Nachdem die Granden der PSOE sich mit ihrer Forderung, ein Minderheitskabinett unter Rajoy durch die Stimmenthaltung ihrer Abgeordneten zu dulden, durchgesetzt und dadurch Parteichef Sánchez zum Rücktritt gezwungen haben, scheint die Regierungskrise vorerst beendet zu sein. Die Sozialdemokratie hingegen hat sich damit in eine subalterne Position gegenüber der Volkspartei eingemauert und dürfte ihre Rolle im bisherigen Zweiparteiensystem verloren haben, wie auch ihre desaströsen Ergebnisse der Regionalwahlen in Galizien und Euskadi gezeigt haben. Da mit diesem Manöver die ehemaligen Parteichefs González und Zapatero ihre Botmäßigkeit gegenüber den Vorgaben aus Brüssel über die Daseinsberechtigung der Sozialdemokratie gestellt und damit den Niedergang der Sozialdemokratie wohl weiter beschleunigt haben, wird Sánchez versuchen, durch die Einberufung eines außerordentlichen Parteitags und eine weitere Urwahl des Parteivorsitzes den Zerfallsprozess zu stoppen, um weiterhin eine eigenständige „Alternative“ bei der Verwaltung der Kapitalherrschaft präsentieren zu können. Der folgende Beitrag wurde noch vor diesen Ereignissen verfasst, die darin dargelegten Grundzüge der Systemkrise in Spanien und v. a. des Anpassungsprozesses von Podemos haben jedoch ihre Gültigkeit nicht verloren.
Antoine Rabadan
Auf den ersten Blick liefern die Parlamentswahlen vom 26. Juni ein eindeutiges Ergebnis, wenn man sie auf bloß zwei, freilich wesentliche Fakten reduziert. Die Rechte in Gestalt der PP hat trotz ihrer Verwicklung in zahllose Korruptionsaffären gegenüber den vorigen Wahlen im Dezember 700 000 Stimmen resp. 14 Abgeordnete hinzugewonnen. Podemos hingegen, der damalige Senkrechtstarter, hat im Vergleich eine Million Stimmen verloren und die Zahl der Abgeordneten (71), die sie damals im Verbund mit regionalen Listen und den Grünen von Equo erobert hatte, nur dank der Unterstützung durch Izquierda Unida (IU) halten können. Ihr erklärtes Ziel hat sie verfehlt, nämlich die sozialdemokratische PSOE zu überholen und zur stärksten Kraft in der Linken und somit zur dezidierten Opposition zur Rechten zu werden. In der Gesamtschau jedoch relativiert sich dieser Erfolg der PP, da sie bis heute (Ende August) noch immer keine regierungsfähige Koalition – auch nicht als geduldetes Minderheitskabinett – zusammenbekommen hat, und man muss sich fragen, was mit Podemos zwischenzeitlich passiert ist.
Das aus dem „Übergang zur Demokratie“ (Transición) nach dem Tode des Diktators Franco 1975 hervorgegangene Regime steckt in einer tiefen Krise, die wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich auf die Revolte der Empörten von 2011 (15 M) zurückzuführen ist. Das Paradoxe an der temporären Niederlage war dann, dass im November desselben Jahres die PP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit erzielen konnte.
Das Zweiparteiensystem, das sich zwischen 1975 und 1978 (Verabschiedung der Verfassung) etabliert hat, gab den politischen Rahmen ab, durch den der Radikalisierungsprozess in Politik und Gesellschaft gestoppt werden konnte, der in der ausgehenden Diktatur zu immer bedrohlicheren Massenstreiks und -demonstrationen geführt hatte.
