Israel/Palästina

Lieber tot als weiter so leben

Nach der am 26. August in Kairo vereinbarten „unbefristeten Waffenruhe“ ist die Lage für die Bevölkerung des palästinensischen Getto dramatischer denn je.

Julien Salingue

Nahezu 2000 Tote, über 10 000 Verletzte, über 400 000 Zwangsumgesiedelte, Zehntausende zerstörter oder beschädigter Gebäude … Die Bilanz des israelischen Angriffskrieges wird täglicher schlimmer, allen „Waffenstillständen“ oder „Feuerpausen“ zum Trotz. Dabei handelt es sich, was die Zahl der Opfer und die materiellen Verluste angeht, um den heftigsten Angriff der Israelis auf palästinensisches Territorium seit dem Sechstagekrieg von 1967.


Eine „Feuerpause“?


Der herrschende politische und mediale Diskurs wird weiterhin vom israelischen Standpunkt aus geprägt. Die „Feindseligkeiten“ werden auf die Bombenangriffe auf Gaza und die palästinensischen Raketenabschüsse runtergebrochen. Einen „Ausweg aus der Krise“ könne es nur geben, wenn beides auf dem Verhandlungsweg beendet wird. Dann könnten die Politiker und Medien im Westen befreit aufatmen und sich anderen Dingen zuwenden, wohl wissend, dass es in ein, zwei Jahren wieder eine israelische „Militäroperation“ unter dem Vorwand von Raketenbeschuss geben wird, und sich alle Welt wieder fragen wird, warum der „Waffenstillstand“ nicht gehalten hat …

Dabei sind die Grundzüge des Problems eigentlich ganz einfach. Der Ausgangspunkt für die Feindseligkeiten, unter denen der Gazastreifen und seine Einwohner zu leiden haben, ist die illegale und inhumane Blockade, der die kleine Enklave an der Meeresküste seit über 8 Jahren unter der Komplizenschaft Ägyptens unterworfen ist. Diese Blockade hat das Leben innerhalb Gazas zerstört und seine Bewohner werden täglich zunehmend von einer wahrhaften humanitären Tragödie bedroht. In einem 2012 erschienenen UN-Bericht wird darauf verwiesen, dass der Gazastreifen 2020 nicht mehr bewohnbar sein wird, weil Infrastruktur und Grundversorgung nicht mehr ausreichten. So müssten mindestens 800 zusätzliche Krankenhäuser neu errichtet und die Zahl der Schulen verdoppelt werden. Und bereits vor dem laufenden Angriffskrieg hatte die Hälfte der Einwohner keinen regelmäßigen Zugriff auf Trinkwasser und fast 80 % der Bevölkerung nur 4 Stunden am Tag Strom zur Verfügung.

Die jetzige israelische Militäroperation hat die Lage noch weiter verschlimmert und der Umfang der bisherigen Schäden wird auf 5-6 Milliarden Dollar geschätzt, d.h. auf 3000 pro Einwohner. Das einzige Elektrizitätswerk in Gaza wurde zerstört und kann nach offiziellen Angaben frühesten in einem Jahr wieder in Betrieb gehen. Unter den Tausenden von zerstörten oder beschädigten Gebäuden sind auch Schulen, Krankenhäuser und elementare Industriebetriebe. Inzwischen sind über 75 % der Bewohner von internationaler Nahrungsmittelhilfe abhängig. Nach Berechnungen der israelischen NRO Gisha, die sich namentlich für Personen- und Warenfreizügigkeit von und nach Gaza einsetzt, „würde es 100 Jahre dauern, Gaza wieder aufzubauen“, wenn die Blockade, die besonders die Einfuhr von Baumaterialien verhindert, nicht aufgehoben wird.


„Lieber sterben als weiter so leben“.


Die palästinensischen Forderungen für die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsvertrags sind unter diesen Umständen keinesfalls „maximalistisch“ oder „radikal“, wie die herrschende Berichterstattung über die laufenden Verhandlungen glauben machen will. Außerdem werden sie einhellig von allen palästinensischen Kräften getragen, also sogar von der durchaus gefügigen Palästinensischen Autonomiebehörde unter Leitung von Mahmud Abbas, dessen Bereitschaft zu (faulen) Kompromissen ja notorisch ist. Eigentlich müsste man erstaunt sein, dass dieser Umstand von nahezu niemandem von denen, die ansonsten die „Mäßigung“ von Abbas lobpreisen, um ihn besser gegen die „radikalen“ Hamas ausspielen zu können, erwähnt wird, wüsste man nicht, dass durch solche Propaganda in erster Linie die palästinensische Seite geschwächt werden soll. Im Einzelnen bestehen diese Forderungen aus der Aufhebung der Blockade und damit besonders der Öffnung der Grenzen zu Israel und Ägypten, der Wiederherstellung des Hafens und des Flughafens von Gaza, der seit Ende 2000 zerstört und geschlossen ist, und der Ausweitung der Fischereizone vor Gaza auf 10 Kilometer. Die Juristin Francesca Albanese, die 8 Jahre lang für die UNO tätig war, meint dazu: „Keine dieser Forderungen ist neu. U.a. hat auch die UN regelmäßig die Aufhebung der nach internationalem Recht illegalen Blockade gefordert, als elementare Voraussetzung für die Beendigung der humanitären Katastrophe im Gazastreifen. Bereits 2005 wurde in dem Abkommen über Verkehr und Zugang AMA zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde geregelt, dass der Waren- und Personenverkehr zwischen Westjordanland und Gazastreifen erleichtert werden solle. Auch der Bau eines Schiffs- und Flughafens wurde damals vereinbart, ohne dass es jemals dazu gekommen wäre. Die Forderung nach Ausweitung der Fischereizone fällt noch hinter die Absichtserklärung der Oslo-Verträge zurück und war bereits Gegenstand des Waffenstillstandsabkommens von 2012.“ Von wegen also „maximalistisch“ oder „radikal“! Vielmehr entsprechen diese Forderungen einfach dem Existenzminimum für die Bevölkerung von Gaza und sind von allen internationalen Institutionen als legitim anerkannt. Und diese Forderungen lehnt Israel ab und zeigt einmal mehr, dass es der Besatzungsmacht im Namen ihrer sog. Sicherheit nicht um die Verweigerung der nationalen Rechte der Palästinenser – die an sich schon durch internationales Recht geschützt wären – geht, sondern darum, ihnen die elementarsten Bedürfnisse, wie die auf Wohnraum, Gesundheit, Ernährung, Bildung und Freizügigkeit zu verwehren. Daher rührt die Verzweiflung der Bevölkerung von Gaza und der palästinensischen Widerstandsorganisationen und dies erklärt, warum die Bewohner der Enklave trotz der Brutalität der gegenwärtigen Angriffe mehr und mehr das Gefühl haben, das Raschi Sourani vom Palestinian Center for Human Rights (PCHR) in die Worte fasst: „Lieber sterben als weiter so leben“.


