Galten die BRIC [1] in den letzten 20 Jahren als Schmiermittel der Weltwirtschaft, haben sich angesichts der massiven Wirtschaftskrise bes. in Brasilien und Russland die Prioritäten verschoben. Der folgende Artikel beleuchtet das Ausmaß der russischen Krise und die daraus entstehenden politischen Weiterungen.
Ilja Budraitskis
Die Wirtschaftskrise in Russland wird sich im Laufe dieses Jahres zweifelsfrei weiter verschlimmern und auch eine soziale und politische Krise nach sich ziehen. Auch wenn Vladimir Putin noch vor einem Jahr in einer seiner beliebten Fernsehansprachen „an das Volk“ wacker behauptet hat, dass die Probleme temporärer Natur und in zwei, drei Jahren behoben seien, steckt dahinter bloße illusionsgetriebene Propaganda. Die russische Staatsspitze neigt dazu, Strategie durch Taktik zu ersetzen und auf Probleme erst dann zu reagieren, wenn sie unübersehbar sind.
Diese Denkungsart beruht auf einem Anstieg des Rohölpreises in den letzten 10 Jahren, während derer die gesamte Wirtschaft des Landes einseitig an die Rohstoffexporte angekoppelt wurde. Die daraus erzielten Extraprofite vermittelten ein Gefühl zunehmender politischer Stärke und stützten zudem die ständig wachsenden Staatsausgaben, die hauptsächlich der Armee, dem bürokratischen Apparat und einem undurchschaubaren staatlichen Verwaltungssystem zugutekamen. Die Sozialausgaben wurden nur erhöht, wenn Geld übrig blieb, und Erziehungs- wie Gesundheitswesen waren immer als erste von Sparmaßnahmen betroffen.
Dieser Verfall des Sozialsystems ging einher mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung, grotesker sozialer Ungleichheit, endemischer Korruption und autoritärer Machtpolitik zum Erhalt der Privilegien und konnte nur durch den lange Zeit massiven Anstieg der Öl- und Gaspreise kompensiert werden. Aus dieser Ära datiert auch die noch immer starke Popularität von Putin, der weiterhin – und nicht zuletzt wegen seiner Brutalität – als Garant eines stetigen Aufschwungs von Russland gilt.
Jetzt gilt es jedoch für die russische Bevölkerung zu begreifen, dass die „stabile Ära Putin“ endgültig vorbei ist und dass die Eliten des Landes keinen Plan B in der Tasche haben, um sich aus dem Schlamassel zu retten. Bereits das vergangene Jahr hat gezeigt, dass die Regierungspolitik zur Bekämpfung der Krise bloß auf Sparpolitik mit russischer Note hinausläuft, die noch brutaler ist, als unter den EU-Regierungen. Ihre Zutaten bestehen in einer drastischen Kürzung der Sozialausgaben, einer mit der Brechstange durchgesetzten Rentenreform (mit der Anhebung des Rentenalters auf 65 Jahre), der Ablehnung einer gleitenden Lohnskala bei einer Inflationsrate von 12,9 % für 2015, einer Preiserhöhung und einer Steuer- und Abgabenerhöhung zulasten der Bevölkerung.
Durch den Währungsverfall des Rubel, der nur durch Stützungskäufe und die Anhebung des Diskontsatzes durch die Zentralbank abgemildert wurde, sind die kleinen und mittleren Unternehmen von Krediten abgeschnitten, was wiederum die Rezession verschärft. Der auf diesem Währungskurs beruhende Haushaltsplan für 2016 wurde unter der Annahme eines Rohölpreises von 50 $ verabschiedet. Indessen liegt der Preis inzwischen unter 30 $, sodass der Finanzminister zwar das Budget nicht nach außen hin revidieren will, aber Ausgabenkürzungen um 10 % für alle Haushaltsstellen empfohlen hat.
Verschärft wird die Lage durch die bestehende Verteilung der finanziellen Mittel zwischen Moskau und den einzelnen Regionen: Alle Einnahmen fließen zunächst in den Bundeshaushalt, um von dort aus dann auf die lokalen Haushalte verteilt zu werden. Dadurch entstehen wachsende Spannungen zwischen der Zentralregierung und den regionalen Körperschaften, die die Sparpolitik gegenüber der Bevölkerung verantworten müssen. Zugleich ergeht vom Präsidenten, der auf seine Popularität bedacht ist, öffentlich die – uneinlösbare – Aufforderung an die Regionalbehörden, ihren „sozialen Verpflichtungen“ nachzukommen.
