lange Zeit lag die „heiße Grenze“ Pakistans im Osten (gegen Indien), teilweise auch im Nordosten, weil die Grenzziehung in Kaschmir unklar war, einem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Gebiet, über das Indien in erheblichem Maße bei der Teilung die Kontrolle behalten konnte (doch ein Teil befindet sich auf der pakistanischen Seite der Grenze). Indien verweigert den Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung, und es gibt dort eine Reihe von bewaffneten Gruppen, die mit Unterstützung aus Islamabad operieren, eine Situation, die als Rechtfertigung für den permanenten Kriegszustand zwischen den beiden Ländern hergenommen wird, der bisweilen zu offenen bewaffneten Konflikten geführt hat (es gab zwischen Indien und Pakistan seit 1947 bereits vier Kriege).

Auch wenn die wichtigsten bewaffneten Konfrontationen von Pakistan verloren wurden, so hat der permanente Kriegszustand mit Indien dem neuen Staat doch geholfen, seine Einheit durchzusetzen (allerdings konnte dies den Verlust von Bangladesch nicht verhindern). Die Armee und die Sicherheitsdienste (ISI [2]) konnten dadurch ihren Vorrang und ihre Allgegenwart rechtfertigen. Die Bewegungen für Autonomie und Unabhängigkeit, die demokratische Opposition und die Linke wurden im Namen des nationalen Interesses unterdrückt und als „fünfte Kolonne“ verteufelt.

Der Konflikt mit Indien hat es dem pakistanischen Staat (und besonders der pakistanischen Armee) also ermöglicht, ihre Legitimität zu begründen. Indien hat die nützliche Funktion eines „Erbfeindes“; die „Teilung“ von 1947 hat zu einem blutigen Bruch geführt, der seither sorgfältig gepflegt wird. Der Konflikt zwischen den beiden Ländern wird von den führenden Klassen und Eliten auf beiden Seiten instrumentalisiert. Man braucht sich daher nicht zu wundern, dass alle Versuche, Friedensprozesse in Gang zu bringen, versandet sind. Bis heute gibt es starke Spannungen zwischen den beiden Ländern, die durch Blutbäder verstärkt werden: der Hindu-Terrorismus gegen die muslimische (und christliche) Bevölkerung in Indien, der einheimische islamische Terrorismus in Indien oder von Pakistan manipuliert, wie dies 2008 beim mörderischen Angriff auf ein großes Hotel in Mumbai (Bombay) durch ein Selbstmordkommando der Fall war.

Doch mit dem heute von der NATO geführten Krieg in Afghanistan ist die Nordwestgrenze von Pakistan viel „heißer“ geworden als die Grenze zu Indien – mit beträchtlichen Veränderungen. Denn der gegenwärtige Konflikt betrifft nicht die „Erbfeinde“ – ganz im Gegenteil, in ihm stehen sich die Verbündeten von einst gegenüber: Washington und Islamabad haben beide die Entwicklung der islamistischen Bewegungen begünstigt, um das laizistische Regime der Volkspartei in Kabul und nach dem Einmarsch 1979 die Truppen der Sowjetunion zu bekämpfen. Im Gefolge des mörderischen Attentats vom 11. September 2001 gegen die Twin Towers von Manhattan und das Pentagon konnte die Regierung der USA leicht aus früheren Freunden Feinde machen. Für die pakistanischen Führer war dies nicht so einfach.

Angesichts der Bevölkerungsgröße und der geografischen Ausdehnung von Indien kann allein Afghanistan im Kriegsfall Pakistan eine „strategische Tiefe“ verschaffen, die es bräuchte, um die Truppen neu aufzustellen und zu reorganisieren. Dazu braucht es in Kabul ein Regime, das dem in Islamabad gewogen ist: dies waren die Taliban. Der sunnitische Fundamentalismus diente als ideologischer Zement für diese strategische Allianz, was dadurch erleichtert wurde, dass die paschtunischen Stämme auf beiden Seiten der (nur theoretisch bestehenden) internationalen Grenze leben.

Aus der afghanischen Frage wurde dadurch eine inner-pakistanische Frage. Die Lage in den beiden Ländern ist inzwischen so ineinander verwoben, dass man in den diplomatischen Kreisen bereits von „Afpak“ spricht. Und Washington betrachtet die beiden Länder inzwischen als eine Operationsbühne.

Der Konflikt mit Indien schließt den pakistanischen Staat zusammen, der Konflikt in und mit Afghanistan bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Durch die Intervention der NATO wurde aus der afghanischen Krise eine pakistanische Krise. Das zeigte sich 2009 im Swat-Tal, einer Hochburg der Taliban im Nordwesten. Inzwischen ist sie im Pandschab angekommen und destabilisiert das Land (und nährt gleichzeitig einen massiven Waffenhandel).

