Julien Salingue
Der Vormarsch der dschihadistischen ISIS (Islamischer Staat im Irak und Großsyrien), die mittlerweile weite Gebiete des Irak kontrolliert, hat in Washington zu Panik geführt. Durch die Eroberung mehrerer Großstädte und den drohenden Sturm auf Bagdad sieht sich die Regierung Obama zu einer Reaktion gezwungen, auch wenn die Einsatzpläne vorerst verhalten ausfallen. Egal jedoch, wie eine Intervention von außen ausfallen wird – eine dauerhaft stabile Situation im Irak wird dadurch keinesfalls erreicht werden.
Der Vormarsch der ISIS lässt sich nur vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte des Landes verstehen, das durch die Intervention der Engländer und US-Amerikaner verwüstet und dessen Staatsapparat im Zuge der „Säuberungsaktion“ gegen Anhänger von Saddam Hussein weitgehend liquidiert wurde und dessen Premierminister Nuri al-Maliki beim Großteil der Bevölkerung und namentlich unter den Sunniten diskreditiert ist. Die gegenwärtige Entwicklung ist nicht aus heiterem Himmel gefallen sondern vielmehr spektakulärer Ausdruck einer Krise, die den Irak seit langen Jahren bedroht. So war bspw. das Jahr 2013 mit nahezu 8000 Opfern unter der Zivilbevölkerung und über 1000 getöteten Mitgliedern der Sicherheitskräfte das blutigste seit 2007.
Für diese Krise gibt es tiefreichende Ursachen. Das seit über acht Jahren amtierende Regime von al-Maliki gilt als korrupt und autoritär, betreibt Vetternwirtschaft und diskriminiert die sunnitische Minderheit. Bereits Ende 2012 gab es einen friedlichen Aufstand in mehreren sunnitischen Städten gegen die Zentralmacht, die mit blutiger Unterdrückung reagierte. In der Stadt Hawidscha kam es bspw. am 23. April 2013 zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung, als Truppen aus Bagdad gegen ein seit Wochen andauerndes Sit-in im Zentrum der Stadt vorgingen: Die Aktion mit mindestens 50 Toten und über 100 Verletzten wurde von der Zentralregierung als „Kampf gegen den Terrorismus“ gerechtfertigt. Inzwischen sind viele Iraker es leid, dass ihre Anliegen ungehört bleiben und stattdessen blutige Unterdrückung eingesetzt wird, sodass sie sich den radikalsten Kräften zuwenden, d. h. in erster Linie der ISIS, die nach den Ereignissen in Hawidscha so richtig Auftrieb bekommen hat.
Gerade weil diese Zuspitzung der Krise vorhersehbar war, windet sich die Regierung Obama um eine klare Reaktion darauf. In der Tat besteht ein großes Risiko, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen und das Land noch ein bisschen mehr zu destabilisieren. Die USA haben bereits etliche Milliarden Dollar in die Schulung und Ausrüstung der irakischen Armee gesteckt und könnten ihre Militärhilfe nochmals aufstocken, sodass die „regulären“ Streitkräfte die ISIS in Schach halten könnten. Die Rede ist auch von der Entsendung einiger hundert „US-Militärberater“ oder gar von „gezielten“ Bombardements der dschihadistischen Truppen. Aber jedermann weiß, dass solche rein militärischen Aktionen die Krise nicht lösen werden und sie sogar noch weiter verschärfen könnten.
Insofern wird auch der Iran ins Spiel gebracht. Das schiitische Land ist in der Tat eine der Hauptstützen des Maliki-Regimes und schaut daher mit Besorgnis auf den Vormarsch der ISIS im Irak und in Syrien. Und auch wenn die Erklärungen von offizieller iranischer Seite, mit den USA bei der Bekämpfung der ISIS militärisch kooperieren zu wollen, für einige Überraschung gesorgt haben, darf man nicht übersehen, dass damit bloß die herrschende Praxis fortgeschrieben würde. Denn die USA besorgen die Ausbildung und Ausrüstung der irakischen Armee, während der Iran dasselbe bei den schiitischen Milizen im Dienste von al-Maliki übernimmt. Insofern besteht bereits eine faktische Kooperation auf diesem Terrain und die USA sind sich bewusst, dass sie in der Irak-Frage nicht am Iran vorbeikommen, um eine fällige politische Lösung dieses Konflikts auf den Weg zu bringen. Was natürlich nicht ausschließt, dass sie am Ende doch zur Gewalt greifen …
Der Gang der Ereignisse könnte zu einer Annäherung zwischen dem Iran und den USA führen. Damit wäre mal wieder bewiesen, dass, wo es um die Stabilisierung einer an Energierohstoffen reichen Region geht, der politische Pragmatismus schwerer wiegt als Gebaren und Rhetorik.
Aus l’Anticapitaliste vom 28.6.2014 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz