Bei den Wahlen der beiden italienischen Parlamentskammern (Abgeordnetenhaus und Senat) am 4. März bestätigten sich die Prognosen, wonach keine der angetretenen Parteien oder Koalitionen die absolute Mehrheit erobern konnte. Insofern gestalten sich die laufenden Absprachen und Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung äußerst kompliziert.
Franco Turigliatto
Das Ergebnis und die mit 75 % recht geringe Wahlbeteiligung zeigen, wie dramatisch die politische und soziale Lage im Lande ist nach der jahrelangen Austeritätspolitik und den andauernden Niederlagen und Spaltungen der lohnabhängigen Klassen und der sozialen Bewegungen. Zugleich unterstreicht es, wie sehr sich das Kräfteverhältnis zulasten der Arbeiterklasse verschlechtert hat und in welch großen Problemen die gesamte Linke aller Schattierungen steckt.
„Die Wahlen zeigen auf, wie weit das Land nach rechts gerückt ist. Eine nahezu zwangsläufige Folge der schweren Niederlagen der Arbeiterklasse in den letzten Jahren und der Politik der ganzen vorangegangenen Regierungen unter der PD (Partito democratico), unter der sich die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung ständig weiter verschlechterten, die Rechte abgebaut und die sozialen Errungenschaften geschliffen wurden. Die dafür verantwortlichen Parteien haben nun die Quittung erhalten, nämlich die PD und ihre Bündnispartner Liberi e Uguali (ein kürzlich gegründetes Wahlbündnis aus jüngeren Abspaltungen der PD), deren Führer bis zuletzt die jeweiligen Regierungen unterstützt haben. Damit ist auch der von ihnen angestrebte Wiederauf bau der linken Mitte gescheitert. Verloren hat auch Forza Italia, das nunmehr auf die Rolle des Juniorpartners der Lega innerhalb des Rechtsbündnisses zurückgefallen ist, wohingegen die Postfaschisten gestärkt daraus hervorgegangen sind.“, so die Erklärung von Sinistra Anticapitalista zu den Wahlergebnissen.
In der Tat haben die Rechten zugelegt und 37 % der Stimmen erzielt, wobei sich das Binnenverhältnis jedoch entscheidend geändert hat und die Lega (vormals Lega Nord) mit 17,37 % Berlusconis Forza Italia (14,01 %) deutlich überflügelt hat. Fratelli d’Italia kam auf 4,35 %. Mit bloß 18,72 % der Stimmen verlor die PD Millionen von Wählern und schaffte es auch mit ihrer Koalition nur auf 22,85 %. Die Bewegung Cinque Stelle (M5S) übertraf mit 32,68 % die Erwartungen und wurde stärkste Partei, wobei sie besonders von Wechselwählern der PD profitierte und im Süden enorme Gewinne einfahren konnte.
Das aus den Abspaltungen der PD hervorgegangene Bündnis Liberi e Uguali schaffte es mit mageren 3,3 % nur knapp über die Sperrklausel und erzielte nur halb so viele Stimmen wie von ihren Spitzenkandidaten erwartet. Die radikale Linke um Potere al Popolo, die sich erst vor drei Monaten als Bündnis konstituiert hatte, erreichte zwar nur bescheidene 1,13 % (370 000 Stimmen), was aber immerhin zeigt, dass es ihrer bedarf und alte und neue Aktivist*innen sich dafür engagiert haben.
Das Wahlergebnis resultiert aus der Krise der organisierten Linken, aus der schwindenden politischen Rolle der Arbeiterklasse, einer allgemeinen Desorientierung angesichts der umfassenden kapitalistischen Krise und aus der mittlerweile Jahrzehnte währenden Austeritätspolitik, für die auch vorgeblich linke, sozial(neo)liberale Parteien verantwortlich gezeichnet haben. Zudem sind weite Teile des Proletariats demoralisiert, und in der einfachen Bevölkerung überwiegen Wut und Verzweiflung den Willen zum organisierten Widerstand. Und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Bevölkerung schreien nach einer sofortigen Lösung und schüren die Illusion, dass neue politische Kräfte ihr dabei helfen könnten, wo doch die Vorgängerregierungen stets versagt haben.