Pakistan krankt inzwischen an Afghanistan. Doch die Krise, die das Regime unterminiert, hat auch andere Wurzeln.


Eine neue geopolitische Instabilität


Die Zeit des Kalten Krieges, als die internationalen Bündnisse stabil und die Welt in zwei Lager aufgeteilt war, und gemäß dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ gehandelt wurde, ist längst zu Ende gegangen. Damals konnte Pakistan gleichzeitig auf die Hilfe von Washington und Peking bauen; und damals verfügte Islamabad über erheblichen Erpressungsspielraum gegenüber den Westmächten.

Seit den 1990er Jahren und der Implosion der UdSSR sind die strategischen Bündnisse in Südasien viel flüssiger geworden. Die Annäherung zwischen Washington und Neu-Delhi ist spektakulär, weil auch ein Abkommen über Atomwaffen erzielt und der Beitritt Indiens zur neoliberalen Weltordnung vereinbart wurde. Vor den Parlamentswahlen von 2009 brauchte die indische Regierung der Kongresspartei die Unterstützung des auf Bundesebene von der indischen Kommunistischen Partei-Marxisten (PCI-M) geführten Blocks als Mehrheitsbeschaffer, was der Linken gewisse Druckmöglichkeiten verschaffte. Nach der Wahlniederlage der KPI gilt dies nicht mehr. Nun hat Neu-Delhi freiere Hand für eine Annäherung an die USA.

Die pakistanische Militärführung versucht, die östliche Front (Indien) zugunsten der Westfront (Afghanistan) abzubauen. Aber die Taliban und andere fundamentalistische Strömungen verfügen nach wie vor über erheblichen Rückhalt in den Geheimdiensten. Denn die pakistanische Armee hat in der Afghanistanfrage immer ein doppeltes Spiel gespielt: Offiziell war sie gegen den „islamischen Terrorismus“ auf Seiten der NATO, hielt aber dennoch enge Beziehungen zu den Taliban und den anderen religiösen „extremistischen“ Strömungen aufrecht.

Aber von Seiten der USA betrachtet kann sich Islamabad nicht mehr alles erlauben: Nun ist es Washington, das auf Islamabad zunehmend Druck ausüben kann, was eine Fortsetzung der Politik des doppelten Spiels immer schwieriger macht. Während also die Intervention der USA in Afghanistan Pakistan destabilisiert und den „Antiamerikanismus“ verstärkt, fordert Washington von Pakistan ein deutlicheres Engagement gegen die Taliban. Für ihr Geld möchte die Regierung der USA Taten sehen, denn Islamabad erhält Manna in Form von Dollars für sein Engagement an der Front, und dieses Geld wiederum möchte die Armee nicht verlieren. So war die Offensive der pakistanischen Armee gegen die Taliban im Swat-Tal so groß wie keine vorher – es war alles andere als eine kosmetische Operation!

Doch die Affäre um Bin Laden hat einmal mehr bestätigt, dass das alles die pakistanischen Sicherheitsdienste nicht davon abhalten konnte, ihr doppeltes Spiel fortzusetzen und sich das Huhn, das goldene Eier legt, warm zu halten (den Chef von Al-Qaida, dessen Suche die Geldmittel der USA fließen ließ). Denn Abbottabad, eine Stadt in der Nähe von Islamabad, beherbergt die wichtigste Militärakademie des Landes! Aber die Ausdehnung des Krieges über das Swat-Tal hinaus bedrohte gleichzeitig das innere und das äußere Gleichgewicht.

Ab 2009 trat Pakistan in eine Phase wachsender Instabilität ein, und zwar sowohl wegen des regionalen Kontextes als auch der Rückwirkungen des Afghanistankrieges auf das Land.


Zwischen Armee und Taliban


Der Krieg im Swat hat illustriert, bis zu welchem Punkt die Bevölkerung zwischen dem Ambos der Fundamentalisten und dem Hammer der Militärs eingeklemmt war. Sie wurde von den Taliban einer theokratischen Diktatur unterworfen. Die Armee hat den Einwohnern befohlen, ihre Dörfer zu verlassen, um nicht Opfer der Kampfeshandlungen zu werden, bevor sie ihre Offensive startete. Doch die Flüchtlinge irrten auf den Straßen herum oder wurden bei unerträglicher Hitze (sie sind an die Kälte der Höhen gewöhnt) in Zeltsiedlungen abgeschoben, die oft ohne Trinkwasser, ohne sanitäre Einrichtungen und Verpflegung und ohne Bewachung waren. Insgesamt waren im ganzen Land wohl etwa 2,5 Mio. Menschen auf der Flucht, was zu einer riesigen humanitären Katastrophe führte.

