Debatte

Vom Elend des revidierten Marxismus und der alternativen Politikberatung

Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es eine wahre Flut von Versuchen, die beiden Hauptelemente der Marx‘schen Kapitalismusanalyse – die Krisentheorie und die Theorie des Klassenantagonismus – abzuschwächen oder gar wegzurevidieren. 

Willi Eberle

Die Revisionsversuche erfolgen aus verständlichen Gründen: Sie sind absolut ungeeignet, die Politik der Klassenzusammenarbeit, wie sie die reformistische Arbeiterbewegung prägen, zu begründen. Im Gegenteil, sie stehen ihr im Wege!

In einer neuen, kurzen und prägnanten Darstellung versuchen Jakob Schäfer aus dem Revolutionär sozialistischen Bund (RSB) und Guenther Sandleben, ein linker Ökonom, diese Zusammenhänge zu beleuchten: Guenther Sandleben, Jakob Schäfer, Apologie von links. Zur Kritik gängiger linker Krisentheorien, Köln (Neuer ISP Verlag) 2013.

Eine falsche Theorie begründet fast ohne Ausnahme eine falsche Politik, eine falsche Politik verträgt sich nicht mit einer richtigen Theorie. Dass die Politik der reformistischen Organisationen der Arbeiterbewegung falsch ist, ist an der wachsenden Bedrohung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Lohnabhängigen, der breiten Bevölkerungsschichten, durch die praktizierte Politik der Klassenzusammenarbeit abzulesen. Die Regierungslinken und die Gewerkschaftsführungen sind kaum mehr bereit, die demokratischen und sozialen Errungenschaften zu verteidigen, ja leisten oft genug – nicht selten unterfüttert von einer entsprechenden falschen Kapitalismus- und Krisenanalyse, einer revidierten Variante des Marxismus – aktive Beihilfe, diese Errungenschaften zu opfern. Die Pflege der Standortvorteile des einheimischen Kapitalismus im verschärften internationalen Konkurrenzkampf ist längst zu deren Grundorientierung geworden. Sie entwaffnen so die Arbeiterklasse im Kampf gegen die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie sind neuerdings z. B. in Deutschland, aber auch sonst wo in Europa und den USA an vorderster Front der Kriegshetze gegen Russland, aber auch in Afrika und verschiedenen Krisenherden in Asien.

Aufgrund der speziellen Stellung der Schweiz im Imperialismus ist auch die Rolle der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsführungen im Rahmen der Klassenzusammenarbeit eine etwas andere; die Bilanz fällt aber mindestens gleich ernüchternd aus wie an anderen Orten. Der Diskussionszusammenhang für eine alternative Politikberatung – vor allem in ihrer linkskeynesianischen Ausprägung –, wie er von den Autoren kritisiert wird, ist in der Schweiz – auf theoretisch viel bescheidenerem Niveau allerdings – am ehesten im Umfeld von Denknetz (http://www.denknetz-online.ch/) tätig.

Die Autoren setzen für ihr Argument bei den aktuell vier wichtigsten Richtungen „alternativer Politikberatung“ in Deutschland an, die die „Politik“ über vernünftigere Wege aus der seit über 40 Jahren andauernden Wachstumskrise belehren wollen. Zurückgehend auf Rudolf Hilferding setzen diese alle voraus, dass der Kapitalismus durch eine „Hegemonie der Finanzmärkte“ weitergetrieben bzw. blockiert wird. Keine dieser Strömungen geht von der Arbeitswertlehre der Marx’schen Kapitalismusanalyse und der damit verbundenen Krisentheorie aus; vor allem aber setzen drei von ihnen auf ein vernünftiges Einvernehmen mit den Unternehmern, statt von der zu entwickelnden Selbstaktivität der Arbeiterklasse als der einzigen möglichen Krisenlösungsstrategie auszugehen. Die alternative Politikberatung appelliert an die Vernunft der Herrschenden und nicht an den Widerstandsgeist der Beherrschten und beschwört ein normales, krisen- und weitgehend konfliktfreies Funktionieren des Kapitalismus – wie die Führungen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, die sich ja ihrerseits wieder auf diejenigen diffusen retardierenden Segmente abstützen, die im Widerstand gegen dieses immer zerstörerische System keine Vernunft sehen. Die Wertkritiker weichen etwas ab von diesem Muster: Sie entwickeln eine Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus und verabschieden sich gleichzeitig von der Arbeiterklasse als einzig möglichem Subjekt, um die Kapitalherrschaft zu überwinden. In diesem Punkt herrscht also wieder Einigkeit zwischen den vier hier behandelten Ansätzen.