Mit der Einführung einer parlamentarischen Monarchie durch ein Einvernehmen zwischen der Rechten und der Linken (damals in Gestalt der PSOE und der KP Spaniens) etablierten sich auch die späteren Regimeparteien. Auf der Rechten wurde 1982 die Demokratische Zentrumsunion (UCD) von Adolfo Suárez, der seine „historische“ Mission, die Transición angeschoben zu haben, erfüllt hatte, durch den Vorläufer der PP, die Volksallianz AP verdrängt. Auf der Linken wurde die KP, die die wichtigste Partei im antifranquistischen Widerstand gewesen war, rasch an den Rand gedrängt und erlebte bei den Parlamentswahlen 1982 einen massiven Einbruch, während sich die beim Kampf gegen die Diktatur nahezu unsichtbare PSOE komplett verjüngt wie Phönix aus der Asche erhob. Dies war nur möglich, weil die PSOE politisch und finanziell von der deutschen Sozialdemokratie gepuscht wurde, um mit ihrer Hilfe den 1986 erfolgten Beitritt Spaniens zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG zu bewerkstelligen.
Mit der Transición gelang es, das politische Geschehen weg von den Protesten auf den Straßen und in den Betrieben zu holen und ins Parlament zu verlagern, wo es sich in ausgewogenen und kontrollierten Debatten erschöpfte. Während es sich unter der Diktatur noch in Stillschweigen geübt hatte, schwang sich dies Parlament nunmehr zur exklusiven Wirkungsstätte der Demokratie schlechthin auf und entzog dadurch der außerparlamentarischen Opposition die Legitimität. Dieses Manöver blieb auch lange erfolgreich und prägte nachhaltig die politische Landschaft.
In der gesamten Zeit von 1982 bis 2008 dominierten die beiden Regimeparteien die Wahlen, bei denen sie jeweils stets mit 50 % (1989) bis 63 % (1982) der Stimmen gewinnen konnten. Den Auftakt dabei bildete 1982 die Sozialdemokratie unter Felipe González, der sich 14 Jahre an der Regierung hielt. Nach Jahren des Aufschwungs kam 2011 dann der relative Einbruch, als erstmals seit 1989 die Schwelle von 50 % für die Regierungspartei nur knapp überschritten werden konnte. Dies war dann freilich erst der Auftakt zum späteren Absturz im Dezember 2015 (35 %), der auch bei den Neuwahlen im Juni 2016 mit 38 % nur wenig gemildert werden konnte.
Dasselbe Bild ergibt sich, wenn man die Stimmen (gemessen an den Wahlberechtigten) für die beiden Systemparteien im Zeitraum 1982–2011 zusammen betrachtet, die stets zwischen 72 % und 83 % lagen. Dieser Spitzenwert wurde im Krisenjahr 2008 erzielt, als José Luis Zapatero trotz der unübersehbaren Vorboten der Wirtschaftskrise (wiederkehrende Inflation und zunehmende Arbeitslosigkeit) seine Wiederwahl sichern konnte. Bereits 2011 jedoch wurde dieser Spitzenwert mit „bloß“ 73 % um 10 % unterschritten, während zugleich die Wahlbeteiligung zurückging. Der freie Fall, nämlich auf 50 %, erfolgte dann im Dezember 2015 und konnte mit den 55 % im Juni 2016 nicht substantiell aufgefangen werden.
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Insofern kann man sagen, dass das bestehende Regime infolge der Bewegung der Empörten und drei Jahre später der Entstehung von Podemos einen historischen Einbruch an Attraktivität und Legitimität erlebt hat. Dafür spricht auch, dass erstmals in der Geschichte des Landes eine Neuwahl nach sechs Monaten erfolgen musste und gar eine weitere droht. Obendrein besteht momentan durch die fehlenden Mehrheitsverhältnisse ein Zustand eingeschränkter Regierungsfähigkeit. Insofern lässt sich von einer langfristigen Nachwirkung der Protestbewegung von 2011 sprechen, die das gewohnte Zweiparteiensystem mit einem Wechsel von PP und PSOE an der Regierung erschüttert hat.