Die gleiche Untätigkeit und Unfähigkeit zeigte sich in der neuen humanitären Krise, von der über 20 Mio. Menschen direkt betroffen waren, als es 2010 zu außergewöhnlich großen Überschwemmungen kam.

Dass eine „bürgerliche“ Armee eine solche Verachtung der Bevölkerung an den Tag legt, die sie eigentlich beschützen soll, kommt leider immer wieder vor. Doch in Pakistan geschah Schlimmeres. Seit der Gründung des Staates waren die Militärs über die meiste Zeit an der Macht. Das Offizierskorps profitierte davon und breitete sich dadurch in die Gesellschaft aus, als es sich Ländereien und Unternehmen unter den Nagel riss. Es dient nicht nur den herrschenden Klassen, es ist zu einem Teil dieser Klassen geworden. Es reproduziert die traditionelle Arroganz und die Verweigerung von Demokratie der Großgrundbesitzer und der oberen Kasten in einer Gesellschaft, die zu denen mit der größten Ungleichheit weltweit gehört.

Die pakistanische Armee bietet eine wirkliche Karikatur einer militärischen Einrichtung, doch dasselbe gilt auch für die Taliban als fundamentalistische Bewegung.

Es gibt Unterschiede je nach Region, aber insgesamt stellt Pakistan kein Land dar, das „natürlich“ von den „Bärtigen“ bevölkert ist und wo die Frauen unsichtbar wären. Die Männer tragen häufig nur einen stolzen Schnurrbart. Und wenn man die Frauen sich entscheiden lässt – eine von ihnen, nämlich Benazir Bhutto wurde immerhin Staatspräsidentin, bevor man sie dann ermordete –, dann tragen sie keinen Schleier oder höchstens ein leichtes Kopftuch, das die Haare, die Ohren, den Hals nicht verbirgt. Diejenigen unter ihnen, die Landarbeit verrichten (müssen), tragen ein dickeres Kopftuch als Schutz gegen Sonne und Regen. Die Durchsetzung von rigiden Verhaltensnormen hat nichts mit einem „muslimischen Menschsein“ zu tun; es geht hier um gesellschaftliche Gewalt. In der Religion (nicht nur im Islam!) dienen Verbote dazu, hierarchische, gesellschaftliche und patriarchale Strukturen abzusichern – und die Fundamentalisten treiben diesen Tatbestand nur auf die Spitze.

Es genügt nicht, ein Glaubensetikett aufzukleben („muslimisch“, „christlich“), um eine Bewegung zu definieren. Eine sich auf die Religion berufende Strömung, wie man es heute vorsichtig formuliert, kann sehr links sein (dies galt für die Befreiungstheologie in Lateinamerika, oder die Theologie des Kampfes auf den Philippinen), oder aber rechtsradikal (man nehme die Getreuen von George W. Bush in den USA). Man muss daher die politische Funktion von religiösen Bewegungen verstehen, sonst kann man sich bei Begriffen wie „gläubig“ oder „religiöse Bezüge“ gefährlich irren.

Dank der Untätigkeit des Regimes konnten sie eine gewisse gesellschaftliche Unterstützung bekommen – und dies umso mehr, als sie den Männern eine absolute Kontrolle über die Frauen garantieren. Die wegen des Swat-Krieges geflohenen Menschen prangerten im Allgemeinen den Terror der Taliban an (ohne notwendigerweise die Armee zu unterstützen), doch einige billigten die Rückkehr zur Scharia, um endlich einige lange schwelende Konflikte regeln zu können. Denn die pakistanische Justiz kümmert sich einen Dreck um diese Sachen (Erbrecht, Auseinandersetzungen um Ländereien usw.), sofern nur einfach Leute betroffen sind – und andernfalls entscheidet sie zugunsten der Besitzenden, der Einflussreichen, der Korrupten.

Heute bekämpfen die Taliban die USA. Sind sie deswegen fortschrittliche Antiimperialisten? Sie haben ihren Charakter seit der Zeit, als sie ein enger Verbündeter des pakistanischen Staates, der selbst mit den USA liiert war und ist, waren, überhaupt nicht geändert. Sie sind und bleiben Reaktionäre. Bündnisse werden geschlossen und gekündigt, doch von Pakistan aus gesehen haben die Taliban nicht einen Hauch von Fortschritt; dies galt seit jeher und gilt weiter. Sie setzen eine totalitäre und obskurantistische Macht durch, die sich in die neoliberale Weltordnung einfügt, obwohl sie die Vergangenheit ideologisch verklärt.