Nicht so noch bei Hegel (1807): „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er … nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut“. Dieses Leben des Geistes sind heute – wie vor über 200 Jahren – die sich ans Licht der Freiheit vorwärtsdrängenden Geknechteten und Ausgebeuteten, die Gedemütigten und Entrechteten, die sich auf diesem Weg der Befreiung von den Ketten der Lohnabhängigkeit und des Freihandels die Welt aneignen wollen. Eben, wie es Marx 40 Jahre nach Hegel formulierte: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“


Die vier linken Apologien


Die beiden Autoren argumentieren, dass die behandelten vier „finanzmarktbezogenen Krisentheorien […] große Übereinstimmung mit bürgerlichen Interpretationsmustern haben: die Apologie der bestehenden Verhältnisse von kapitalistischer Warenproduktion und Zirkulation, das behauptete Fehlverhalten der Regierungspolitik, in Regulierungsfragen des Finanzmarktes, die Fokussierung der Krisenanalyse auf den Kredit-, Banken- und Kapitalmarktsektor, die fehlende Analyse des inneren Zusammenhangs von Finanzmarktkrise und Krise kapitalistischer Warenproduktion, die gelegentliche Betonung der Verteilungsfrage, die besondere Hervorhebung der Immobilienkrise samt der damit verbundenen Finanzkrise und schließlich die unzureichende Analyse der Überproduktionskrise von 2008“ (11 f.).

Den kritisierten Ansätzen liegt zudem eine falsche Geldtheorie zugrunde. „Über das aber, was schließlich als Geld akzeptiert würde, entscheiden nicht die Banken, wie die keynesianischen Marxinterpreten meinen, sondern die Warenbesitzer. Denn diese werden im Verkauf das als Geld akzeptieren, was ihnen als sicher genug erscheint, um damit Waren ihrer Wahl zu kaufen“ (136).

Die Linkskeynesianer um die Memorandumgruppe (Rudolf Hickel, Jörg Huffschmid u. a.) entsprechen mit der Unterkonsumtionstheorie am ehesten der Position, wie sie häufig von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften zumindest propagandistisch vertreten wird. Dies gilt auch für die Schweiz. Zum Beispiel wird im Rahmen der aktuellen Mindestlohninitiative (wie bei der gewerkschaftlichen Propaganda) gelegentlich auf solchen Positionen argumentiert. Andererseits fanden sich alle repräsentativen Kräfte der Schweizer Bourgeoisie mit der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften einhellig auf keynesianischen Positionen friedlich beieinander, als 2008 für die Bankenrettung gegen 15% des Bruttosozialproduktes aufgeworfen wurden. Ein ähnlicher Schulterschluss konnte damals weltweit beobachtet werden. Denn: „Zu Ehren und Ansehen kommt eine Theorie nur dann, wenn sie die vorherrschenden Kapitalinteressen einer Zeit ausdrückt. Und das tut die keynesianische Theorie nur zu gut, wenn das Kapital in eine Krise gerät“ (37).

