In den 1960er Jahren hat Ernest Mandel die Bürokratie in der Arbeiterbewegung analysiert. Fünfzig Jahre danach danach haben seine Gedanken Eingang in die Debatten in der dänischen „Enhedslisten“ eingeführt worden. Angesichts einer zunehmenden Zahl von Parteihauptamtlichen sind sie wieder relevant geworden.
Michael Voss
„Mit dem Erfolg von ,Enhedslisten‘ ist ein großer, professioneller Apparat angewachsen. Das bedeutet viele Vorteile, aber auch das Risiko, dass der Apparat die Tagesordnung bestimmt und dass er sich zu einer Parteibürokratie entwickelt.“
Das sind die einleitenden Worte eines Artikels von Mikael Hertoft, einem Mitglied der nationalen Leitung (Hovedbestyrelse) der „Enhedslisten“. Hertoft hat unlängst ein kleines Buch wiedergelesen, das 1969 im benachbarten Schweden unter dem Titel „Über die Bürokratie – eine Analyse der ständig wachsenden Gefahr für die Arbeiterbewegung“ veröffentlicht wurde. Sein Verfasser war der 1995 verstorbene marxistische Ökonom Ernest Mandel, der bis zu seinem Tod Leitungsmitglied der IV. Internationale war. Nach der Lektüre entschloss sich Hertoft, Teile daraus zu übersetzen und sich mit der Relevanz für „Enhedslisten“ auseinanderzusetzen. Sowohl die Übersetzung als auch sein Artikel sind von der dänischen Internet-Zeitschrift „Socialistisk Information“ veröffentlicht worden.
Hertoft hat etwa 60 Mitglieder gezählt, die von der ein oder anderen Arbeit für die Partei leben. Den größten Teil stellen die 12 Abgeordneten und ihre MitarbeiterInnen im Parlament, etwa 25 Personen. Außerdem sind einige Mitglieder im nationalen Parteibüro angestellt und einige wenige arbeiten vollzeit als gewählte RepräsentantInnen in Gemeinden. Beide Gruppen werden weiter anwachsen, wenn „Enhedslisten“ bei künftigen Wahlen die Zahl von Stimmen und Abgeordneten erhält, die die gegenwärtigen Meinungsumfragen erwarten lassen.
Diese Stellen werden überwiegend vom Staat bezahlt. Alle Parteien erhalten einen Betrag entsprechend der Stimmenzahl, die sie bei der letzten Wahl erhalten haben. Der größte Teil davon wird für die Hauptamtlichen im nationalen Büro verwendet. Der Staat gibt auch einen größeren Betrag für die Parteifraktionen im Parlament. Dieses Geld ist für die Zuarbeit für die Abgeordneten bestimmt. Die Partei kann es nur in einem sehr eingeschränkten Ausmaß für Parteiaktivitäten außerhalb des Parlaments verwenden.
Hertoft schreibt in seinem Artikel: „Die Regeln des Staats für die Finanzierung erhöht systematisch das Gewicht der parlamentarischen Arbeit der ,Enhedslisten‘ im Verhältnis zu Basisaktivitäten.“ Unter Bezug auf Ernest Mandel unterstreicht Hertoft, „Enhedslisten“ müsse natürlich das Beste aus diesen professionellen Kräften machen, indem aktive Zentralen im Parlament, im nationalen Büro und in den Provinzzentren aufgebaut werden. Er schreibt: „Die einzige Alternative wäre es, auf amateurhafter Arbeit zu bestehen, mit der niemals Einfluss zu gewinnen wäre und mit der man niemals dazu imstande wäre, eine sozialistische Revolution anzuführen.“
Zugleich argumentiert er, wir müssten aus Mandels Analyse lernen. Eine funktionelle Bürokratie wird sich in eine soziale Schicht mit eigenen Interessen umformen, wenn nicht Maßnahmen getroffen werden, um dieser Tendenz entgegenzuwirken.
Nach Hertofts Meinung hat „Enhedslisten“ bereits seit ihrem Entstehen vor 25 Jahren zwei grundlegende Prinzipien umgesetzt, die Mandel auf der Grundlage von Karl Marx und der Erfahrung der Pariser Kommune empfiehlt. Das eine betrifft die Einkommen: Angestellte der Partei und gewählte Mitglieder verdienen einen Betrag, der dem Lohn eines Metallfacharbeiters in der Region Kopenhagen entspricht. Das liegt am oberen Ende der Arbeiterlöhne in Dänemark. Natürlich sind die staatlichen Bezüge für Abgeordnete viel höher, die ParlamentarierInnen von „Enhedslisten“ führen die Differenz also als eine Art Parteisteuer an deren Kasse ab. Der andere Grundsatz betrifft die Rotation: Die Einzelheiten unterscheiden sich, aber vom Grundsatz her dürfen Mitglieder ihren Lebensunterhalt zehn Jahre lang aus der Arbeit für die Partei beziehen. Danach müssen die Parteiangestellten ausscheiden und dürfen nicht zur nächsten Wahl antreten. Nach einer zweijährigen Pause können sie sich wieder für eine Stelle bewerben bzw. zur nächsten Wahl antreten. Das gleiche Prinzip gilt für Mitglieder der nationalen Leitung, obwohl sie nicht bei der Partei angestellt sind.
Das sind Prinzipien, die es wert sind, verteidigt zu werden. Die Gehaltsregel bedeutet, dass für die meisten Menschen keine materiellen Vorteile damit verbunden sind, hauptamtlich für die Partei zu arbeiten, und die Rotationsregeln verhindern, dass Menschen ihr Einkommen lebenslang aus Politik beziehen und die Posten um jeden Preis verteidigen.