Im Süden, wo Arbeitslosigkeit und Armut noch dramatischer sind, hat dieser Drang zu einem Wandel zum Erdrutschsieg der M5S geführt, während sich im Norden breite Schichten des Klein- und mittleren Bürgertums, vom Händler bis zum Handwerker, angesichts des wirtschaftlichen Wettbewerbsdrucks der Lega zugewandt haben. Von ihr erhoffen sie die Wahrung ihrer Besitzstände und eine Antwort auf die ungewisse Zukunft und ihre Ängste, die auch aus rassistischen und fremdenfeindlichen Impulsen rühren.
Da kein kollektiver Ausweg aus dieser Krise in Sicht ist, hat sich der Trugschluss durchgesetzt, diejenigen zum Sündenbock zu machen, die noch schlechter dran sind – die Immigrant*innen und Flüchtlinge, die noch Ärmeren und deren Hilfsorganisationen (Basisinitiativen und NGO). Die Rechten haben dabei ihre Agenda und Propaganda erfolgreich durchgesetzt, was Einwanderung, öffentliche Sicherheit und Steuern angeht, und überbieten sich gegenseitig in widerwärtigen Auftritten und infamen Rezepten gegen die Wehrlosesten in dieser Gesellschaft, namentlich die Flüchtlinge. Besonders tut sich dabei die Lega von Salvini hervor, der mit seiner Propaganda die Köpfe der einfachen Leute erreicht und sein rassistisches und faschistisches Gift verspritzt. Diese Mentalität, die die Herzen und Hirne erobert hat, wieder auszutreiben, wird lange dauern und setzt voraus, dass wieder starke demokratische, solidarische und klassenkämpferische Bewegungen entstehen, die sich zum Sprachrohr der lohnabhängigen Bevölkerung und ihrer Belange im Alltag und am Arbeitsplatz machen.
Zweifellos hat es in den vergangenen Jahren auch Kämpfe und Mobilisierungen in Italien gegeben, etwa gegen die neoliberalen „Reformen“ der Regierung, die Rentenreform, die Arbeitsrechtreform, die Deregulierung der Arbeitsplätze oder den Raubbau im öffentlichen Bildungswesen. Zumeist jedoch verliefen sie zeitlich begrenzt und voneinander isoliert. Für die Niederlagen waren auch die Gewerkschaftsbürokraten verantwortlich, die mit der PD gemeinsame Sache machten und eine konsequente Gegenwehr sabotierten, auch wenn es bereits massive, andauernde Proteste gegeben hat, wie etwa im Bildungswesen. Wenn es um das zentrale Anliegen der Verteidigung der Arbeitsplätze ging, setzten die Gewerkschaftsführungen allenfalls auf betriebliche Gegenwehr der Lohnabhängigen, statt eine gemeinsame Plattform für diese Kämpfe zu schaffen oder gar eine landesweite Mobilisierung. Wenn Tarifverträge für die Beschäftigten neu ausgehandelt wurden, führten sie stets zu Verschlechterungen sowohl der Löhne als auch der Rechte, so dass man am Ende gar von „Verzichtsverträgen“ sprach, in denen die Arbeiter den Unternehmern ihre Errungenschaften aus den 70er Jahren auf dem Silbertablett anbieten würden.
Mit dem am 4. März unterzeichneten Abkommen („Inhalte und Leitlinien der Arbeitsbeziehungen und Tarifverhandlungen“) zwischen den drei großen Gewerkschaften CGIL, CISL und UIL und dem Unternehmerverband Confindustria (dem die meisten Unternehmen, nicht jedoch Fiat/Chrysler) angehören) sollen die „sozialpartnerschaftlichen“ Verhältnisse zwischen den Unterzeichnern und die Rolle des Gewerkschaftsapparats festgeschrieben werden. Darin wird ein Regelwerk eingeführt, das die Arbeiter*innen in ein regelrechtes Zwangskorsett presst und ihre Möglichkeit drastisch beschränkt, für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu kämpfen.
