Kurdistan/Syrien

Rojava – eine Region in Selbstverwaltung

Der Journalist und Aktivist der Kampagne „Tatort Kurdistan“ Nick Brauns bereiste kürzlich Rojava. Im Norden Syriens an den Grenzen zur Türkei und zum Irak gelegen ist Rojava ein befreites Gebiet, in dem Volksräte unter politischem Einfluss der Partei der Demokratischen Union (PYD) die Macht übernommen haben.

Interview mit Nick Brauns

 Frage: Wie groß ist das befreite Gebiet Rojava?

Nick Brauns: Das lässt sich derzeit noch nicht so genau bestimmen, weil ja noch alles im Fluss ist: Krieg und Revolution, Flucht und Rückkehr dauern an. Vor dem Krieg lebten ca. 3 Millionen KurdInnen in Syrien, davon Hunderttausende auch in Damaskus und Aleppo. Unter der Kontrolle von Volksräten und Volksverteidigungseinheiten sind heute die kurdischen Hauptsiedlungsgebiete in den drei Enklaven Afrin nördlich von Aleppo, Kobai (Ain al Arab) und das an den Irak grenzende Jazeera. Zwischen diesen Enklaven werden viele, vor allem arabische Dörfer noch von Dschihadisten der Al-Qaida-Verbände des „Islamischen Staates im Irak und Syrien“ (ISIS) und der al-Nusra-Front besetzt gehalten. In Qamishlo, der mit über 200 000 Einwohnern größten Stadt in Rojava, herrscht derzeit eine Art von Doppelmacht zwischen dem Volksrat und der formal weiter bestehenden Stadtverwaltung der Ba‘ath-Partei. Regimetruppen kontrollieren dort auch den Flughafen. Ein gewaltsames Vorgehen gegen diese letzten Stützpunkte von Assads Ba’ath-Partei [1] in Rojava lehnt die Rätebewegung ab, um keine Luftangriffe zu provozieren.

 Maßgeblichen Einfluss hat dort die PYD. Wie ist sie entstanden?
 

Die Lage in Syrien hat sich in der letzten Zeit verändert. Das Regime der Ba‘ath-Partei konnte militärisch wieder in die Offensive gehen. Aufseiten der Aufständischen verschoben sich die Kräfte von der Freien Syrischen Armee (FSA) hin zu den Islamisten. Die Kommandostruktur der FSA besteht seit einem Jahr zu zwei Dritteln aus Mitgliedern der Muslimbruderschaft. Am 22.11.2013 sind starke Kräfte um die Liwa al-Tawhid aus der FSA ausgetreten und haben die Islamische Front gegründet. Sie ist mindestens so stark wie die Rest-FSA und strebt einen islamischen Staat an. Daneben gibt es u.a. die Dschihadisten der ISIS und der al-Nusra-Front, die wie die Islamische Front massiv von Katar und Saudi-Arabien aufgerüstet werden. Die politische Revolution und damit die Massenbewegung gegen das Ba‘ath-Regime stützte sich seit März 2011 auf Komitees zur Mobilisierung und zur Organisierung des täglichen Lebens. Doch nur in Rojava („Westkurdistan“) gelang es einer revolutionären Partei, dem Selbstverwaltungsprozess einen linken, emanzipatorischen, politischen und militärischen Ausdruck zu verleihen. In anderen Landesteilen z. B. in der Provinzhauptstadt Raqqah stehen sich Selbstverwaltungskomitees und die militärische Macht der djhadistischen ISIS gegenüber, die einen islamischen Staat errichten will – während Assads Militär mit Scud-Raketen ganze Stadtteile zerstört. Komitees oder Kalifat? Die Antwort könnte für die Revolution in Syrien entscheidend werden.