Die Kriseninterpretation der neuen Stamokap-Theorie – hier am Beispiel von Lucas Zeise – weist insofern „etliche Parallelen zur linkskeynesianischen Krisendiskussion auf, [als auch sie auf der Vorstellung beruht, Einfügung maulwuerfe.ch ], die Marx’sche Theorie müsse wegen ihrer Schwächen korrigiert und ergänzt werden u.a. durch die Theorie von J. M. Keynes“ (39). Aber als wichtige Referenz knüpft Zeise an Rudolf Hilferdings Verschmelzungsthese zwischen Industrie- und Bankenkapital in der Form des Finanzkapitals an, und dass der Kapitalismus der freien Konkurrenz zunehmend durch den Monopolkapitalismus abgelöst worden sei. Bekannterweise hat Lenin seine Imperialismustheorie auf dieser falschen Grundlage begründet, aber ganz andere politische Konsequenzen gezogen als etwa Hilferding als führender deutscher Sozialdemokrat und vor allem als der Marxismus-Leninismus, der damit seine verheerende Bündnispolitik der sogenannten Volksfrontstrategie und der antimonopolistischen Bündnisse begründet hat. Für die beiden Autoren sind, der Stoßrichtung ihres Argumentes gemäß, reale ökonomische Einwände maßgebend: „Wieso haben wir gesamtwirtschaftlich eher sinkende Profitraten, wenn doch die Monopole so allmächtig sind und sich über das Wirken des Wertgesetzes hinwegsetzen können?“ (65)

Michael Heinrich treibt mit seiner Reformulierung der Marx’schen Werttheorie die Verdinglichung es fiktiven Kapitals noch weiter als die beiden vorerwähnten Ansätze: „Werte entstehen […] nicht mehr in der Produktion, sondern in der Zirkulation, also paradoxerweise dort, wo gar nicht mehr gearbeitet wird“ (70). Während bei Marx das fiktive Kapital – Aktien, Wertpapiere, Bankeinlagen aller Art, Schuldscheine, usw. – nur illusorisch als Kapital, als sich vermehrender Wert, fungieren (siehe dazu z. B. den ganzen V. Abschnitt in Kapital III, MEW 25), so ist dieses illusorische, eben fiktive Kapital (ebd. 483) bei Heinrich „eine Welt für sich […] jenseits der wirklichen Akkumulation“; das fiktive Kapital erlangt bei ihm als „Steuerungssystem der kapitalistischen Ökonomie“ (72 f.), wie bei Hilferding, gar eine Kommandofunktion über den gesamtwirtschaftlichen Prozess. Da liegt es nur auf der Hand, dass bei dem anderen Pfeiler der Marx’schen Theorie und Praxis, dem Klassenbegriff, ebenfalls wacker gerüttelt wird. Ohne hier auf diesen Teil der Theorie von Heinrich näher einzutreten (das diskutierte Buch tut dies ja auch nicht), sei nur festgehalten, dass bei ihm in entscheidenden Argumenten jeweils nur von Gesellschaft als Ganzem und nicht von Klassenkonflikt die Rede ist; die Gesellschaft ist in einem fetischisierten Verblendungszusammenhang und in einer abstrakten Totalität eingesperrt. Ein Topos, wie er bei der Frankfurter Schule und der kritischen Theorie bestenfalls in eine politische Sackgasse geführt hat. [1]

Mit ihrer theatralisch vorgetragenen radikalen Attitüde scheint die in den 90er Jahren aufkommende Wertkritik vor allem der Gruppe Krisis gerade nicht unter das Verdikt einer linken Apologie zu fallen. Die beiden Autoren arbeiten jedoch heraus, dass ihr wie den anderen behandelten Ansätzen die These vom „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ zugrunde liegt. Nur ist diese nun gewendet, die Verdinglichung der Geldform am weitesten getrieben: Die Finanzmärkte sind nun zu den zentralen Quellen der Wertschöpfung geworden, da es in der Produktionssphäre zu einer Zerschmelzung der Wertquellen kommt. Marx scheint also auch hier, contrecœur der Wertkritiker, recht zu behalten: „Das fiktive Kapital ist die Quelle aller Hirngespinste“ (Das Kapital III, MEW 25, 29. Kapitel, 409). Ganz in dieser Logik der Mystifizierung der Warenform alles Gesellschaftlichen wird der Klassencharakter der Gesellschaft als „bloßes Phänomen der Konkurrenz innerhalb der Marktlogik“ behandelt (Siehe dazu z. B. F. Köln, 2002). [2]


Die permanente Krise und praktische Schlussfolgerungen


Es gibt ihn also nicht, den normal funktionierenden, mehr oder weniger krisen- und konfliktfreien Kapitalismus, wie er von der Bourgeoisie und in ihrem Gefolge von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaftsführungen und ihrer akademischen Hilfstruppen der Marx-Revidierer gerne beschworen werden. Das Buch schließt ab mit einer Einschätzung über den Charakter der sich seit 2008 verschärfenden Krise und mit einem knappen, vielleicht allzu knappen Hinweis auf politische Perspektiven der Entwicklung der Arbeiterklasse als historischem Subjekt, das allein den zerstörerischen Tendenzen der Herrschaft des kapitalistischen Privateigentums entgegentreten könnte. „Einen Zusammenbruch des Finanzsystems halten wir unter solchen Umständen für möglich. […] Die Besitzer von Geldkapital und von fiktivem Kapital würden ruiniert, weil sich ihre Vermögen massenhaft entwerteten. […] In einer solchen Blockade würde sich zeigen, dass die Eigentumsverhältnisse direkt den Bedürfnissen des Lebens entgegenstehen […] Eine solche Situation würde die Menschen zwingen, ihre Ökonomie selbst zu regeln“. (137 f.)

Die tiefe Wahrheit der Marx’schen Kapitalismusanalyse erweist sich eben gerade darin, dass sie, gerade in ihren politischen Schlussfolgerungen, auf eine tragische Weise stimmt; das heißt, die Arbeiterklasse braucht unabhängige politisch-organisatorische Instrumente, um ihren immer wieder aufflammenden Widerstand gegen die Kapitalherrschaft zu entwickeln und in letzter Konsequenz die politische und soziale Macht zu erobern. Wird diesen Einsichten und strategischen Orientierungen zuwidergehandelt, dann vertiefen sich über kurz oder lang die Probleme der weltweiten Bevölkerung. Bis zu Massenverarmung, ökologischer Zerstörung, Krieg, autoritären Regimes, entfesseltem Irrationalismus… Alles Erscheinungen, die wieder einmal drohend bis in die Zentren des Imperialismus als Gespenster am Horizont auftauchen. Da angesichts der Katastrophen im 20. Jahrhundert schwer verfehlt zu haben, ist die große historische Verantwortung der Sozialdemokratie und des Stalinismus.

Die beiden Autoren lassen mit ihrem dünnen aber gewichtigen Buch diesbezüglich keinen Zweifel aufkommen. „Wenn der klassenbewusste Widerstand von unten auf dem tiefen Niveau verharrt, dann drohen“ barbarische Verhältnisse. „Oder aber es kommt zu einer Belebung des Klassenbewusstseins und des aktiven Klassenkampfes von unten. Dann gibt es eine Chance, dass dies [die Krisenlösung, Anm. maulwuerfe.ch] nicht alles auf Kosten der Klasse der Lohnabhängigen abgewickelt wird“ (138).


Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Siehe für eine Kritik dieser Position von Heinrich z. B. GegenStandpunkt, Heft 2-08, zu finden auch unter: http://www.kapital-lesen.com/texte/kritik-an-michael-heinrich/

[2] F. Köln: „Neue Deutsche Wertkritik« – Marxismus in Zeiten des Neoliberalismus. In: Wildcat, Februar 2002. Zu finden auch unter: http://www.wildcat-www.de/zirkular/62/z62wertk.htm