Ohnehin hat sich die Lage in den Betrieben erheblich verschlechtert, da die Unternehmer zum Mittel der Erpressung greifen können, um die Arbeitszeiten umzugestalten und die Arbeit zu verdichten, während die kollektive Gegenwehr der Gewerkschaften ausbleibt. Insofern findet die radikale Linke mit ihren Positionen durchaus Gehör unter den betroffenen Arbeiter*innen. Trotzdem aber geben sie zu, die M5S wählen zu wollen, „weil diese ihre letzte und einzige Hoffnung“ sei.
Die drei politischen Blöcke PD, Rechtskoalition und M5S überbieten sich gegenseitig darin, Sachwalter des italienischen Kapitals sein zu wollen. Entsprechend war auch ihr Wahlprogramm eine einzige neoliberale Agenda im Dienste der herrschenden Klasse. Dass die rechte Koalition aus Forza Italia, Lega und Fratelli d’Italia auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus und faschistoides Gedankengut setzt, liegt auf der Hand. Daher war es nur logisch, dass sie sich mit der Einführung der „flat tax“ eine weitere Steuersenkung für die Reichen auf die Fahne geschrieben hatte. Im Grunde aber steht die PD nicht dahinter zurück, indem sie in den letzten Jahren den Unternehmern 40 Milliarden Euro an Steuern und Sozialabgaben erlassen und prekäre Beschäftigung und unsichere Arbeitsverhältnisse (besonders mit der „Reform“ des Arbeitsrechts) gefördert hat, zugleich jedoch die Militärausgaben um 3 % erhöht und unter Gentiloni und dem Innenminister Minniti Truppen nach Afrika entsandt hat, um dort neokoloniale Verhältnisse zu schaffen.
Die M5S war einst als Alternative zum herrschenden System angetreten, offenbart sich mittlerweile jedoch als dessen loyaler Sachwalter und beteuert gegenüber den europäischen Institutionen und der Bourgeoisie ihren „guten Willen“ zur Einhaltung des Fiskalpaktes. Dabei spart sie nicht mit reaktionärem und xenophobem Gedankengut, um unter der rechten Wählerschaft zu wildern.
Ein noch beunruhigenderes Phänomen dieses Wahlkampfs war, dass die extreme und faschistische Rechte nach jahrelanger Verharmlosung wieder voll rehabilitiert erscheint. Durch die Repression antifaschistischer Demonstrationen hat ihr das Innenministerium wieder freien Aktionsradius verschafft und ihre politische Salonfähigkeit ist durch das mediale Geschwätz über die Inexistenz einer faschistischen Gefahr wiederhergestellt worden. Ihr Hauptvertreter Casa Pound kam auf 1,1 % der Stimmen und gemeinsam mit Forza Nuova auf 1,3 %, entsprechend fast 440 000 Wähler*innen. Dies mag zwar überschaubar anmuten, spiegelt aber nicht den realen gesellschaftlichen Einfluss und die von ihren Schlägertrupps ausgehende Gefahr wider. Wie weit dieser Rassismus und der Hass gegen die Migrant*innen gediehen sind, zeigen die Aggressionen der letzten Zeit, die bis zum tatsächlichen Mord (wie an einem Nigerianer in Florenz) oder Mordversuchen an Flüchtlingen (wie in Macerata) reichen.