Kein Frieden ohne Gerechtigkeit


Die Palästinenser sind somit in keiner Weise unnachgiebig, sondern eher moderat, da keine ihrer Organisationen gegenwärtig auf die Erfüllung der gesamten nationalen Rechte der Palästinenser (Ende der zivilen und militärischen Okkupation, Recht auf Selbstbestimmung und Rückkehr der Flüchtlinge) im Gegenzug für einen Waffenstillstand besteht, sondern nur auf elementare Rechte und ein wenig Luft zum Atmen. Unnachgiebig zeigt sich einmal mehr eher der israelische Staat, der vergessen machen will, dass er im Namen der sog. „Sicherheit“ eine akribische Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft betreibt, um sie an der kollektiven Einforderung ihrer Rechte zu hindern. Darin liegt eines der uneingestandenen Ziele des Angriffs auf Gaza, nämlich dieses kleine Gebiet in die Steinzeit zurück zu bomben, damit sich die Bevölkerung nicht mehr für das Ende der Besatzung engagiert sondern um Überleben und Wiederaufbau kämpfen muss.

Deswegen will Israel nicht über die Aufhebung der Blockade verhandeln, weil dann die Bewohner wieder ein wenig aufatmen und sich auf Dauer reorganisieren könnten, um gegen die Besatzung zu kämpfen. Fast könnte man sagen, dass Israel blöd wäre, den Vorwand für seine Politik aus der Welt zu schaffen, sodass jemand unter den westlichen Politikern auf die Idee kommen könnte, Forderungen gegen Israel aufzustellen oder gar Druck auszuüben.

So lässt sich vielmehr behaupten, die Palästinenser wären schuld am Scheitern der Verhandlungen und sollten gefälligst aufhören, ihre elementaren Rechte einzufordern, wenn sie „Ruhe“, d.h. das Ende der Bombardements haben wollen.

Insofern ist es umso dringlicher, auf die wiederholten Aufrufe der palästinensischen Organisationen und Bürgerinitiativen zu hören, wonach dringend richtiggehende Sanktionen gegen Israel verhängt werden müssen, wobei nur durch die Ausweitung der BDS-Kampagne wirklich Druck auf Israel ausgeübt und zu seiner Isolierung und damit zur Änderung der Kräfteverhältnisse zugunsten der Palästinenser beigetragen werden kann. In einem Aufruf mehrerer Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft vom 13.7.2014 heißt es: „Das israelische Regime hat immer wieder bewiesen, dass es ohne Druck und Isolation weiterhin Massaker wie das, das wir gerade erleben, verüben und seine jahrzehntelange Praxis der ethnischen Säuberungen, der militärischen Besatzung und der Apartheidpolitik fortsetzen wird. …Wir rufen euch alle auf, schließt euch der wachsenden internationalen Kampagne von Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen an, um diesen Schurkenstaat zur Rechenschaft zu ziehen, der einmal mehr so viel Gewalt ausübt, ohne dass versucht wird, ihm Einhalt zu gebieten.“

Der beste Dienst, den wir den Palästinensern erweisen können, ist daher, wenigsten genauso viel Entschlossenheit und Hartnäckigkeit wie sie an den Tag zu legen und den Staat Israel und seine Helfershelfer in den westlichen Regierung für das zugefügte Leid bezahlen zu lassen. Egal ob ein dauerhafter Waffenstillstand erzielt wird oder nicht, müssen wir weiter dafür kämpfen, dass Israel in Zukunft nicht wieder ungehindert bombardieren, einkerkern, vertreiben, töten und kolonisieren kann. Weder die nationalen noch die elementaren Rechte der Palästinenser sind verhandelbar und können auf dem Altar der Interessen des israelischen Staats und seiner westlichen und arabischen Verbündeten geopfert werden. Wie die Palästinenser seit Jahrzehnten sagen: „Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben!“

Julien Salingue ist Politikwissenschaftler an der Pariser Universität VIII und Mitglied der NPA und der IV. Internationale. Seit 2001 besucht er regelmäßig die besetzten Gebiete.
Übersetzung MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 5/2014 (September/Oktober 2014). | Startseite | Impressum | Datenschutz