François Sabado
In Europa lösten die Wahlergebnisse einen wahrhaft historischen Schock aus und in Frankreich – mit dem Sieg der Front National – sogar fast ein Erdbeben. Die politischen Auswirkungen sind noch gar nicht komplett absehbar, sicher ist nur, dass Europa in einer massiven politischen Krise steckt. Auch wenn sich die Verhältnisse in Frankreich nicht direkt auf alle beteiligen 28 Staaten in Europa übertragen lassen und die Kräfteverhältnisse entlang der jeweiligen politischen Situation variieren, sind die Folgen der Krise und Schwächung der Arbeiterbewegung in groben Zügen überall gleich: massive Wahlenthaltung, Aufschwung der extremen Rechten, Schwächung der traditionellen Rechten und besonders der Sozialdemokratie sowie gleichbleibende Verhältnisse der linken Parteien, wobei allerdings Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien einen Durchbruch verzeichnen konnten.
Was bereits bei allen sonstigen Wahlen durchgängig der Fall ist, zeigten die Europawahlen nochmals deutlicher, dass die Partei der NichtwählerInnen entweder weiter auf dem Vormarsch ist oder zumindest mit fast 57 % weiterhin die erste Kraft darstellt. Dies bestätigt wieder einmal, dass der einfachen Bevölkerung die EU eher abhold ist. Bereits von Anfang an war das gemeine Volk bei der Schaffung der EU außen vor geblieben und lag der aktive Part bei den herrschenden Klassen, den Regierungen und den technokratischen Eliten. Inzwischen aber hat der Gleichklang von Stärkung der EU und Austeritätspolitik auf dem Rücken der Bevölkerung dazu geführt, dass deren Gleichgültigkeit einer massiven Ablehnung gewichen ist. Dies zeigt die Legitimitätskrise der politischen VertreterInnen in nahezu sämtlichen Ländern Europas, die sich inzwischen zur politischen Krise nicht nur innerhalb der europäischen Institutionen, sondern auf längere Sicht auch zwischen den einzelnen europäischen Ländern zuspitzt.
Besonders ausgeprägt verläuft die Wahlenthaltung dort, wo die einfache Bevölkerung wohnt. Wieso sollte dort auch der „schöne europäische Gedanke“ verfangen, wenn die offizielle EU-Politik für Millionen von Menschen mit Austerität, wachsender Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut verbunden ist. Und diese Wahlenthaltung führt in vielen Fällen dazu, dass populistische oder neofaschistische Parteien Zulauf erhalten.
Am augenfälligsten zeigt sich dieses Phänomen in Frankreich, wo die Front national zur stärksten Partei bei den Wahlen geworden ist und die Verhältnisse zum Tanzen gebracht hat. Oft ist die Rede von der „Ausnahmestellung Frankreichs“ in der europäischen Geschichte und verweist dabei auf die Kämpfe und Revolutionen der gemeinen Bevölkerung. Auch jetzt fällt Frankreich aus der Reihe, wenn auch diesmal zulasten der Bewegung von unten.
Der Front national hat sich in der Bevölkerung Frankreichs tief verankert. Umfragen zufolge haben 43 % der ArbeiterInnen, 38 % der Angestellten und 37 % der Arbeitslosen ihre Stimme der FN gegeben. Umgekehrt haben nur 8 % der ArbeiterInnen, 16 % der Angestellten und 14 % der Arbeitslosen für die PS votiert. Unter den jungen WählerInnen hat jedeR Dritte für die FN gestimmt!
Zwar ist ganz Europa vom Aufschwung der extremen Rechten und der europafeindlichen Parteien betroffen, aber Frankreich bildet wieder eine „Ausnahme“, sowohl was das Ausmaß der Stimmen für die FN anlangt, aber auch weil der Durchbruch der extremen Rechten dort zur mithin schärfsten politischen Krise geführt hat. Dies liegt zunächst einmal daran, dass Frankreich neben Deutschland zu den beiden mächtigsten Staaten in Europa gehört. Zudem geht der Durchbruch der FN in Frankreich mit einem Absturz aller anderen politischen Formationen dort einher. Die traditionelle Rechte wird für ihre Korruptionsaffären abgestraft und leidet obendrein unter einer offenen Führungskrise. Das Schicksal ihrer klassischen Partei – der UMP – steht in den Sternen. Die Linke – diesmal unter Einschluss der PS – ist mit gerade mal 34 % der abgegebenen Stimmen an ihrem historischen Tiefpunkt angelangt. Das Aus einem bipolaren System, in dem sich Rechts und Links gegenüberstanden, ist ein tripolares geworden, das jetzt die FN einschließt.
Der Vormarsch der extrem rechten oder populistischen Formationen beschränkt sich jedoch nicht nur auf Frankreich. In Dänemark hat die Volkspartei 27 % der Stimmen erhalten, in Großbritannien die UKIP ebenfalls 27 % und die österreichische FPÖ mehr als 20 %. Hierbei sind noch nicht einmal die „antieuropäischen“ Parteien eingerechnet, die bspw. in Deutschland, Polen oder Schweden stärker geworden sind. Ganz zu schweigen von den offen faschistischen Organisationen wie der Goldenen Morgenröte in Griechenland mit fast 10 % der Stimmen oder Jobbik in Ungarn, die mit knapp 15 % noch vor der Sozialdemokratie liegt. Beide Ergebnisse werden die politische Landschaft ihrer Länder prägen.
Wir stehen hiermit einer grundlegenden politischen Tendenz gegenüber, auch wenn es hiervon situationsbedingte Abweichungen geben mag wie in den Niederlanden, wo der Rückgang der islamophoben Partei von Geert Wilders auf den wirtschaftlichen Wiederaufschwung des Landes zurückgeführt werden muss, oder in Spanien und Portugal. Dort gibt es keine neofaschistischen Organisationen, was vermutlich in einer tiefen Aversion der Bevölkerung gegen diktatorische Regimes nach ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen mit Franco bzw. Salazar/Caetano begründet liegt. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es innerhalb der Volkspartei PP von Rajoy einen extrem rechten Flügel gibt, der auf Druck des katholischen Klerus das Recht auf Abtreibung gesetzlich aushebeln will.
Dieser generelle Aufschwung verdankt sich dem Anstieg nationalistischer Bestrebungen in einer Zeit, die von der Wirtschaftskrise und der historischen Schwächung der Arbeiterbewegung geprägt ist. Die soziale Identität tritt dabei hinter die nationale zurück, die Konflikte zwischen den Klassen weichen einer ethnischen Zuordnung der sozialen Verhältnisse und der Rassismus gewinnt breiten Zulauf unter der einfachen Bevölkerung. „Es ist einfacher, sich an einem Immigranten zu vergehen als an einem Banker!“, lautet wohl die Devise. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte Europas, dass wir mit einem Anstieg der extremen Rechten konfrontiert sind. Bereits in den 30er Jahren haben die herrschenden Klassen sowohl unter dem Eindruck der Krise, die eine verschärfte Ausbeutung der Arbeitskräfte zur Profitwahrung der kapitalistischen Konzerne erfordert hat, als auch zur Eindämmung des revolutionären Aufschwungs in vielen Ländern im Gefolge der Russischen Revolution auf die Karte des Faschismus gesetzt.
Die Spannungen in Europa werden auch an einem anderen Punkt deutlich, nämlich an der Krise in der Ukraine und den Auflösungstendenzen in Mittel- und Osteuropa, die durchaus an nationalistischen Konfrontationen vor dem Ersten Weltkrieg erinnern. Natürlich befinden wir uns heute in einer anderen Situation, die sich allenfalls mit den 30er Jahren „in Zeitlupe“ vergleichen lassen, wobei jedoch heute die weltweite Lage, die sozialen Klassen und die Kräfteverhältnisse anders beschaffen sind. Anders als zu den Zeiten, wo die europäischen Bourgeoisien auf die nationalistische Karte gesetzt haben, bevorzugen die herrschenden Klassen von heute eindeutig die Integration in die kapitalistische Globalisierung. Und es drohen keine Revolutionen, die die Herrschenden zur Option für den Faschismus veranlassen könnten und zur gewaltsamen Zerschlagung der Arbeiterbewegung und der demokratischen Rechte.
Die Besonderheiten der gegenwärtigen Lage schaffen eine feste Konstellation, die den Aktionsrahmen der rechtsextremistischen Kräfte einschränken. Deren Organisationen zeigen eine große Bandbreite. Einige von ihnen haben sich komplett in den Parlamentarismus integriert und ihre faschistischen Wurzeln gekappt, wie etwa die Alleanza Nazionale in Italien. Andere sind offen profaschistisch oder gar neonazistisch wie die Goldene Morgenröte in Griechenland oder Jobbik in Ungarn. In Skandinavien geben sich diese Formationen populistisch oder schüren die fremden- und islamfeindliche Hysterie. Die französische FN ist am Führerprinzip und einer neofaschistischen Organisationsstruktur orientiert, verknüpft dies aber mit Zielsetzungen, die am klassischen Politikbetrieb ausgerichtet sind, was über kurz oder lang zu Spannungen und Spaltungsprozessen führen kann. Die FN hat sich natürlich weiterentwickelt, sowohl was ein Teil ihrer Themen angeht als auch die Führung, und entspricht nicht mehr der faschistischen Organisation der 80er Jahre. Aber diese Entwicklung ging nicht soweit, mit den faschistischen Wurzeln und der Organisationsstruktur zu brechen, weswegen sie sich einerseits zu „entdämonisieren“ versucht, andererseits in ihren Reihen oder ihrem Umfeld offen faschistische Strömungen umfasst. Mit dem Aufschwung der FN entsteht ein zweifaches Phänomen: die traditionelle Rechte gerät unter Druck und es eröffnen sich Spielräume für außerparlamentarische faschistische Gruppierungen, linke AktivistInnen jedweder Couleur zu attackieren.
Zur Kategorie der Populisten gehören auch die sogenannten „Euroskeptiker“ wie die UKIP in Großbritannien, die deutsche AfD oder die PiS („Recht und Gerechtigkeit“) in Polen. Innerhalb dieser Bandbreite nationalistischer und populistischer Gruppierungen gibt es faschistische Strömungen, die durchaus zu Angriffen auf ImmigrantInnen und demokratische Organisationen bereit sind, wenn sich die sozialen und politischen Konflikte entsprechend zuspitzen sollten.
Auch die Bewegung Cinque Stelle von Beppe Grillo, die sich offen zu ihrem Populismus bekennt, ohne indes der extremen Rechten zu entstammen, erhielt fast 24 % der Stimmen, was auf die ungebrochene politische und institutionelle Krise in Italien verweist. Cinque Stelle rangiert damit noch vor Berlusconis Forza Italia, allerdings deutlich hinter Renzis Partito Democratico. Die absolut fehlende Kohärenz ihrer Politik, die einerseits die Austeritätspolitik der EU ablehnt, andererseits immigrantenfeindliche Züge trägt, sowie ihre Funktionsweise als Organisation machen klar, dass hiervon keine politische Alternative ausgehen kann, sondern eher ein Teil der Krise Italiens ist.
Für die Politik folgt daraus, dass die herrschenden Klassen eigentlich stabile parlamentarische Verhältnisse bräuchten, um in der Weltwirtschaft effektiv zu konkurrieren – sei es in Vertretung der traditionellen Rechten oder der Sozialdemokratie – und sich die politische Lage stattdessen destabilisiert und nationalistische, populistische oder neofaschistische Gruppierungen Auftrieb erhalten. Nehmen wir Großbritannien als Beispiel. Was wäre, wenn nach dem Durchbruch der UKIP das Referendum über die EU-Zugehörigkeit zu einem Austritt aus der EU führen würde? Dies wäre wohl der Anfang vom Ende der EU!
Eigentlich tendieren die Interessen der Bourgeoisie nicht in Richtung Faschismus, aber die sich überschlagenden Krisen legen zumindest autoritäre Modelle zunehmend nah. Denn die herrschenden Klassen verfügen über andere Optionen als den Faschismus, um die Lohnabhängigen, die Jugend und die kleinen Leute nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Die EU-Institutionen sind absolut undemokratisch und die parlamentarische Demokratie in den einzelnen Ländern gerät zunehmend zur Farce, wie bspw. die diversen Interventionen der Troika mit Aushebelung der jeweiligen Autonomie in Südeuropa gezeigt haben. Solche autoritäre Vorgehensweisen können durchaus Koalitionen unter Einschluss der extremen Rechten attraktiv machen.
Insgesamt muss man sagen, dass nach der lang anhaltenden Destabilisierung der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in Europa, der historischen Legitimationskrise des Parlamentarismus und der beängstigenden Schwächung der Arbeiterbewegung durchaus Situationen auftreten können, wo ad hoc und „ungewollt“ extreme Rechte an die Macht gelangen können.
Sie hat Verluste erlitten, aber ihre Mehrheit im Europaparlament mit 213 Abgeordneten (vs. 190 der sozialdemokratischen Fraktion) behauptet. Im Bündnis mit dem Zentrum und den Liberalen wird sie somit auch in der kommenden Legislaturperiode die Kontrolle behalten.
Der deutschen CDU kommt dabei unverändert die politische Führungsrolle innerhalb der europäischen Rechten zu. Sie setzt die Maßstäbe für Politik und Regierungen der nationalen Einheit, wobei in mehreren Ländern die neoliberale Sozialdemokratie mit von der Partie ist. Solche Koalitionsregierungen gibt es derzeit in Deutschland, Holland, Österreich, Griechenland, Italien, Belgien und Finnland. Die herrschenden Klassen setzen in vielen Ländern weiterhin auf dieses Herrschaftsmodell.
Aber insgesamt geht die traditionelle parlamentarische Rechte geschwächt aus den Wahlen hervor, da sie über die Frage der EU gespalten ist in diejenigen, die auf eine weiter zunehmende europäische Integration setzen, und in die sogenannten Euroskeptiker. Dadurch steht sie in einer ganzen Reihe von Ländern unter dem Druck seitens der extremen Rechten.
Nach wie vor erhielten die christdemokratischen oder Zentrums- oder rechten Volksparteien die meisten Stimmen, aber infolge der Krise ist die gesellschaftliche Wähler- und politische Basis der traditionellen Parteien erodiert, sodass sie im Grunde nur noch bloße Wahlvereine sind. Unter dem Druck der extremen Rechten und der Nationalisten findet eine Radikalisierung und Fragmentierung der Rechten statt. Radikalisierung insofern, als sie in der Frage der Einwanderung dem Einfluss der rechtsextremen Parteien nachgibt. Und eine Fragmentierung findet statt zwischen den rechten Hardlinern einerseits und denjenigen, die eher auf ein Mitte-Links-Bündnis mit der Sozialdemokratie schielen. Für Frankreich gilt, dass die UMP-Führung, also die traditionelle Rechte, durch Korruptionsaffären wieder einmal derart ins Straucheln geraten ist, dass ihr eine dauerhafte Schwächung droht, was wiederum der Front national Auftrieb verschafft.
Auch sie hat Stimmen verloren und nicht die erhoffte Mehrheit im Europäischen Parlament erlangt. In Frankreich hat sie sogar eine regelrechte Abfuhr erteilt bekommen und selten zuvor hat ein amtierender Präsident eine derart geringe Wählerbasis, nämlich unter 15 %, hinter sich gehabt. Er verliert eine Wahl nach der anderen und kann sich nur noch mithilfe der auf den Präsidenten zugeschnittenen Institutionen der V. Republik halten.
Grundsätzlich betrachtet offenbaren diese Wahlen den strukturellen Wandel der europäischen Sozialdemokratie. In der gegenwärtigen Krise ist sie noch enger an neoliberale Positionen gerückt, worüber auch die Kampagne ihres Spitzenkandidaten Martin Schulz als vorgeblicher Gegner der Austeritätspolitik nicht hinweg täuschen kann. In Zeiten der Vorherrschaft des Finanzkapitals musste die Sozialdemokratie, die bisher auf das kapitalistische Gleichgewicht bedacht war, sich von den klassischen Rezepten des Keynesianismus distanzieren, was dazu geführt hat, dass Millionen von Lohnabhängigen keinen Unterschied mehr sehen zwischen sozialdemokratischer und rechter Regierungspolitik.
In Frankreich sorgen die bonapartistischen Institutionen der V. Republik dafür, dass keine Regierung der nationalen Einheit zwischen der Rechten und der Sozialdemokratie entstehen kann. In praxi jedoch funktioniert das Abkommen zwischen Regierung und Unternehmern, das im sog. „Pakt der Verantwortung“ geregelt wird, nach demselben Prinzip. In der Tat paktiert unter dem Eindruck der Krise das Gros der rechten Parteien mit den Sozialdemokraten, um im Rahmen der EU die Krise im Sinne der Finanzmärkte und multinationalen Konzerne zu verwalten.