Die systemtreue Tageszeitung El País beklagt, dass „die Legislative so lange wie noch nie in ihrer demokratischen Funktion gelähmt ist. Das Abgeordnetenhaus hat seit neun Monaten kein einziges Gesetz mehr verabschiedet und die Regierung steht seit nahezu zehn Monaten nicht mehr unter parlamentarischer Kontrolle. Über 2500 Anfragen der Abgeordneten an die Exekutive sind unbeantwortet. Die Experten warnen bereits, dass die Blockade einer der drei Staatsgewalten gegen die Regeln der Verfassung verstößt und schwere Konsequenzen drohen.“ Selbst der Haushaltsplan für 2017, in dem eine Beschränkung der Staatsausgaben und eine Reduktion der Neuverschuldung gemäß der nachdrücklichen Vorgaben der EU-Kommission vorgesehen sind, steht in Gefahr und damit die Raison d’être der herrschenden Politiker.
Eine Große Koalition nach deutschem Vorbild, wie sie von den Granden der PSOE propagiert wird, scheint vorerst ausgeschlossen zu sein, weil die gegenwärtige Parteiführung um Pedro Sánchez blockiert. Weniger aus politischer Überzeugung – denn so etwas liegt diesen Herren fern – sondern aus einer politischen Kosten-Nutzen-Rechnung heraus, dass davon nur die Protestbewegung und Podemos – trotz der inkohärenten Linie dieser Partei – profitieren würden. Viel zu stark wiegt noch die Wahlniederlage von 2011 nach und eine Große Koalition könnte den Absturz beschleunigen.
Wie erwähnt lag das Wahlergebnis im Juni für die Partei weit unterhalb der Prognosen. Trotzdem muss dies Scheitern vor dem Hintergrund der tiefen Systemkrise des herrschenden Zweiparteiensystems gesehen werden, für deren Entstehung Podemos trotz ihrer Schwächen mithin ausschlaggebend ist. Denn trotz des relativen Rückgangs von 16 % gegenüber den Wahlen vom Vorjahr konnte Podemos im Juni über fünf Millionen Wähler mobilisieren und damit – im Bündnis mit anderen politischen Kräften – viermal so viel wie vor zwei Jahren allein bei den EU-Wahlen – gerade mal vier Monate nach der Gründung. Die Formation unter dem Label „Unidos Podemos“ bildet noch immer einen mit dem System inkompatiblen Anziehungspunkt, dessen Wahlergebnis fast 40 % des Stimmenanteils ausmachen, den die beiden Systemparteien zusammen erhalten haben.
Deren Verluste sind teils durch zunehmende Wahlenthaltung entstanden, teils auch durch Wählerwanderung zu Podemos oder Ciudadanos, die fast halb so viel Stimmen wie die PP erzielen konnten und damit eine systemimmanente Wählerreserve bilden – allerdings außerhalb des traditionellen Zweiparteiensystems. Und genau darin liegt das Verdienst von Podemos, nämlich im Gefolge der Proteste von 2011 zu der Systemkrise und der gegenwärtigen Lähmung an der Regierung beigetragen zu haben.
Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Podemos im Begriff ist, sich von ihren Wurzeln in der Protestbewegung trotz der wechselseitigen Befruchtung zu lösen und sich in den bestehenden politischen Alltag zu integrieren. Dort agieren „vernünftige“ Leute, die um Einigung bemüht sind und den institutionellen Rahmen nicht sprengen wollen, der trotz aller Schwächen das System von 1978 aufrecht erhält. Die Festlegung auf den Elektoralismus, die Ende 2014 auf dem Kongress von Vistalegre erfolgte und deren scheinradikale Losung vom „Himmel, den es im Sturm zu erobern“ gälte, im Verbund mit dem charismatischen Auftritt von Pablo Iglesias die Sinne der Mitglieder vernebelte, sowie die zwischenzeitlichen Wahlerfolge als scheinbare Bestätigung dieser Linie haben die Partei immer weiter zu einer Maschinerie verwandelt, die nur noch für Wahlen auf die Beine zu bringen ist.