Welche Verantwortung der Staat an dieser menschenverachtenden Entwicklung trägt, zeigte sich im letzten Sommer, als der Innenminister Minniti (vormals PCI) eine Flüchtlingspolitik aus der Taufe hob, die nur als staatlicher Rassismus bezeichnet werden kann. Waren die Flüchtlingsrouten durch die Beendigung der Operation „Mare Nostrum“ und den Übergang zur Operation Frontex bereits erheblich reduziert und zu einem noch gefährlicheren Abenteuer geworden, wurden die wenigen durch humanitäre Flüchtlingsorganisationen offen gehaltenen Routen nunmehr definitiv geschlossen. Flüchtlinge sollen jetzt in libysche Lager zurückgeschickt werden oder – besser noch – gleich in der Wüste aufgehalten werden. Gestorben werden soll also nunmehr fernab von unseren Augen. In trauter Eintracht mit der französischen Regierung werden Solidarität und Flüchtlingshilfe – ob auf dem offenen Meer oder in den schneebedeckten Alpen – zum Delikt erklärt. Wenn sich solche rassistischen Surrogate anbieten, dann griffen viele Wähler am 4. März doch lieber gleich zum Original und wählten die Lega oder die Faschisten.
Auf ihrer Versammlung in Verona am 16. Februar hatte der Unternehmerverband seinen Mitgliedern und der Kapitalistenklasse im Ganzen eine frohe Botschaft zu verkünden: Die Wirtschaft wuchs im vergangenen Jahr wieder um 7 %, ebenso der Export, Italien liegt als Hersteller von Industriegütern hinter Deutschland an zweiter Stelle in Europa und 20 % der Unternehmen sind bereits in der Industrie 4.0 angekommen - mit steil wachsender Tendenz. Die Profite gehen steil nach oben, ebenso die Dividenden für die Aktionäre. Zwar ist noch nicht wieder der dramatische Einbruch der Industrieproduktion im Gefolge der Krise 2007/08 (-27 %) aufgefangen worden und noch viel weniger der Verlust von einer Million Arbeitsplätze, aber diese letzten 10 Jahre haben die Unternehmer genutzt, um die Industrie grundlegend umzustrukturieren, die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit radikal zu verändern und eine breite industrielle Reservearmee und ein Heer schlecht bezahlter und prekär Beschäftigter aufzubauen.
Als wahrhafter Segen für die italienischen Kapitalisten entpuppten sich die zahlreichen „Reformen“ des Arbeitsrechts unter Renzi und Gentiloni (etwa der Jobs Act, der freie Hand bei Entlassungen gewährt), die Einführung eines dualen Schulsystems (Buona scuola), die Senkung der Sozialabgaben und die drastische Erhöhung der Abschreibungsmöglichkeiten, die Milliarden in die Unternehmenskassen gespült haben.
Für die Banken ist die Situation nicht gar so rosig, aber Regierung und Staat gaben ihr bestes, die rettende Hand aufzuhalten. Schienen die italienischen Kreditinstitute noch vor wenigen Jahren der europäischen Bankenkrise entkommen zu sein, so kamen am Ende doch etliche hundert Milliarden Euro an faulen Krediten ans Tageslicht, die nur zum geringen Teil durch die EZB-Intervention abgeschrieben waren. Bislang sind sieben Banken zusammengebrochen und dabei zeigte sich, dass das 1990 von der ersten Mitte-Links-Regierung eingeführte Gesetz eine völlig korrupte und den Augen der Öffentlichkeit und der Kontrolle durch die Zentralbank entzogene Unternehmensführung ermöglicht hat. Ein Konkurs der Monte dei Paschi di Siena, dem Paradepferd der PD, konnte nur durch eine Intervention der Regierung in Höhe von 20 Milliarden Euro verhindert werden. Mit ähnlichen Summen wurden zwei venezianische Banken aufgefangen, die anschließend für einen symbolischen Euro an die zweitgrößte Bank Italiens, die Banca Intese Sanpaolo verkauft wurden.