Hertoft verweist darauf, dass es auch andere als nur materielle Privilegien gibt. Sehr wichtig für engagierte SozialistInnen ist der Umstand, dass Parteihauptamtliche die gesamt Zeit für „die Sache“ arbeiten können, anstatt die Arbeitszeit für irgendeinen bedeutungslosen Job zu vergeuden.
Zum Zweiten weist er auf die Probleme hin, die entstehen, wenn es eine riesengroße Gruppe von Parteihauptamtlichen gibt, die im Parlament arbeiten. Sie diskutieren zuerst einmal untereinander, mit anderen Abgeordneten und mit JournalistInnen von Medien des Großkapitals. Dadurch sind sie täglich einem Druck von ausschließlich rechts von ihnen stehenden Menschen ausgesetzt. Hertoft schreibt: „Der Tendenz nach werden sie in das dänische Establishment hineingesogen.“
Hertoft befürchtet, dass der Parteiapparat eine Mentalität und ein Bewusstsein entwickelt, demgemäß er selbst „die wirkliche Partei“ sei. Er könnte am Ende meinen, die Parteimitglieder seien nur zu den von Zeit zu Zeit stattfindenden Wahlen zu mobilisieren.
„Kritische Mitglieder, die ihre Kritik nicht so geschmeidig formulieren wie Politiker, könnten als störend für den Apparat betrachtet werden“, schreibt Hertoft als Warnung vor einer Entwicklung, bei der der Apparat seine eigenen, besonderen Interessen vertritt. Die Stimmenzahl auf Kosten des Eintretens für wichtige sozialistische Grundsätze zu steigern, sei eine Art, in der solch ein „besonderes Interesse“ aus dem täglichen politischen Umgang heraus sich rasch manifestieren könnte, argumentiert Hertoft.
Ich denke, die Warnungen von Ernest Mandel und Mikael Hertoft sind sehr wichtig. Schon heute werden die meisten politischen Ansichten und Erklärungen von den Abgeordneten und ihrem Mitarbeiterstab entwickelt. Vom Grundsatz her ist „Enhedslisten“ sehr demokratisch. Das Parteistatut lässt keinen Zweifel zu: Die jährliche nationale Konferenz, die Nationale Leitung und das Exekutivbüro (das sich aus gewählten Mitgliedern der Nationalen Leitung zusammensetzt und sich wöchentlich trifft) haben bei wichtigen politischen Entscheidungen das letzte Wort. Aber formale Regelungen und die Wirklichkeit sind nicht immer dasselbe.
Die Parlamentsfraktion ist gezwungen, zu vielen politischen Fragen tagesaktuell Entscheidungen zu treffen; kein gewähltes Parteigremium hat die Ressourcen, hierüber zu diskutieren oder abzustimmen. Vielleicht noch problematischer ist folgendes: Abgeordnete und ihr Mitarbeiterstab haben viele Ressourcen für die Entwicklung der Politik von „Enhedslisten“ auf neuen Gebieten oder für Änderungsvorschläge zu bereits beschlossenen Positionen; weder Parteimitglieder noch gewählte Leitungen mit gewöhnlichen Vollzeitberufen können da mithalten. Wenn die Gruppe von Abgeordneten und MitarbeiterInnen ihre Auffassungen aufeinander abstimmen – was natürlich nicht sicher, jedoch wahrscheinlich ist –, können sie auf einem viel höher qualifizierten Niveau analysieren, dokumentieren und argumentieren als der Rest der Partei und auf diese Weise ihre Ansichten der Partei aufdrücken, durchaus innerhalb des formal demokratischen Rahmens.
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Die Vorbedingungen für eine besondere Schicht mit ihren eigenen Prioritäten existieren. Sie hat sich noch nicht entwickelt und es ist noch Zeit, dem entgegenzuwirken. Hierfür schlägt Hertoft vor, die Regeln zur Entlohnung und Rotation schärfer zu fassen. Er schlägt neue und bessere Kanäle für demokratische Diskussionen, mehr politische Bildung und neue Foren für das soziale und kulturelle Parteileben vor. Er tritt auch dafür ein, dass die Partei bewusst Bildungsmaßnahmen für Parteimitglieder aus der Arbeiterklasse und mit Erfahrungen in ärmeren Schichten der Bevölkerungen und Bewegungen durchführt, dass sie für die Arbeit sowohl in der Parteileitung als auch als gewählte RepräsentantInnen ausgebildet werden. Schließlich argumentiert er auch, die Partei müsse Wege finden, der Tendenz entgegenzuwirken, die Finanzen auf parlamentarische Politik auszurichten anstatt auf den Ausbau von Parteiaktivitäten in sozialen Bewegungen und anderen Aktivitäten an der Basis.
Dadurch dass er die Debatte ausgelöst und eine marxistische Analyse der Bürokratie eingeführt hat, hat Mikael Hertoft bereits zur Lösung des Problems beigetragen. Vor allem durch die Hinweise auf die sozialen und materiellen Grundlagen der Bürokratie hat er das Risiko vermindert, dass die Debatte auf persönliche Beschuldigungen hinausläuft. Es ist zu hoffen, dass andere Parteimitglieder einschließlich der Hauptamtlichen zu der Debatte beitragen werden.
Michael Voss ist Mitglied der Leitung von „Enhedslisten“ und der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), der dänischen Sektion der IV. Internationale. Als Repräsentant der SAP hat er an den Verhandlungen teilgenommen, die im April 1989 zur Gründung von „Enhedslisten“ führten. Von 1995 bis 2006 arbeitete er als Journalist und Pressesprecher für die Parlamentsfraktion der „Enhedslisten“. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 5/2014 (September/Oktober 2014). | Startseite | Impressum | Datenschutz