Die Feinde unserer Feinde sind nicht notwendig unsere Freunde. Aus der Sicht der Volksklassen gibt es in den Konflikten nicht immer nur zwei Seiten, ein „fortschrittliches“ und ein „reaktionäres“ Lager. Es können auch drei Seiten sein und sind es häufig, wenn sie z. B. zwei reaktionäre Lager bekämpfen. Wie man in solchen Fällen interveniert, ist eine Frage des Kräfteverhältnisses, das in Pakistan leider sehr ungünstig ist. Doch deswegen darf man sich nicht hinter die Armee stellen noch die Taliban unterstützen, wenn die Linkskräfte die Hoffnung haben wollen, das Kräfteverhältnis zu verbessern.


Die islamistische Büchse der Pandora


Die radikal-fundamentalistischen Bewegungen sind nicht nur eine Schöpfung der „afghanischen Kriege“, wiewohl die von Pakistan und den USA empfangene Hilfe gegen Moskau sehr bedeutsam war. Die Entwicklung der Taliban in Pakistan selbst wurde - vor allem in den 1970er und 1980er Jahren – durch den Generalstab und die wichtigsten Parteien begünstigt, die dadurch eine wirkliche Büchse der Pandora geöffnet haben.

Der pakistanische Staat entstand als muslimischer, aber nicht islamischer Staat. Zu behaupten, es gäbe im britischen Reich der Indien zwei Nationen auf religiöser Grundlage, um damit die Teilung zu rechtfertigen, setzte sicherlich eine Dynamik der „Säuberung“ in Gang. Doch der Bezug auf den Islam konnte kulturell zu verstehen sein – die behauptete Identität war die einer Kultur und nicht einer besonderen Religion – oder gar eine sektiererische Interpretation einer Religion. Am Anfang waren die großen Parteien laizistische Parteien. Die Gesetze hatten ihren Ursprung im britischen Recht – oder es wurde das Gewohnheitsrecht anerkannt. Die unvollendete Islamisierung des pakistanischen Staates wurde von oben durchgesetzt. Der Umschlag ereignete sich zu Ende der 1970er Jahre unter der Militärdiktatur von General Zia-ul-Haq.

Die vorherrschenden Klassen und Eliten, die Armee und die klientelistischen Parteien, haben mehrere Jahrzehnte lang jede auf ihre Art mit der Karte der Islamisierung des pakistanischen Staates und seiner Gesetze gespielt. In der ersten Zeit hat dies zu sehr scharfen Konflikten zwischen der sunnitischen und der schiitischen Glaubensrichtung geführt (in einigen Jahren gab es Hunderte von Toten). Tatsächlich stehen sich in den religiösen Konflikten verschiedene Strömungen des Islam gegenüber, auch wenn es häufig nicht günstig ist, einer religiösen Minderheit (Hinduismus, Christentum) anzugehören, zu der sich etwa drei Prozent der Bevölkerung bekennen, ohne die Ahmadiyya-Anhänger zu vergessen, die in Pakistan nicht als Muslime anerkannt werden – weil diese Minderheiten den Fundamentalisten häufig als Sündenböcke dienen.

In einem zweiten Zeitraum vermochten die Taliban – auf dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan – in Pakistan selbst aufzusteigen (bis heute ist es ihnen gelungen, sich nicht nur in den Gebieten der Paschtunen, sondern auch im Pandschab festzusetzen). Sie haben die guten Beziehungen zum Staatsapparat und die verbreitete Ablehnung der USA ausgenützt. Zeitweilig konnten sie sich auch einer gewissen Unterstützung oder zumindest wohlwollenden Toleranz der „öffentlichen Meinung“ versichern (also der Medien und der Mittelklassen). Doch ihre Aura als Kämpfer oder Opfer ist wegen ihrer extremen Brutalität verblasst: Sie haben Läden angezündet, weil dort Musik verkauft wurde, sie haben Mädchenschulen zerstört, sie haben – sogar auf einem Campus im Pandschab – Studentinnen Säure ins Gesicht geschüttet, weil sie keinen Schleier trugen, sie haben in kurzen Prozessen Leute abgeurteilt und die Hinrichtungen auch noch gefilmt und ins Netz gestellt, sie haben GegnerInnen erwürgt und sogar in der Hauptstadt blutige Entführungen und Attentate vorgenommen.

Im Februar 2009 versuchte die Regierung mit einem Flügel der Taliban zu einem Kompromiss zu kommen; sie hat dabei im Namen eines angeblichen Gewohnheitsrechtes im Swat-Tal den Einsatz der Scharia gebilligt – oder vielmehr eine reaktionäre Konzeption von „islamischer Justiz“. [3] Dann kam es zu einer raschen Folge von Ereignissen, die auf die pakistanische Öffentlichkeit einen massiven Einfluss hatten. Wie viele Kommentatoren es vorausgesagt hatten, erwies sich das Abkommen als Luftbuchung: Es kam nicht zur Feuereinstellung, sondern die Taliban drängten in die Nachbarprovinzen und ihre militärischen Einheiten drangen bis auf 100 km in Richtung Hauptstadt vor.