Die Gründe für die Stärke der italienischen Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse als Ganze nach den großartigen Kämpfen der 60er und 70er Jahre waren folgende:
Landesweit geltende Branchentarifverträge, die einheitliche Löhne und Rahmenbedingungen gewährleisteten und insofern die Einheit der Arbeiterklasse und die Kampfbereitschaft förderten;
Das Arbeitsrecht, das die gewerkschaftlichen Kollektiv- und Individualrechte festlegte, insbesondere der Artikel 18, der die Wiedereinstellung eines zu Unrecht, also nicht betriebsbedingt entlassenen Beschäftigten in den Betrieb vorschrieb;
Ein Sozialversorgungssystem, das den Menschen ermöglichte, in einem angemessenen Alter in Rente zu gehen, und eine auskömmliche Rente gewährleistete;
Auffangmechanismen, die einerseits den Unternehmern in konfliktarmer Form betriebliche Umstrukturierungen ermöglichten, zugleich aber das Beschäftigungsverhältnis mit den betroffenen Arbeiter*innen formal aufrecht erhielt und ihnen jahrelang ein auskömmliches Gehalt bescherte.
Alle diese Errungenschaften wurden stark beschnitten oder auch abgeschafft, wobei die Offensive seitens der Unternehmer Hand in Hand ging mit der Austeritätspolitik der Regierungen unter der wesentlichen Beteiligung der PD. Nicht minder verhängnisvoll war das Verhalten der Gewerkschaftsapparate, die die Regierungspolitik im Namen der sog. „Wettbewerbsfähigkeit“ der Unternehmen flankierten. Gemeint sind damit die drei großen Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL, die im Unterschied zu anderen Ländern noch über eine starke Mitgliedschaft (zs. 12 Millionen, zur Hälfte jedoch in Rente) verfügen, sich aber sehr wohl gehütet haben, diese ernsthaft zu mobilisieren.
Die „technische Regierung“ unter Monti hat mit Zustimmung nahezu des gesamten Parlaments die härteste „Rentenreform“ im gesamteuropäischen Vergleich – das legge Fornero – verabschiedet. Unter Berlusconi wurden 2010 die Gehälter im öffentlichen Dienst eingefroren und blieben es unter den Folgeregierungen bis kurz vor den diesjährigen Wahlen, wo aus wahltaktischen Gründen eine bescheidene Erhöhung um 80 Euro gewährt wurde, wohingegen sich die monatlichen Einbußen auf durchschnittlich 300 Euro summiert hatten. Mit der Abschaffung des Artikels 18 bekamen die Unternehmer völlig freie Hand für Entlassungen. Die gesetzlichen Deregulierungen unter der Regierung Berlusconi wurden unter den Folgeregierungen bestätigt und weiter ausgebaut.
Den lokalen Dienstleistungsbehörden wurden 20 Milliarden Euro gestrichen; ebenso viel den Schulen und damit der Privatisierung dieser grundlegenden demokratischen und sozialen Errungenschaft Vorschub geleistet; dasselbe gilt für das staatliche Gesundheitswesen. Auch der Umweltschutz wurde durch die Regierung in verschiedener Weise durchlöchert, bspw. durch ein Gesetz, das Bauunternehmen die Umgehung von Umweltauflagen ermöglicht.
Infolge dieser Maßnahmen gehört Italien inzwischen zu den europäischen Ländern mit der höchsten sozialen Ungleichheit, wo die Armut überproportional zugenommen hat, die Löhne und Einkommen der arbeitenden Bevölkerung ebenso wie das Arbeitsrecht drastisch beschnitten wurden und die soziale Ungerechtigkeit fröhliche Urständ feiert.
Es gibt 10 Millionen Arme; die Statistikbehörde spricht von 30 % der Bevölkerung, die von Armut und Ausgrenzung bedroht sind; über 3 Millionen Menschen sind arbeitslos und noch mal viele haben die Suche aufgegeben; selbst die Confindustria spricht von siebeneinhalb Millionen Menschen, die ganz oder teilweise ohne Arbeit sind; zehn Millionen verzichten auf die Gesundheitsversorgung, weil ihnen die Mittel fehlen und das öffentliche Gesundheitswesen ohnehin im Argen liegt; die Schulen sind von einer demokratisch-kulturellen Bildungs- und Erziehungsstätte zum Lieferanten kostenloser Arbeitskräfte verkommen, wo die Jugendlichen als Naturgesetz eingebläut bekommen, dass die Ware Arbeitskraft zum Wohle der Unternehmen flexibel und unterwürfig zu sein hat.