Des ungeachtet sind die Grundfesten der Sozialdemokratie ohnehin in Auflösung begriffen. Auch wenn sie sich noch auf ihre einstigen historischen und politischen Wurzeln beziehen mögen, ist ihre neoliberale Wandlung so gut wie abgeschlossen. In diesem Mutationsprozess gleichen sich die sozialdemokratischen Parteien der Demokratischen Partei der USA an, die der Bourgeoisie als Instrument zum Regierungs- ohne Politikwechsel dient. Dabei verschwinden auch noch die letzten Reste sozialdemokratischer Identität. Die SPD als Stütze der europäischen Sozialdemokratie mag sich zwar stimmenmäßig halten, fungiert aber in der Großen Koalition als Juniorpartner der CDU. Und ihre relative politische Stärke verdankt sie keineswegs ihrem Eintritt in diese Große Koalition sondern der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands und seiner Führungsrolle in Europa. Dort, wo die sozialdemokratischen Parteien Austeritätspolitik hingegen direkt umsetzen müssen, erleben sie regelrechte Einbrüche, wie etwa die PASOK in Griechenland.
In Frankreich steht die PS unter der Führung von Hollande und Valls vor einem regelrechten Debakel und erlebt eine Wahlschlappe nach der anderen, was in nächster Zeit, spätestens jedoch bei den Präsidentschaftswahlen 2017 zum völligen Zusammenbruch führen kann. In Italien hingegen konnte die PD völlig überraschend mehr als 40 % gewinnen und damit den Durchbruch der 5-Sterne-Bewegung von Grillo eindämmen. Ob dies darauf zurückzuführen ist, dass Renzi als Premierminister gezeigt hat, dass er zu Initiativen fähig ist und Maßnahmen wie etwa eine Steuersenkung ergriffen hat, lässt sich derzeit noch nicht beantworten. Grundsätzlich lässt sich jedoch sagen, dass ein solcher Parteientypus, der sich seiner kommunistischen oder sozialistischen Wurzeln entledigt hat und zu einer beliebigen bürgerlichen Partei geworden ist, bei diesen Europawahlen profitiert hat.
In Spanien war die PSOE klarer Verlierer und erzielte nur noch 3,5 Millionen Stimmen gegenüber mehr als 6 Millionen 2009. In Portugal konnte die PS durch ihre Oppositionsrolle, die Stimmenverluste, die sie während ihrer jahrelangen Regierungszeit erlebt hatte, in gewissem Umfang wieder wettmachen.
Die Krise, die die Sozialdemokratie durchmacht, mag zu internen Differenzen führen, aber kaum zu nennenswerten Brüchen und Abspaltungen. In den vergangenen Jahren sind lediglich Oskar Lafontaine in Deutschland oder Mélenchon in Frankreich so weit gegangen, ihre eigene Partei zu gründen. In der Regel jedoch gibt es nur vereinzelte interne Kritik an der einen oder anderen Maßnahme einer sozialdemokratischen Regierung, wenn sie eine unumwundene Austeritätspolitik betreibt. Mitunter muss auch Führungspersonal ausgetauscht werden, aber darüber hinaus passiert nichts, da alle Parteiströmungen den neoliberalen Wandel mehr oder weniger mittragen. Im Gegensatz zur früheren Geschichte hat die interne Krise bis dato nicht dazu geführt, dass sich wirkliche linke Strömungen herausgebildet hätten. Dies mag auch daran liegen, dass – abgesehen vom Einbruch der PASOK und möglicherweise absehbar der französischen PS – die sozialdemokratischen Parteien zwar Stimmenverluste hinnehmen müssen, aber nicht ins Bodenlose fallen, sich sogar in der Opposition gegen eine diskreditierte Rechte regenerieren können.
Ihre Ergebnisse spiegeln die Realität der Umweltbewegung in Europa wider: etwa 50 Abgeordnete und um die 10 % in Ländern wie Frankreich, Österreich oder Deutschland. Die gegenwärtige Systemkrise mit ihren ökologischen Dimensionen und den Risken der Atomindustrie liefert der Umweltbewegung ihren politischen Nährboden. Dabei können sie sich auf ein umfangreiches Netzwerk an Bürgerinitiativen stützen, integrieren sich andererseits immer mehr in den offiziellen Politikbetrieb, was sie in Koalitionen mit oder Tolerierung sozialdemokratisch geführter Regierungen treibt. Unter Teilen der Jugend, einkommensstärkeren oder kleinbürgerlichen Schichten rangieren die Grünen weiterhin als mithin „europäischste Partei“, was ihnen eine soziale und Wählerbasis verschaffen mag. Diese Klientel ist allerdings instabil; in Frankreich bspw. haben die Grünen über 6 % verloren, nachdem Daniel Cohn-Bendit nicht mehr für das EU-Parlament kandidiert.