Im Übrigen ermöglichte die Verbreitung eines insgeheim gefilmten Videos im Internet eine Klarstellung, was der Einsatz der Scharia bedeutet. Es zeigte eine junge Frau, die wegen „schlechten Benehmens“ ausgepeitscht wurde. Ein religiöses Oberhaupt des Swat-Tals goss noch Öl ins Feuer, als er erklärte, eigentlich hätte das Opfer gesteinigt werden müssen. Das hat zu einer starken Emotionalisierung im Land und zu zahlreichen Frauendemonstrationen geführt.

Als dann im Swat-Tal unter solchen Bedingungen Militäroperationen durchgeführt wurden, konnten sich Regierung und Arme einer viel größeren Unterstützung von Seiten der Oppositionsparteien, der Medien, von intellektuellen Milieus, von NROs und fortschrittlichen Organisationen und auch der „öffentlichen Meinung“ in einem breiteren Sinn erfreuen, als das im Allgemeinen vorher der Fall gewesen war.


Der Teufelskreis des religiösen Sektierertums


Im Hinblick auf das religiöse Sektierertum verschlimmert sich die Lage zusehends. Im Gegensatz zu den weit verbreiteten Klischees sind es nicht die am wenigsten gebildeten Klassen, die die Agenten der Intoleranz und des religiösen Obskurantismus sind, auch wenn viele arme Familien ihre Kinder in Koranschulen geben (den Madrassen), weil es keine öffentlichen Schulen gibt. Die gebildeten „Mittelklassen“ können äußerst konservativ sein (das kann man gegenwärtig auch in Thailand beobachten). Davon zeugt auch die seit einiger Zeit erfolgende Verbreitung des Ganzkörperschleiers (obwohl man/frau damit keine Feldarbeit verrichten kann).

Wenn sie einmal losgetreten ist, dann kennt der Teufelskreis der religiösen Intoleranz keine Grenzen. Ein Gesetz von 1986 sieht für Blasphemie die Todesstrafe vor – daraus wurde ein Schulbeispiel. Wer nämlich dieses Gesetz kritisiert, begeht in den Augen der religiösen Tugendwächter – Blasphemie. So wurde am 4. Januar 2011 Salman Taseer, der mächtige Gouverneur der Provinz Pandschab und Mitglied der laizistischen Regierungspartei PPP [4] ermordet, weil er sich mutig für die Verteidigung einer christlichen Dorfbewohnerin namens Asia Bibi eingesetzt hatte, die wegen Blasphemie zum Tode durch den Strang verurteilt worden war.

Der Gouverneur wurde von einem seiner Leibwächter unter den Augen der anderen, die nicht eingegriffen haben, umgebracht. Der religiöse Radikalismus ist in den gesamten Staatsapparat eingedrungen. Was noch wichtiger ist, der Mörder ist ein Sufi, und der Sufismus wird als eine tolerante und spirituelle Richtung des Islam angesehen. Die Anwälte gehören auch dieser Richtung an und sie argumentieren, man könne sie nicht des Extremismus anklagen, denn Sufis seien per definitionem tolerant. Im Übrigen sagen sie, ihr Klient sei nicht schuldig, denn nicht er habe Salman Taseer getötet, sondern Allah. Müssen also die Richter Allah verurteilen?

Dass die Sufi-Gemeinschaft unter anderen öffentlich den Mörder lobt und aus ihm einen Helden des Islam macht, sagt einiges über die Zersetzung der pakistanischen Gesellschaft aus. Nur vier Monate nach Salman Taseer wurde Shahbaz Bhatti ermordet, der einzige Christ im Kabinett und Minister für Minderheiten.

Die Hälfte der wegen Blasphemie verurteilten Menschen gehört der kleinen christlichen Minderheit an. Doch das Übel frisst sich in alle Milieus und gibt die Möglichkeit, alte Rechnungen zu begleichen. So wurde ein Arzt ins Gefängnis geschickt, weil er die Visitenkarte eines Pharmareferenten in den Papierkorb geworfen hatte - und der hieß Mohammed. Oder ein junger Schiit, dessen Motorrad bei einem Unfall an ein Mohammed geweihtes Denkmal stieß. Er besaß den doppelten Nachteil, ein Schiit und ein Fischer zu sein, der sich mit einem Nachbarklan um die Fischereirechte in einem See stritt. Noch während er sich im Gefängnis befand, wurde er auf brutale Weise ermordet.