P. Berens

Die Partei der Demokratischen Einheit wurde im Jahr 2003 im Untergrund von syrisch-kurdischen Anhängern des in der Türkei inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, gegründet. Öcalan lebte ja fast 20 Jahre im syrischen Exil und die PKK diente Präsident Hafis al-Assad als Druckmittel auf die Türkei. Nach der durch türkische Kriegsdrohungen gegen Syrien erzwungenen Flucht Öcalans 1998 setzte eine scharfe Verfolgung der PKK-Anhänger in Syrien ein. In dieser Situation wurde die PYD gegründet, um die Rechte der KurdInnen in Syrien zu verteidigen. Die PYD bezeichnet ihre Politik als demokratisch-sozialistisch und tritt für eine auf rätedemokratischen Kommunen und wirtschaftlichen Kooperativen beruhende Selbstverwaltung der KurdInnen und der anderen in Rojava lebenden Volksgruppen ein. Die PYD sieht sich als Teil der Revolution in Syrien und gehört dem aus linken und säkularen Parteien gebildeten oppositionellen „Nationalen Koordinationskomitee für einen Demokratischen Wandel“ an, das jede ausländische Intervention, die Militarisierung des Aufstandes und eine ethnisch-religiös motivierte Spaltung Syriens ablehnt.

 Wie konnte ein revolutionärer Prozess unter linkem Vorzeichen in Rojava siegen?

Das ist nicht ohne eine langjährige Vorbereitung erklärbar. Im März 2004 schlugen die Sicherheitskräfte des Regimes in Qamishlo einen durch Angriffe arabischer Nationalisten provozierten kurdischen Aufstand blutig nieder, es gab Dutzende Tote. Damals begann die PYD im Untergrund mit dem Aufbau bewaffneter Selbstverteidigungskräfte. Als es dann im Frühjahr 2011 zu Protesten gegen das Ba‘ath-Regime kam, beschloss die PYD, sich weder auf die Seite des Ba‘ath-Regimes noch auf die Seite der vom Westen und den Golfmonarchien unterstützten Opposition um den von den Moslembrüdern dominierten Syrischen Nationalrat und die Freie Syrische Armee zu stellen. Denn beide Seiten waren nicht bereit, das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen zu akzeptieren.

Stattdessen trat die PYD für einen „Dritten Weg“, den der demokratischen Selbstverwaltung ein. Sie bildete zu Beginn des syrischen Aufstandes Komitees zum Schutz und zur Versorgung der Bevölkerung. Aus den bestehenden Selbstverteidigungsgruppen wurden die Volksverteidigungseinheiten YPG, die Verstärkung durch Hunderte in Rojava geborene ehemalige PKK-Guerillas erhielten, die nun in ihre Heimat zurückkehrten. Im Juli letzten Jahres drohten die Kämpfe zwischen der FSA und dem Regime auf Rojava überzugreifen, von wo die Armee ihre schweren Waffen in andere Landesteile verlagert hatte. Am 19. Juli umzingelte die Bevölkerung gemeinsam mit bewaffneten YPG-KämpferInnen Regierungsgebäude und Polizeiwachen und zwang die Ba‘ath-Beamten zur Abgabe ihrer Waffen. Die Revolution begann in Kobani und erfasste eine Stadt nach der anderen. Fast überall verlief die Machtübernahme unblutig. Aus den bestehenden Komitees bildeten sich Volksräte, die die Kontrolle über die Städte übernahmen.

 Wie gestaltet sich die Selbstverwaltung der Räte?