Der drastische Rückgang der Staatseinnahmen offenbart die Schwachstellen der vertikalen Machtstruktur, die Putin geschaffen hat und die in der Kombination aus einer völligen Abhängigkeit der Lokalbehörden von der Zentralgewalt und ihrer wirtschaftlichen „Autonomie“, d. h. ihrer Verantwortung für bestimmte Ausgabenressorts besteht. Politisch geradestehen für die Sparpolitik müssen die Zentralregierung mit Dmitri Medwedew an der Spitze oder die Regionalgouverneure, aber nicht der Präsident, dessen Popularität nicht durch den fallenden Lebensstandard seiner Klientel im Volke geschmälert werden soll. Den Mächtigen im Staate gilt das Image von Putin als „Führer der Nation“ als Hauptquelle für die Legitimität der Staatsführung. Paradox dabei ist, dass die Menschen an ihren Präsidenten glauben, aber nicht an den Staat, den er repräsentiert.
Vor diesem Hintergrund des sozialen Verfalls bereitet sich Putins politischer Stab auf die kommenden Parlamentswahlen im September vor, die – wie gehabt – entlang der Vorgaben aus dem Kreml ablaufen sollen. Gegenwärtig sieht es danach aus, dass „Einiges Russland“, die Partei der Parlamentsmehrheit und des Ministerpräsidenten Medwedew, die Quittung für die wachsende Unzufriedenheit unter der ansonsten passiven Bevölkerung erhalten wird. Die „unabhängigen“ Kandidaten und die Pseudoopposition, einschließlich der Kommunistischen Partei und der Liberalen unter Schirinowski, werden über die antisoziale Politik der Regierung herfallen, während der parteilose Staatspräsident außen vor bleibt.
Allerdings könnte dieses Szenario diesmal nicht aufgehen und von Massenprotesten überrollt werden, wie dies auch nach den Wahlen im Dezember 2011 der Fall war. Im Unterschied zu damals könnte sich diesmal der politische Protest gegen das undemokratische System mit der Unzufriedenheit über die wachsende Verarmung und die neoliberale Regierungspolitik verbinden. Dafür spräche die wachsende Zahl lokaler Proteste im vergangenen Jahr, die sich gegen ausbleibende Löhne, Arbeitsplatzvernichtung oder willkürliche Steuergesetze richteten. So fanden bspw. im Dezember in fast der Hälfte der Regionen Aktionen der LKW-Fahrer gegen die exorbitant gestiegenen Mautgebühren statt und in etlichen Städten gab es Aktionen gegen die starken Kürzungen im öffentlichen Gesundheitswesen. Insgesamt wurden 2015 nach Expertenangaben 409 Protestaktionen registriert, die gegen das Arbeitsrecht verstießen, darunter 168 Arbeitsniederlegungen. Gegenüber dem Zeitraum von 2008 bis 2013 bedeutet dies eine durchschnittliche Zunahme von 76 %.
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Die Wirtschaftskrise wird im Zuge der politischen Agenda (Parlamentswahlen 2016 und Präsidentschaftswahlen 2018) zweifellos die Spannungen innerhalb der Führungselite verschärfen. Bereits jetzt zeichnen sich bestimmte Konfliktlinien ab: zwischen Moskau und den Regionalbehörden; zwischen dem Finanzministerium und der Armeelobby, die angesichts wachsender Bedrohung „von außen“ auf einen steigenden Militäretat pochen wird; und zwischen den staatlichen Körperschaften, die mehr Mittel für die Refinanzierung ihrer Schuldenberge fordern.
Um das gegebene Kräfteverhältnis nicht zu gefährden, wird das herrschende Regime unbedingt seinen außenpolitischen Kurs ändern müssen, besonders was den Krieg in der Ukraine, die Spannungen mit dem Westen und die wachsende Intervention in Syrien angeht. Bereits jetzt ergreift Moskau Initiativen, um die Sanktionen seitens der USA und der EU aufzuheben. So fanden im Januar erstmals seit der Annexion der Krim direkte Verhandlungen in Kiew zwischen Poroschenko und dem russischen Vertreter Gryzlow (aus dem inner circle von Putin) über das weitere Vorgehen im Donbass statt. Diesem Treffen gingen ausführliche Konsultationen des wichtigsten Kreml-Unterhändlers in Sachen Ukraine mit der ranghohen US-Diplomatin Victoria Nuland voraus. Für die russische Regierung ist die Aufhebung der Sanktionen essentiell, um sich mit dringend benötigtem Geld auf dem Anleihenmarkt versorgen zu können. Dies könnte dazu führen, dass die bisherige Abhängigkeit vom Rohölpreis nun durch eine neue ersetzt wird, nämlich von den internationalen Finanzmärkten.
So oder so werden wir erhebliche Neuerungen in Russland erleben und ein Ende des Putin-Regimes – zumindest in der Form, wie wir es während der fetten Jahre hoher Rohstoffpreise erlebt haben.
Übersetzung aus dem Französischen: MiWe |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 2/2016 (März/April 2016). | Startseite | Impressum | Datenschutz