Über tausend Menschen wurden wegen Blasphemie angeklagt – eine Anschuldigung, die einen gesellschaftlichen Ausschluss und eine Flucht in den Untergrund nach sich zieht, selbst wenn es gar nicht zu einer gerichtlichen Verurteilung kommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der nächste religiös begründete Mord geschieht, an einer Persönlichkeit, die sich diesem Terrorgesetz entgegenstellt: die Abgeordnete Sherry Rehman – die der Innenminister angeblich nicht schützen kann.


Zwischen Militärdiktaturen und korrupter Demokratie


In Pakistan gibt es keinen Staat, der über eine demokratische Legitimation verfügte. Die meiste Zeit herrschten Militärdiktaturen im Land, zwischen denen kurze parlamentarische Zwischenspiele stattfanden. „Parlamentarisch“ bedeutet keineswegs „demokratisch“ – der Unterschied ist bedeutungsvoll. Die Zivilregierungen wurden von klientelistischen, korrupten und der Geschäftswelt verpflichteten Parteien gestellt. Den Militärs wurde es leicht gemacht, den Parlamentarismus zugunsten von bestimmten Privatinteressen als Politik zugunsten der „politischen Klans“, die „die 22 großen Familien“ vertreten, die das Land beherrschen, anzuprangern. Und die Parteien hatten leichtes Spiel, die Militärs als unfähig hinzustellen, auf Dauer den Staat zu lenken. Durch seine Untätigkeit hat der Generalstab es erreicht, dass Militärregime abgelehnt werden. Durch ihre Raffsucht haben es die „großen Familien“ erreicht, dass die parlamentarischen Regime abgelehnt werden. Beide haben die Korruption immer weiter ausgedehnt. Daraus ergab sich der Wechsel zwischen einer direkten Machtausübung durch die Armee und dem „direkten Zugriff“ der Zivilen mittels Parlament – ein Wechsel, der beide Seiten gegenseitig schwächte; danach befand sich das Land schließlich in einer tiefen Legitimitätskrise.

Das Bündnis von Islamabad mit Washington hat diesen Zustand nur verschlimmert. Von Pakistan aus gesehen verfügen auch die USA über keine demokratische Legitimität. Sie haben die schlimmsten Diktaturen unterstützt und die übelste Korruption gedeckt. Sie haben Afghanistan in einen endlosen Krieg gestürzt. Sie entschuldigen sich auch nicht für die häufigen militärischen „Fehlleistungen“ oder „Kollateralschäden“, die in der Zivilbevölkerung, die in der Nähe der afghanischen Grenze lebt, zu einer immer höheren Zahl von Opfern geführt haben. Bush hat das Feuer des „Kampfes der Kulturen“ angefacht, indem er urbi et orbi verkündet hat, sein christlicher Gott sei für die Entsendung von US-amerikanischen Truppen in muslimische Länder – und dies geschah dann auch noch auf dem Hintergrund von Lügengebäuden wie im Irak. Trotz seines vorsichtigeren Stils hat Barak Obama Afpak zu einem wichtigen Thema seiner Präsidentschaft gemacht, und er schaut mit Argusaugen auf die pakistanische Politik. Er ordnete die flagranteste Verletzung der pakistanischen Souveränität an, indem er Kommandos losschickte, um Osama Bin Laden umzubringen.

Die massive Finanzhilfe, die die USA Pakistan nach dem 11. September 2001 haben zukommen lassen, hat die Lage der PakistanerInnen nicht verbessert. Im Gegenteil, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) durchgesetzte neoliberale Wirtschaftspolitik hat dazu beigetragen, die gesellschaftliche Krise zu verschärfen.


Eine fragmentierte Staatsmacht


Pakistan scheint ein Land zu sein, das von einer Armee strukturiert wird, die in der Gesellschaft kampiert und den Staat kontrolliert. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich eine weitgehend fragmentierte Staatsmacht.

Wegen ihrer Allgegenwart und ihrer zentralen Rolle in der Politik hätte die Armee jenseits der regionalen Unterschiede ein Mittel der Integration und der Zusammenführung von Eliten sein können. Solches hat sich nicht ereignet. Das Offizierskorps wird von Pandschabis kontrolliert und bleibt es auch weiterhin. Die pakistanische Volkspartei (PPP), die zu einer bestimmten Zeit die Hoffnungen der fortschrittlichen Kräfte auf sich zog und der es gelang, im ganzen Land solidarische Strukturen aufzubauen, wurde vom Bhutto-Klan privatisiert (der aus dem Sindh stammt, aber über beträchtlichen Einfluss auch im Pandschab verfügt). Inzwischen ist sie eine Klientelpartei unter anderen. Islamismus und Fundamentalismus haben die Bevölkerung nicht nur nicht zusammengeführt, sondern die Konflikte verschärft. Die Sonderinteressen der Herrschenden haben sich überall durchgesetzt, und das bisweilen sogar zum Schaden der kollektiven Interessen der führenden Klassen und der Eliten – ein Kollektivinteresse der Besitzenden, das keine politische Kraft je vertreten hat, nachdem der Elan der Gründerzeit von Pakistan einmal verpufft war.