Über diesen Aspekt ist bereits hinreichend geschrieben worden [1], hier soll nur ein zentraler Punkt hervorgehoben werden, nämlich die Entscheidung, gemeinsam mit der PSOE eine Regierung „für den Wandel“ bilden zu wollen, auch wenn diese sich vorerst sträubt. Vergessen soll werden, dass die PSOE bis vor kurzem und noch nach dem Kongress von Vistalegre, als die Fixierung auf die Wahlen noch nicht alle Schranken niedergerissen hatte, als Teil der politischen „Kaste“ galt, die strukturell mit ihrem konservativen Alter Ego in Gestalt der PP verbandelt ist. Die Führung um Iglesias revidiert damit die bisherige politische Ausrichtung und bricht mit dem zentralen Anliegen der Protestbewegung von 2011, der radikalen Gegnerschaft zum bestehenden System. Die vor den Europa-Wahlen hochgehaltene Abgrenzung gegen die bestehende Ordnung schwindet damit oder wird sogar mit Füßen getreten. Die Hoffnung auf eine wirkliche Alternative, die zumindest unter den enthusiastischsten Anhängern herrschte, weicht dem grauen Alltag einer Regierungsbeteiligung, die für einen Regimewandel stehen soll – eine Quadratur des Kreises.
Die Kür der PSOE zum Wunschpartner an der Regierung geht einher mit einer opportunistischen Verfälschung der jüngeren Geschichte, als Pablo Iglesias während der letzten Wahlkampagne José Luis Zapatero zum besten Regierungschef seit Bestehen der spanischen Demokratie erklärt hat. Damit gerät in Vergessenheit, dass u. a. gegen dessen Regierung und namentlich gegen dessen Reform des Arbeitsrechts die Protestbewegung von 2011 ihren Aufschwung genommen hat.
Ein weiteres Beispiel für Zapateros politisches Wirken ist die Verfassungsänderung, die er mit den Stimmen der PP im September 2011, zu einem Zeitpunkt also, als die Bewegung der Empörten abgeflaut war, verabschieden ließ. Diese Änderung des Artikels 135 der Verfassung unterwirft die gesamte Haushaltspolitik und alle öffentlichen Ausgaben der Maßgabe, dass die von der EU vorgegebene Defizitquote und Begrenzung der Staatsverschuldung eingehalten werden. Notabene wurde diese Verfassungsänderung, mit der jedwede Sozialpolitik durch Sparzwänge torpediert wird, auch mit der Stimme des von Iglesias mittlerweile hochgeschätzten und damaligen Abgeordneten Pedro Sánchez verabschiedet, selbst wenn sich dieser heute halbherzig davon distanziert. Wie kommt die Führung von Podemos unter diesen Umständen zu der Behauptung, dass es auf der Grundlage wesentlicher programmatischer Übereinstimmung zwischen PSOE und Unidos Podemos möglich sei, eine Politik des „Wandels“ zu betreiben, ohne im geringsten dabei zu bedenken, dass die neoliberale Verfasstheit der EU einem solchen „Wandel“ entgegensteht?
Daneben spricht es Bände, dass Podemos ohne Weiteres auf die vereinbarte Abschaffung dieser Verfassungsänderung verzichten will oder – entgegen ihrer wahlprogrammatischen Aussagen – die Frage des Selbstbestimmungsrechts Kataloniens nicht mehr durch die Betroffenen entscheiden lassen will, um dadurch der in diesem Punkt unverrückbaren PSOE entgegen zu kommen. Ein weiteres Zugeständnis an die Sozialdemokratie war die Revision des geforderten staatlichen Konjunkturprogramms aus dem Wahlkampf von 2015 von 90 Milliarden Euro auf 60 Milliarden beim Wahlkampf vom Juni 2016.
Dabei bildet das Verhältnis zur PSOE nur den augenfälligsten Meilenstein des politischen Richtungswechsels einer Partei, die gegen das System angetreten ist und nunmehr in einer Dynamik gefangen ist, die sie immer näher an das System heranführt und sie dabei zunehmend an Attraktivität verlieren lässt. Nach den Wahlen 2015 hat sich die PSOE zu der Umwerbung durch Iglesias unmissverständlich verhalten, indem sie eine ménage à trois vorgeschlagen hat, nämlich mit Ciudadanos, die wiederum eine ménage à quatre vorziehen – mit der PP. Die Weigerung von Podemos und seiner Partner von Unidos Podemos, dieses Schmierentheater mitzuspielen, hat der Partei in diesem Schauspiel die wenig verlockende Rolle eines gehörnten Ehepartners verschaff, der als enttäuschter Liebhaber unermüdlich versichert, über die erlittene Abfuhr hinwegzusehen und jederzeit für eine dauerhafte Beziehung mit der PSOE zur Verfügung zu stehen. Die wiederum hat sich bei Ciudadanos eine Abfuhr geholt, die der Zickzackmanöver überdrüssig waren und lieber mit der PP anbandeln wollten, um mit ihr über eine Regierungsbildung zu verhandeln.
Statt nur im Geringsten zu verstehen, dass der Einbruch bei den Wahlen im Juni damit zusammenhängt, dass die Partei von der radikalen Systemkritik aus der Tradition der 15M abgerückt ist, statt sie auf die politische Ebene zu heben, hält die Führung von Podemos an ihrem Anpassungskurs fest und forciert ihn sogar. Man betrachte nur den Auftritt von drei Führungsfiguren von Podemos, darunter Pablo Iglesias, bei der Sommerschulung in der Universität Complutense Madrid (UCM) am 4. Juli, um diese Anbiederung und das Bestreben um politische Mäßigung zu erkennen. [2]
Bei dieser strategischen Revision geht es immer wieder um die Stimmenverluste bei den diesjährigen Parlamentswahlen. Die Stimmenthaltung von Teilen ihrer Wählerschaft wird von Podemos völlig willkürlich als ein Signal dafür interpretiert, dass man auf die „Bremse treten“, wie Errejón offen sagt, und sich von den alten Konzepten verabschieden müsse, da deren Radikalismus diese Leute nur abgeschreckt hätte. Mit der ihm eigenen Flapsigkeit beschreibt Iglesias die neue Lage, die durch die Wahlverluste entstanden ist: Das alte „Modell Podemos“ mit seinen Vorstellungen vom außerparlamentarischen Kampf – von „Blitzkrieg und Bewegungskrieg“ sprach die Führung damals in der ihr eigenen Gramscianischen Diktion – habe sich seit den Wahlen vom Dezember 2015, eigentlich schon seit den Kommunalwahlen im Mai 2015 überlebt.
Die Führung argumentiert, dass jetzt der Übergang zu einem langwierigen „Stellungskrieg“, in dem man die parlamentarische Verankerung vertiefen und ein Bündnis mit der als Garant des Wandels angesehenen Sozialdemokratie anstreben müsse, anstünde. Dabei verschweigt sie, dass genau das monatelange Streben nach einer Verständigung mit der Sozialdemokratie im Gefolge der Parlamentswahl 2015 zu dem Einbruch bei den Wahlen im Juni geführt hat. Fakt ist, dass bei der o. g. Veranstaltung in der UCM die Parteiführung offen für einen Paradigmenwechsel eintritt, den sie bereits unter der Hand vollzogen hat, ohne die Basis in diese Entscheidung einzubeziehen. Nachdem vollendete Tatsachen geschaffen worden sind, kann man nun offen sprechen: Podemos muss und wird, da die Systemkrise – zumindest vorläufig – vorüber sei, zu einer „normalen Partei“ werden, so normal, dass sie die PSOE für sich gewinnen kann, die auf wundersamen Wegen zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln zurückgefunden habe.
Um diese Behauptung zu stützen, schreckt die Führung von Podemos sogar vor einer Geschichtsrevision über die Transición nicht zurück, die ja schließlich eine schützenswerte demokratische Verfassung ermöglicht habe, wie Luis Alegre meint. In diesem Plädoyer für das herrschende System findet sich kein Wort über die Funktion der Transición, nämlich mit der Amnestierung der Franquisten die wesentlichen Elemente der Politik und Wirtschaft der Franco-Ära hinübergerettet zu haben, in der Ära Felipe González eine unkontrollierte Umstrukturierung der Industriewirtschaft in Gang gesetzt zu haben, eine a priori kastrierte und autoritär geprägte Demokratie eingeführt zu haben und die Reichen durch Steuererleichterungen immer reicher, die Armen durch niedrige Löhne hingegen immer ärmer gemacht zu haben, um so den Eintritt in die EU unter „wettbewerbsfähigen“ Bedingungen vollziehen und sich darin behaupten zu können. Von wegen zurück zu den sozialdemokratischen Wurzeln! Stattdessen regiert in der PSOE der finsterste neoliberale Ungeist, worüber die Podemos-Spitze natürlich kein Wort verliert.
Die Anbiederung an die PSOE unterstreicht Iglesias mit der bemerkenswerten Formulierung: „Wir haben in Madrid und Valencia [wo Podemos im Bündnis die Kommunalwahlen gewonnen hatte] gelernt, dass man die Verhältnisse aus den Institutionen heraus ändert. Die schwachsinnige Behauptung aus unseren linksradikalen Kindertagen, dass die Verhältnisse auf den Straßen und nicht von den Institutionen aus geändert werden, war bloß eine Lüge.“ [3]Abgesehen davon, dass hier eine grobschlächtige, wenn auch selbstkritisch ummantelte Bilanz der radikalen Linken in Spanien gezogen wird, lautet die zentrale Aussage dieser Polemik, dass die Mobilisierungen an der Basis nicht mehr der Hebel zur Änderung der Verhältnisse sind, sondern allenfalls Begleitmusik, und dass Podemos kein Interesse daran hat, diese Basisbewegungen zu fördern und zu unterstützen, um auf diesem Wege die Kräfteverhältnisse zu beeinflussen und das System zu ändern.
Um diesen Positionswechsel zu rechtfertigen, distanziert sich Iglesias davon, dass die Politik wieder auf der Straße gemacht werden könnte, wobei die Fehler der Vergangenheit vermieden werden müssen, und verweist darauf, dass Podemos entstanden ist, als die Bewegung 15M rückläufig war. Die Messe ist gelesen und man wird nicht mehr auf eine Podemos-Führung zählen können, die sich auf die parlamentarische Option versteift und in der lediglich Monedero, wie gewohnt, den Finger auf die Wunde legt oder ein paar Vorbehalte gegenüber dem Kurswechsel äußert und stattdessen an der Tradition der 15M festhalten bzw. wieder daran anknüpfen will. Es geht nur noch darum, aus dem klassischen Zweiparteiensystem als Erbe der Transición ein Dreiparteiensystem aus PP, PSOE und Podemos zu machen, das uns als künftige Neuversion des Zweiparteiensystems verkauft werden soll: die „Fortschrittlichen“ (PSOE + Podemos) gegen die „Konservativen“ (die PP, die nach Iglesias’ Worten langfristig die Ciudadanos schlucken wird). Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass nicht Podemos beim Versuch, sich die PSOE der 70er Jahre herbeizuphantasieren und sich deren Überbleibsel einzuverleiben, dasselbe Schicksal erleidet wie weiland die KP, die beim Marsch durch die Institutionen zur Randfigur wurde.
Was lässt sich in einer solchen Situation des parlamentarischen Stillstands und der politischen Degeneration von Podemos erhoffen?