Sie blieb in etwa stabil, wobei es in Griechenland, Spanien und Belgien deutliche Zugewinne gab.
Syriza erzielte über 26 % und bekräftigte damit ihren Anspruch als Regierungsalternative zu ND und PASOK. Jetzt fordert sie vorgezogene Neuwahlen. Als stärkste politische Kraft des Landes kann sie sich auf soziale Netzwerke und Mobilisierungen im gesamten Land stützen. Trotz mancher Verlautbarungen ihrer führenden Vertreter, die auf einen Ausgleich mit der EU bedacht sind, repräsentiert sie weiterhin die radikale Opposition gegen die Austeritätspolitik des Landes. Inzwischen steht sie unter dem Zugzwang, ob sie weiterhin eine konsequente Anti-Austeritätspolitik mit Annullierung der Schulden und Ablehnung aller EU-Memoranden vertreten will oder sich dem Druck der griechischen und europäischen Bourgeoisie beugt. Eine entscheidende Rolle kommt in dieser Auseinandersetzung der Syriza-Linken zu, die eine linke Regierung unter Einschluss von KKE und Antarsya fordert.
Diese Wahlergebnisse zeigen, dass es in den südeuropäischen Ländern mit Massenkämpfen gegen die Austeritätspolitik durchaus einen beachtlichen wahlpolitischen Ausdruck zugunsten linker Kräfte gibt. In Spanien hat Podemos mit 7,9 % fünf Abgeordnete erhalten – ein Durchbruch, der ohne solche landesweite Protestbewegungen in der Vergangenheit wie der „marea verde“ und der „marea blanca“ oder der Bewegung der Empörten nicht vorstellbar gewesen wäre. Hinzu kommt die politische und institutionelle Krise des politischen Modells, das 1978 mit dem Übergang vom Franco-Regime aus der Taufe gehoben worden war. Die bisherige Vorherrschaft zweier Parteien ist durch die Stimmen für IU und Podemos mit zusammen mehr als 18 % ins Wanken geraten. Damit stellt sich auch die Frage nach einer Einheitsfront. Die Stärke von Podemos liegt in ihrer Verknüpfung mit den kämpferischen und autonomen Bewegungen der jüngsten Vergangenheit. Ihnen kann eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau einer politischen und sozialen Alternative zukommen, die die ganze spanische Linke unter Zugzwang setzt, sich zusammenzuschließen. Damit sind die an diesem Prozess beteiligten revolutionären Kräfte gefordert. Erwähnenswert sind auch die guten Ergebnisse der PTB-Gauche d’ouverture, die in Wallonien (Belgien) mit 5,48 % einen regelrechten Durchbruch erzielt hat. In diesen Ländern ist es gelungen, die Proteste gegen die Austeritätspolitik in Erfolge der antikapitalistischen und anti-neoliberalen Kräfte umzumünzen.
In Frankreich erzielte die Front de gauche das gleiche Ergebnis wie 2009, was deutlich unter den eigenen Erwartungen lag, zumal Mélenchon bei den diesmaligen Wahlen seine Formation noch vor der PS sehen wollte. Die Linke lag in Deutschland mit 7,5 % nahezu unverändert. Die Kommunistischen Parteien haben sich i. W. gehalten: in Portugal sogar mit einem deutlichen Stimmengewinn (12 % vs. bloß knapp über 4 % für den Bloco de Esquerda), einem Rückgang hingegen in Griechenland zugunsten von Syriza und einem Ergebnis unterhalb der eigenen Erwartungen in Spanien, wo die IU gleichauf mit Podemos liegt.
Die revolutionäre Linke musste Verluste hinnehmen, besonders in Frankreich, wo die NPA – die aus finanziellen Gründen freilich nur in 5 von 8 Wahlbezirken antreten und eine nur sehr reduzierte, dennoch gelungene Wahlkampagne führen konnte – lediglich 0,3 % erzielte, während Lutte ouvrière 1,0 % errang. Damit unterlag auch die NPA dem rückläufigen Trend, der alle linken Listen erfasste und fiel auch deutlich hinter die früheren Ergebnisse zurück. Das aktuelle Resultat spiegelt auch nicht ihre Rolle bei den Klassenkämpfen und Mobilisierungen wider, die sie beispielsweise bei den landesweiten Protesten gegen die Austeritätspolitik am 12. April gespielt hat.