Die Privatisierung der Staatsmacht hat zu einer Fragmentierung zwischen den großen Familien, den Fraktionen des Militärs und den kommunitären Strukturen geführt. Auf der Grundlage des Kräfteverhältnisses und der „Gebräuche“ fällt die Anwendung der Gesetze je nach Ort durchaus unterschiedlich aus – und keineswegs immer so, wie es die „Herren“ vor Ort möchten. In der Politik braucht man große Geldmittel, um ein Mandat zu bekommen, und solch ein „business“ muss sich rentieren. Die Korruption ist daher in den Augen der Besitzenden das (legitime) Mittel, diese Rentabilität zu sichern. Die Allianzen ändern sich je nach den Interessen jedes Klans oder jedes Stammesrates. Alle bedienen sie ihre Klientel.

Die Konflikte laufen gleichzeitig auf mehreren Ebenen ab: Sektenkriege zwischen Anhängern muslimischer Strömungen, Gewaltakte zwischen verschiedenen Gemeinschaften (Muhadschirin gegen Sindhis, Sindhis gegen Pandschabis, Muslime gegen Christen usw.), Morde zwischen verschiedenen rivalisierenden politischen Klans, Blutrache zwischen Stämmen, die Armee gegen BürgerInnen, Besitzende gegen Ausgebeutete, patriarchale Herrscher gegen Frauen usw. Hinter einem scheinbar einfachen Konflikt auf politischer oder religiöser Grundlage verstecken sich häufig viel tiefere und komplexere. So geben die Taliban z. B. vor, sich am weltweiten Dschihad zu beteiligen, doch die betroffenen paschtunischen Stämme im Nordwesten Pakistans sind in sehr lokale Machtkämpfe verwickelt, was zu sich rasch ändernden Allianzen zwischen Klans führt.

Ein Konflikt kann „strukturierend“ sein und stabile politische Kräftekoalitionen und auf Dauer ausgerichtete politische Projekte hervorbringen. Dies gilt für das heutige Pakistan nicht. Tatsächlich ist es der pakistanische Staat insgesamt, bei dem das Risiko besteht, dass er morgen auseinander zu fallen beginnt. Wir möchten daran erinnern, dass es sich hier um einen Staat handelt, der über Atomwaffen verfügt!


Neue geostrategische Gegebenheiten?


Die „Operation Geronimo“ hat in Pakistan zu einem politischen Sturm und einem ersten mörderischen Attentat geführt. Doch bis heute gab es wenige Mobilisierungen der Bevölkerung (die Empörung ist weniger lebhaft als nach der Freilassung von David Ramond, einem CIA-Agenten, der mitten am Tag in Lahore zwei Pakistanis niedergeschossen hatte). Die Regierung wird gleichzeitig angeklagt, zugelassen zu haben, dass die USA die Souveränität des Landes verletzten, und Bin Laden beschützt zu haben, oder aber nicht zu wissen, was die Geheimdienste so alles tun. Die politische Krise ist tief, doch scheint es mir schwierig zu sein, ihren Ausgang vorhersagen zu wollen. Mehr denn je ist Pakistan ein Schlüssel im geopolitischen Spiel, an dem zahlreiche Akteure teilnehmen.

Die USA brauchen eine politische Lösung für den Afghanistankrieg – also ein Abkommen mit Teilen der Taliban, das man schwerlich durchsetzen kann, wenn die pakistanischen Geheimdienste (die heute im Hinblick auf solche Verhandlungen noch Mullah Omar beschützen) nicht mit im Boot sind. Doch ist die Definition des „guten Talibans“ nicht notwendiger Weise die gleiche. Für Islamabad muss ein guter Taliban ausschließlich in Afghanistan kämpfen und nicht gegen den pakistanischen Staat – aber das dringendste Problem für Washington betrifft genau jene Gruppen, die es auf die NATO-Streitkräfte abgesehen haben.

Islamabad möchte in keinem Fall in Kabul eine Regierung akzeptieren, die gute Beziehungen zu Neu-Delhi unterhält – doch Indien hat seine Aktivitäten in Afghanistan von Jahr zu Jahr verstärkt. Dies hat die gegenwärtige Krise beschleunigt, denn die pakistanischen Regierungsbehörden hatten wohl das Gefühl, dass hinter ihrem Rücken Verhandlungen über Afghanistan stattfanden, um zu einem Abkommen zu kommen, bei dem sie keine Rolle spielten.