Die Räte reichen von den rund 25 Personen umfassenden „Kommunen“ als Basiseinheit über Stadtviertel und Stadträte bis zum mehrere Hundert Delegierte umfassenden Volksrat von Westkurdistan. In den Räten vertreten sind ethnische und religiöse Minderheiten, Frauen- und Jugendvereinigungen und berufsständische Gruppen. Außer der PYD unterstützen auch einige kleinere sozialdemokratische, kommunistische und liberale Parteien die Räte. Es gibt Kommissionen für soziale Dienstleistungen, Justiz, Verteidigung, Bildung und Ökonomie. Die Räte kontrollieren die städtische Infrastruktur, sie kümmern sich um die Müllbeseitigung und Energieversorgung. Volksbäckereien sollen die Versorgung der unter den Folgen eines Embargos leidenden Bevölkerung sicherstellen und Gesundheitsstationen bieten kostenlose ärztliche Betreuung an. Direkt den Räten unterstellt ist die Asayis, eine unbezahlt tätige Polizeimiliz, die Sicherheitsaufgaben vor allem in den Städten wahrnimmt. Bekanntheit unter der Bevölkerung und politische Erfahrung sind Voraussetzungen für den Beitritt zu dieser Miliz, deren Mitglieder in der Altersspanne zwischen 18 und über 60 Jahren auch eine Menschenrechtsschulung zum Umgang mit Gefangenen erhalten. Es gibt eine eigene an die Räte angebundene Gerichtsbarkeit mit Berufsjuristen, die ein alternatives Rechtssystem zur bisherigen Justiz der Ba‘ath-Partei ausarbeiten. Doch die meisten vor allem familiär bedingten Streitfälle werden von Schlichtungskommissionen außergerichtlich geklärt. Die wenigen in Rojava vorhandenen Fabriken etwa zur Olivenölproduktion wurden nun in Kooperativen mit gewählten Vorgesetzten umgewandelt. 60 Prozent der syrischen Petroleum-Ölquellen werden derzeit von den YPG geschützt. Unter Kontrolle der Volksräte wird weiter Öl gefördert und raffiniert. Volkstankstellen bieten billiges Benzin an, Familien von YPG- und Asayis-Mitgliedern erhalten kostenlose Heiz- und Brennstoffe.

 Wie hat sich die Lage der Frauen verändert?

Frauen sind sichtbar die treibende Kraft der Revolution. In den Räten gilt eine Geschlechterquote von 40 Prozent, eine Doppelspitze ist in allen Gremien einschließlich der Polizeiführung und der PYD-Vorstände selbstverständlich. Selbst in den bewaffneten Einheiten machen Frauen weit über ein Drittel der KämpferInnen aus. Es gibt eigene Frauenverteidigungskräfte YPJ, die den YPG angeschlossen sind, und eine autonome Frauenmiliz innerhalb der Polizei. Der Kampf um die Befreiung der Frauen in Rojava muss vor dem Hintergrund einer religiös geprägten Gesellschaft und repressiver Familienstrukturen gesehen werden. Doch heute müssen sich prügelnde Männer vor Kommissionen der Volksräte schriftlich verpflichten, in Zukunft auf Gewalt gegenüber Frauen zu verzichten. Frauenschulungszentren in Qamishlo und anderen Städten bilden Frauen nicht nur in praktischen Tätigkeiten wie Computernutzung aus, sondern informieren sie auch über ihre Rechte und stehen ihnen im Falle von häuslicher Gewalt oder einer Ehescheidung bei.

 Wie sieht die Situation der nationalen und religiösen Minderheiten aus?

Rojava ist – wie Syrien insgesamt – ein Bevölkerungsmosaik. Außer der kurdischen Mehrheit leben dort AraberInnen. Dies sind sowohl immer schon dort vertretene arabische Stämme als auch in den letzten Jahrzehnten im Zuge einer Arabisierungspolitik vom Regime angesiedelte Wehrbauern. Außerdem gibt es Minderheiten wie Assyrer, Aramäer, Chaldäer und Armenier, die sich nicht nur als ChristInnen begreifen, sondern als Völker mit eigener Sprache und mehrere Tausend Jahre alter Geschichte. Anfangs standen die nichtkurdischen Volksgruppen der Rätebewegung skeptisch gegenüber. Doch inzwischen beteiligen sie sich daran. Unter den AraberInnen gibt es allerdings auch SympathisantInnen des Regimes und Stämme, die mit Al Qaida zusammenarbeiten. Hier liegt ein Gefahrenpotenzial für einen von einigen Kräften gewünschten kurdisch-arabischen Bruderkrieg.