Es ist nicht auszuschließen, dass es erneut zu Neuwahlen – voraussichtlich am 25. Dezember – kommt, wenn die PP nicht durch Stimmenthaltungen aus den Reihen der PSOE eine Regierung bilden kann. Ebenso wenig lässt sich ausschließen, dass die PSOE und Unidos Podemos anschließend eine Regierungskoalition bilden, die dann – angesichts der Kompromissbereitschaft der Podemos-Spitze – mit weiteren politischen Zugeständnissen einhergehen wird. Natürlich vorausgesetzt, dass die Neuwahlen entsprechend ausgehen, was keinesfalls ausgemacht ist, aber angesichts der Unpopularität von Rajoy und seiner korrupten Entourage denkbar ist. Einfacher wäre noch, dass es zu einem parlamentarischen Abkommen zwischen PSOE, Podemos und katalanischen und/oder baskischen Nationalisten kommt, die eine „Regierung des Wandels“ ermöglicht, zugleich aber zu einem Desillusionierungsprozess führt wie 2012 in Frankreich, als die Hoffnungen derer, die „Alles, bloß nicht Sarkozy“ haben wollten, rasch verflogen. Daran würde auch die Regierungsbeteiligung „radikaler Scharfmacher“ im Gefolge von Iglesias wenig ändern, da die bereits ihre radikalen Überzeugungen im Vorfeld abgelegt haben und den Weg von Syriza noch vor der Regierungsteilhabe gegangen sind. Der Unterschied zu Griechenland ist bloß, dass nicht zugleich die PSOE eine solche Implosion wie die PASOK erlebt hat.
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Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass die Verhältnisse bei Podemos ins Rollen geraten, v. a. was die autoritäre Entscheidungsstruktur im Innern anlangt, die der Parteiführung freie Hand für den genannten Richtungsschwenk lässt. Dies zu ändern, wäre unerlässlich, freilich nicht ausreichend, um wieder eine dezidiert antikapitalistische Orientierung auf den Weg zu bringen, die auf einer Protestbewegung fußt, die entschlossen gegen das Diktat der Troika kämpft und auf diesem Weg eine – ansonsten zwangsläufige – Entwicklung wie in Griechenland verhindert, wo die Weigerung, gegen die neoliberal-kapitalistische Ausrichtung der EU zu kämpfen, die Niederlage vorprogrammiert hatte.
Noch ist der Kampf um Podemos nicht verloren, sofern sich die Basis die Macht zurückerobern kann. Dies zeigen bspw. die Vorwahlen von Podem in Katalonien, wo die Opposition gegen die Parteizentrale unter Iglesias mit Unterstützung der AntikapitalistInnen erfolgreich für den Vorsitz kandidierte. Oder dass die Stellungnahmen von 400 Basisverbänden („Kreisen“) von der Parteiführung offiziell zur Kenntnis genommen werden mussten, die sich überwiegend kritisch gegen die Wahlkampagne zum 26. Juni gerichtet haben, da diese „zu sehr vom Geist der Sozialdemokratie statt von Rebellion“ getragen war. Allerdings werden die AntikapitalistInnen keinen leichten Stand haben, nicht nur, weil sie in ihrer Autonomie durch die undemokratische Funktionsweise der Organisation beschnitten werden, sondern auch, weil sie wider Willen in Wahlkampagnen eingespannt werden, deren politische Ausrichtung nur zur Desorientierung an der Basis und zur Erstickung der dort noch vorhandenen rebellischen Stimmung führen kann. Hier droht eine Entwicklung, wo Podemos spiegelbildlich zu Ciudadanos vom neuen „Stern am politischen Firmament“ zum bloßen Satrapen im jeweiligen Lager verkommt, die Einen an der Seite der PSOE, die Anderen unter der PP. Davon würden nur die alten Systemparteien und natürlich die Kapitalherrschaft im Spanischen Staat profitieren, die flexibel genug sind, ihren Fortbestand durch neue politische Konstellationen zu sichern.
Es ist höchste Zeit, die Orientierung auf die Institutionen und damit die Kanalisierung der Proteste – sei es nach 1978 oder nach 2011 – zu revidieren und die Politik wieder auf die Straße zu tragen. Dies heißt nicht, dass man sich der Teilnahme an Wahlen a priori verschließen müsste, sondern nur, dass man nicht in die Falle des Elektoralismus treten darf, so wie die jetzige Führung von Podemos.
Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 6/2016 (November/Dezember 2016). | Startseite | Impressum | Datenschutz