      
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Pierre Rousset: Ein historisch gescheiterter Staat, Inprekorr Nr. 464/465 (Juli/August 2010)
Tariq Ali und Farooq Tariq: Aufruf zur Hilfe im Kampf gegen die Taliban und die Operationen des pakistanischen Militärs, Inprekorr Nr. 452/453 (Juli/August 2009)
Tariq Ali: Steht Pakistan kurz vor einem Angriff seitens der USA?, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
 

Schließlich hat Peking eigene Karten und unterstützte in der Affäre um Bin Laden Islamabad bedingungslos. In Pakistan gibt es bereits Kräfte, die zu einer Veränderung bei den Bündnissen aufrufen, um die Möglichkeit der Erpressung gegen Washington wiedergewinnen zu können: Wenn man drohte, sich ausschließlich auf China zu stützen, hätte das seine Wirkung, weil das Gewicht des Freundes in Asien beständig zunimmt; dann könnte man die imperialistische Arroganz der USA anprangern.

Sicherlich möchte die Regierung der PPP nicht mit Washington brechen, denn ohne dessen Hilfe würde sie stürzen; auch die Regierung Obama möchte die Lage nicht weiter anheizen. Doch sie sind nicht die einzigen Spieler am Tisch.

In diesem Schachspiel (oder Go oder Poker), das um das afghanisch-pakistanische Operationsfeld geführt wird, sind die betroffenen Bevölkerungen die großen Abwesenden. Doch sie kämpfen auch ...

Solche Kämpfe gab es auf Seiten der Ziegeleiarbeiter, die im Hinterland sklavenähnlichen Bedingungen unterworfen sind, oder bei den Textilarbeitern im Wirtschaftszentrum Faisalabad. Es sind die Bauern des Pandschabs oder die Fischer des Sindh, die gegen die militärischen Einrichtungen kämpfen. Es sind die Frauen, die tagtäglich Widerstand gegen eine uralte patriarchale Unterdrückung leisten – oder aber auch gegen den mächtigen Aufstieg des religiösen Fundamentalismus. Es sind die fortschrittlichen Kräfte aller Richtungen, die versuchen, die demokratischen und die Menschenrechte zu verteidigen.

Diese Kämpfe des einfachen Volkes kommen in den Schlagzeilen der internationalen Medien nur selten vor. Das macht sie nicht weniger wichtig. Nachdem wir den „Kriegsschauplatz Pakistan“ behandelt haben, müssten wir sie in einem Artikel mit dem Titel „Kampfschauplatz Pakistan“ ehren.

Pierre Rousset ist Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale und der Neuen Antikapitalistischen Partei Frankreichs (NPA). Er arbeitet im Netzwerk Europe solidaire sans frontières (Solidarisches Europa ohne Grenzen, ESSF) mit, dessen Website eine wahre Fundgrube für die internationale Aktualität ist. (www.europe-solidaire.org)

Übersetzung: Paul B. Kleiser



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4/2011 (Juli/August 2011).


[1] Der Apachenkrieger Geronimo wurde am 16. Juni 1829 geboren und starb am 17. Februar 1909 im Gefängnis. Bei seiner Geburt wurde er Go Khla Yeh (der Gähnende) genannt; er kämpfte in Mexiko und den USA. Das Weiße Haus hat diesen Namen Geronimo an Osama Bin Laden vergeben, eine bezeichnende Namengebung, aus der eine tiefe Verachtung einer der wichtigsten Gestalten des indianischen Widerstandes gegen die europäische Landnahme Nordamerikas spricht. Sie zeigt aber auch eine sowohl unfreiwillige wie unverdiente Ehrung für Bin Laden.

[2] Inter-Services Intelligence, die wichtigste und mächtigste der drei pakistanischen Geheimdienstorganisationen. Sie hängt eigentlich von der Regierung ab, stellt aber einen Staat im Staate dar.

[3] Dieser Punkt ist mir wichtig. Der Begriff „Scharia“ ist sehr vage und für viele Interpretationen offen. Für viele Muslime handelt es sich um ein spirituelles Konzept, eine Richtschnur für den persönlichen Weg, und nicht um einen rigiden juristischen Codex. Es hat verschiedene Einflüsse bei der Ausarbeitung der Rechtsprechung gegeben, je nach Land und Rechtsschule. Das muslimische Recht ist veränderlich und kein unbewegliches, „heiliges“ Recht. Was man häufig als Anwendung der Scharia ansieht, stellt tatsächlich eine äußerst reaktionäre Interpretation des muslimischen Rechtes dar.

[4] Pakistanische Volkspartei.