Assyrer in Qamishlo haben mit dem Aufbau einer eigenen Miliz zum Schutz der christlichen Stadtviertel begonnen, die YPG leistet Ausbildungshilfe. [2] Unter den KurdInnen gibt es außer sunnitischen Muslimen noch Ezidi. Angehörige dieser monotheistischen Religionsgemeinschaft werden von Islamisten als angebliche „Teufelsanbeter“ verfolgt und immer wieder massakriert. Unter dem Schutz der Volksräte können die Ezidi jetzt erstmals öffentlich ihre Feste feiern. Die YPG, in deren Reihe mittlerweile auch zahlreiche AraberInnen kämpfen, versteht sich nicht als kurdische, sondern als multiethnische Verteidigungskraft aller Völker Rojavas. Im Innenhof einer von der YPG von djihadistsichen Besetzern befreiten Kirche in Serekaniye lautet ein Schriftzug an der Wand jetzt: „YPG – Beschützerin der religiösen Stätten“.

 Rojava ist eigentlich eine reiche Region, aber weitgehend blockiert?

Das fruchtbare landwirtschaftlich geprägte Rojava gilt als Kornkammer Syriens. Zudem finden sich dort die einzigen Ölquellen des Landes. Doch Rojava unterliegt einem mehrfachen Embargo durch die Dschihadisten und die FSA im Landesinneren sowie durch die Türkei und die kurdische Autonomieregierung im Nordirak an den Außengrenzen. Es fehlt an wichtigen Medikamenten, die Säuglingssterblichkeit ist aufgrund fehlenden Milchpulvers angestiegen. Agrarerzeugnisse können aufgrund fehlender Maschinen oft nicht weiterverarbeitet werden. Not und Arbeitslosigkeit als Folgen des Embargos waren ein Hauptgrund für eine massive Fluchtwelle von Zehntausenden KurdInnen aus Rojava in den Nordirak im August 2013.

Zwar konnten Tausende Dschihadisten, die im Nordosten Syriens ein islamisches Emirat errichten und die Ölquellen erobern wollen, ungehindert selbst mit Panzern über die türkische Grenze nach Rojava einzudringen versuchen. Doch gleichzeitig lässt Ankara nur eine Handvoll humanitäre Transporte durch und verhindert Handel. So soll verhindert werden, dass sich eine kurdische Selbstverwaltungszone unter maßgeblichen Einfluss einer PKK-Schwesterpartei entlang der türkischen Grenze etabliert, die dem kurdischen Aufstand in der Türkei Auftrieb geben könnte. Im Oktober hat die Türkei an mehreren Stellen mit dem Bau einer Mauer entlang der Grenze begonnen. Die Stadt Nusaybin wird so von ihrer Schwesterstadt Qamishlo getrennt. Viele Familien haben Angehörige auf beiden Seiten dieser nach dem Ersten Weltkrieg durch die damalige Mandatsmacht Frankreich künstlich gezogenen Grenze. Auch der einzige Grenzübergang zwischen der kurdischen Autonomieregion im Nordirak und Rojava bei Semalka am Tigris ist für Hilfsgüter und Handel gesperrt. Hier lagern seit Monaten tonnenweise Medikamente sowie Generatoren, die von der kurdischen Regionalregierung nicht nach Rojava gelassen werden.

 Wieso beteiligt sich die kurdische Regionalregierung von Präsident Massoud Barzani im Nordirak an den Maßnahmen gegen die Revolution in Rojava?

Während viele KurdInnen immer wieder eine „kurdische Einheit“ beschwören, gehen die Differenzen zwischen Barzani und der PYD auf Klassendifferenzen und unterschiedliche Systemvorstellungen zurück und eben nicht auf bloße Führungsstreitigkeiten. Barzani ist durch Ölgeschäfte eng mit der türkischen Regierung verbunden. Im eigenen Land hat er ein auf Petrodollars beruhendes korruptes Feudalregime errichtet. Gigantische Einkaufsmalls und luxuriöse Gated Communities schießen dort aus dem Boden, während die Zahl der sogenannten Ehrenmorde und Gewaltakte gegen Frauen in den letzten Jahren um ein Vielfaches zugenommen haben.