Die Wirtschaft in Europa wächst nur schwach oder befindet sich gar in einer anhaltenden Rezession. Auch wenn Regierungen und EZB mit verschiedenen Maßnahmen einer neuerlichen Bankenkrise vorbeugen wollen, lässt sich nicht absehen, ob nicht die eine oder andere Großbank wieder bankrottgehen wird. Ebenso unklar ist, wie sehr die Schuldenrückzahlungen einer Reihe südeuropäischer Länder, darunter auch wirtschaftlich relativ starken wie Italien oder Frankreich, zu schaffen machen wird.
In politischer Hinsicht besteht eine völlige Führungskrise. Auch wenn Europa weiterhin der reichste Kontinent ist, nimmt sein weltweites Gewicht ab. Durch die Austeritätspolitik und das wirtschaftliche Auseinanderdriften der einzelnen Länder, das durch die Krise noch verstärkt wird, droht der Zusammenhalt der EU zu explodieren. Unabsehbar wären die Konsequenzen, wenn sich Großbritannien nach dem Wahlerfolg der UKIP für einen Austritt aus der EU entscheiden würde. Natürlich wird die Krise durch die machtvollen wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Klassen in Europa und die Manövrierräume der Regierungen wie der Vorstände in den Großbanken und multinationalen Konzernen sowie die Stabilität der Institutionen der einzelnen Mitgliedsstaaten überschaubar gehalten. Aber so wie die EU gegenwärtig verfasst ist, ohne wirkliche Demokratie, ohne gemeinsame Sozial-, Fiskal- und Haushaltspolitik und ohne eine über die endlosen Austeritätsrezepte hinausgehende zusammenhängende Regierungspolitik, bleiben gesamteuropäische Perspektiven inhaltsleer.
Im Wesentlichen liegt es an der Schwäche der Arbeiterbewegung, dass die herrschenden Klassen in Europa über solche Manövrierräume verfügen. Aber auch da besteht ein Widerspruch zwischen den kapitalistischen Globalisierungsbestrebungen der Schlüsselsektoren der europäischen Bourgeoisie und dem Anstieg eines reaktionären Nationalismus in Form der neofaschistischen und populistischen Parteien, der leider auch nicht vor vielen anderen politischen Formationen auf der Linken wie der Rechten haltmacht. Die Auslassungen von Sarkozy über das Schengener Abkommen sind ein Beispiel für die Suche nach einem nationalistischen Befreiungsschlag. Ebenso zeugen die wirtschaftspatriotischen Propagandasprüche oder die verschiedentlichen Ausfälle gegen das „deutsche Europa“ von diesem nationalistischen Druck.
Gegen das Anwachsen des reaktionären Nationalismus bedarf es – einmal mehr in der Geschichte – eines Zusammenschlusses aller kämpferischen Strömungen, Initiativen und Parteien, die sich gegen die populistische oder neofaschistische Gefahr stellen. Essentiell ist hierbei die Frage der Aktionseinheit und der Einheitsfront bei den Kämpfen wie auch beim Aufbau einer politischen Opposition gegen die Austeritätspolitik. Dabei muss man freilich darauf achten, dass nicht die erforderliche gemeinsame Massenmobilisierung mit politischen oder programmatischen Abkommen erkauft wird, die den antikapitalistischen Kampf behindern.
In dieser Situation muss das eigene Vorgehen immer wieder hinterfragt werden, müssen soziale und demokratische Sofortforderungen der Austeritätspolitik von Kapital und Regierung gegenübergestellt werden, der Kampf gegen die Rechte und extreme Rechte intensiviert werden, eine völlige Unabhängigkeit gegenüber sämtlichen neoliberalen Kräften gewahrt werden – also keine Allianz mit der Sozialdemokratie in Parlament oder Regierung – und es muss das Ziel einer internationalistischen Politik aufrecht erhalten werden: Bruch mit der EU in ihrer gegenwärtigen Verfassung, aber zugleich für ein Europa der Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Völkern und den Lohnabhängigen.
Übersetzung: Miwe |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014). | Startseite | Impressum | Datenschutz