Die KurdInnen in Rojava wollen dagegen mehrheitlich einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg gehen und führen einen aktiven Kampf gegen rückständige Feudalstrukturen in Familie und Gesellschaft. So wird in Rojava Großgrundbesitz kurdischer Aghas, den das Ba‘ath-Regime im Zuge von Arabisierungsmaßnahmen enteignet hatte, nicht mehr an die alten EigentümerInnen zurückzugeben, sondern in Kooperativen weiter bewirtschaftet.

Barzani wirft der PYD vor, mit dem Ba‘ath-Regime zu kooperieren und andere Parteien zu unterdrücken. In Wirklichkeit unterhalten diese meist nationalistisch geprägten und von Barzani finanzierten Parteien wie die El-Partei und ihre zahlreichen Abspaltungen Büros in Rojava. Doch sie verfügen über kaum eine Verankerung, weil sie außer beim Fahnenschwenken auf Demonstrationen passiv bleiben und sich nicht an den Räten und der Verteidigung gegen die Islamisten beteiligen. Ihre Führer wie der El-Partei-Vorsitzende Abdul Hakim Baschar leben teilweise bis heute in Luxushotels in Erbil [Irak] und setzten darauf, durch Verhandlungen mit der syrischen Auslandsopposition oder in Folge eines westlichen Militäreinmarsches an die Macht zu kommen. Die eng mit der türkischen Regierung arbeitende Azadi-Partei von Mustafa Cuma hat sich mehrfach an Angriffen und sogar Massakern der al-Nusra-Front auf kurdische Orte beteiligt und in Amude aus einer Demonstration heraus das Feuer auf YPG-KämpferInnen eröffnet. In solchen Fällen gehen die Asayis natürlich auch ihrerseits repressiv vor.

 Hat Rojava eine Chance gegenüber Dschihadisten, dem Militär-Regime Assads und dem drohenden Einmarsch der Türkei?

Gegen die Dschihadisten kann die auf inzwischen rund 45 000 Kämpferinnen und Kämpfer angewachsene YPG bislang bestehen. In den letzten Monaten wurden Dutzende Dörfer aus der Hand der oft militärisch nicht besonders gut ausgebildeten Dschihadisten befreit und sogar ein strategisch zur Durchbrechung des Embargos wichtiger Grenzübergang in den Irak erobert. Doch militärisch ließe sich Rojava als ein aus drei Enklaven bestehender Streifen mit Hunderten Kilometern Grenze zur Türkei, ohne Berge oder sonstige Rückzugsmöglichkeiten für eine Guerilla, nicht gegen eine reguläre Armee halten. Die PKK hat aber angekündigt, im Falle eines türkischen Überfalls werde der derzeitige Waffenstillstand mit der türkischen Regierung beendet und Rojava auch in der Türkei verteidigt.

Das Regime lässt die KurdInnen aus taktischen Gründen in Ruhe, solange diese gegen die eindringenden Dschihadisten kämpfen. Sollte Assad seine Herrschaft aber wieder stabilisieren können, ist völlig offen, inwieweit eine Selbstverwaltung in Rojava dann noch toleriert würde. Allerdings würde Assad in so einem Fall nicht mehr den KurdInnen des niedergeschlagenen Aufstandes von 2004 gegenüberstehen, sondern einer politisch erwachten Bevölkerung. Die Wiedererrichtung der Ba‘ath-Herrschaft über Rojava wäre so nur als offene militärische Besetzung denkbar.

 Manche Linke begreifen Rojava als „kurdische Lösung“. Bietet das revolutionäre Experiment nicht eine Perspektive für alle Unterdrückten der Region?

Die Rojava-Revolution könnte tatsächlich ein Modell für ganz Syrien und den Mittleren Osten sein. So, wie der spanische Bürgerkrieg in den 30er Jahren nicht nur eine regionale Auseinandersetzung, sondern eine internationale Entscheidungsschlacht zwischen den fortschrittlichen Kräften und der faschistischen Achse war, so entscheidet sich heute in Rojava nicht nur die Zukunft des kurdischen Freiheitskampfes. In Rojava werden auch die Zukunft Syriens und die Freiheit aller Völker der Region gegenüber Fremdherrschaft, nationalistischen Diktaturen und religiösem Fanatismus verteidigt.

 Siehst Du in der revolutionären Entwicklung in Rojava eine Bestätigung der Theorie der „permanenten Revolution“?

Grundsätzlich ja. Der Verrat von Barzani und der mit ihm verbündeten Parteien in Rojava an der Revolution beweist, dass selbst die nationale Befreiung, die ja zu den Aufgaben einer bürgerlichen Revolution gehört, nicht unter Führung eines schwachen und seinen egoistischen Profitinteressen verpflichteten Bürgertums, sondern nur unter Führung der arbeitenden Klassen möglich ist. Auch, wenn sich die PYD nicht explizit als Arbeiterpartei, sondern Partei aller Unterdrückten versteht, ist in ihr und den von ihr geführten Massenorganisationen im Wesentlichen die Avantgarde der Werktätigen organisiert. Zudem sehen wir, dass die Revolution nicht im bürgerlichen Rahmen bleiben kann, sondern zur Versorgung und dem Schutz der Bevölkerung, deren Massenunterstützung sie sich sichern muss, darüberhinausgehende Maßnahmen im sozialen Bereich ergreifen muss. Enteignungen fanden bislang allerdings nicht statt, da auf Verstaatlichungsmaßnahmen des Ba‘ath-Regimes aufgebaut werden kann. Auch wenn PYD-Funktionäre versichern, notfalls wie Kuba 50 Jahre Blockade durchzuhalten, ist klar, dass ein isoliertes sozialistisches Experiment in einem schmalen Landstreifen nicht dauerhaft funktionieren kann, sondern seine Ausweitung in andere Länder überlebensnotwendig ist. Hier können die auf die vier Staaten Syrien, Irak, Iran und Türkei verteilten KurdInnen eine Schlüsselrolle einnehmen.

 Wie können wir das revolutionäre Rojava unterstützen?

Zum einen werden natürlich Hilfsgüter, Medikamente, Schulmaterialien etc. gebraucht, solange das Embargo anhält. Hier muss Hilfe geleistet und es müssen dafür offizielle Transportwege nach Rojava gefunden werden. Dies ist nur durch eine breite Solidaritätsbewegung möglich, wie wir sie für das sandinistische Nicaragua kannten.

Zweitens gilt es, politischen Druck auf die Türkei auszuüben, dass der Bau der Schandmauer eingestellt wird. Und es braucht Druck auf die irakisch-kurdische Regionalregierung, dass die Grenze geöffnet wird.

Drittens: Vergessen wir nicht – die Bundeswehr ist mit ihren Patriot-Raketen in der Türkei stationiert und gibt damit der türkischen Armee Feuerschutz, unter deren Schutz wiederum die Dschihadisten agieren können. Die Bundesregierung unterhält enge politische und militärische Beziehungen zur Türkei. Sie hat bis kurz vor Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges noch auf geheimdienstlicher Ebene Baschar al-Assad hofiert und mit ihm ein Abschiebeabkommen für syrische KurdInnen geschlossen. Eine fortschrittliche, revolutionäre Entwicklung in Rojava und im Nahen Osten generell ist natürlich nicht im Interesse der Bundesregierung.

Viertens: Von daher ist es nur eine Frage der Zeit, bis das PKK-Verbot auch auf die PYD ausgedehnt wird. Linke und GewerkschafterInnen sollten also deutlich gegen dieses seit 20 Jahren bestehende Verbot eintreten, mit dem Zehntausende hier lebende KurdInnen in ihren Grundrechten eingeschränkt werden.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 1/2014 (Januar/Februar 2014). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Von den ursprünglich 2,5 Mio. Mitgliedern der Arabisch Sozialistischen Ba‘ath Partei Syriens ist ca. die Hälfte ausgetreten.

[2] Die assyrische Miliz Sutoro zählt rund eintausend KämpferInnen.