Die Arbeitsmarktreformen von Renzi haben die Plage der Schwarzarbeit keineswegs beseitigt, sondern eher noch vermehrt, nur dass sie jetzt dazu dient, die Hungerlöhne aus prekären oder befristeten Arbeitsverhältnissen aufzubessern. Zur Beschäftigungspolitik fällt den Regierungen seit Jahren nur ein, die Unternehmen kräftig zu subventionieren und Entlassungen zu erleichtern, damit stattdessen junge Leute eingestellt werden können. Beschäftigungspolitisch ist dies ein Nullsummenspiel, die Profite jedoch schnellen dadurch nach oben, da das Heer von Arbeitssuchenden jede Arbeit zu den elendsten Bedingungen anzunehmen gezwungen ist.
Reichtum und Produktivität haben wieder zugenommen, aber die Zunahme der Arbeitszeiten und der Ausbeutung in Verbindung mit der Prekarisierung, den Lohnsenkungen und den Einsparungen in den öffentlichen Haushaltungen, um die Staatsschulden zu bedienen, haben die Rahmenbedingungen für die soziale Ungleichheit geschaffen, die von verschiedenen Forschungsinstituten jeder Couleur ausgemacht wird: Die 20 % reichsten Italiener*innen besitzen 66 % des nationalen Nettovermögens, die untersten 60 % nur knapp 14,8 %. Die Großbourgeoisie, die 1 % der Bevölkerung ausmacht, besitzt 240 Mal so viel Vermögen wie die ärmsten 20 % zusammen. Zwischen 2008 und 2014 haben die ärmsten Schichten 24 % ihres Einkommens verloren.
Es gibt politische und soziale Minderheiten im Lande, die derlei Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen und dagegen vorgehen wollen. So finden durchaus heftige Kämpfe zur Verteidigung von Arbeitsplätzen statt, in den neu entstandenen (Dienstleistungs-)Branchen gibt es Ansätze gewerkschaftlicher Organisierung und zur Durchsetzung von Rechten und menschenwürdigen Löhnen und für die Schwächsten und Migrant*innen finden Solidaritätsaktionen statt. Daneben gibt es Versuche, diese verstreuten Ansätze zur Gegenwehr innerhalb der ausgebeuteten Klassen zu vereinen. Noch sind diese Versuche vereinzelt und zu schwach gegenüber dem Klassenfeind und der Dominanz der prokapitalistischen Kräfte. Aber gerade weil die Lage so dramatisch ist, müssen die Vertreter einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsarbeit und die antineoliberalen und antikapitalistischen Organisationen für die Aktionseinheit eintreten, um eben diese Mosaiksteine aus dem Widerstand und den potentiellen Kämpfen zusammenzufügen und eine Plattform für weitergehende Kämpfe und Mobilisierungen zu schaffen.
Um die Lebensbedingungen für die breite Bevölkerung wirklich zu verbessern und allein, um den allgegenwärtigen Arbeitsplatzabbau zu stoppen, muss die Arbeiterklasse die Auseinandersetzungen in den Betrieben und vor Ort selbst führen. Mehr denn je kommt es unbedingt darauf an, dass sich die Arbeiterklasse wieder eigene organisatorische Basisstrukturen, Gewerkschaften also, in welcher Form auch immer, verschafft. In vielen Fällen muss sie dafür bei null beginnen, in anderen kann sie auf vorhandene zurückgreifen, die nur zutiefst umgekrempelt werden müssen, um die untauglichen Rezepte der bürokratischen Apparate über Bord zu werfen, wieder die Initiative zu erlangen und zum Gegenangriff und zur Umwälzung der Kräfteverhältnisse überzugehen.
Dazu heißt es in der Resolution unserer Organisation: „Sozialen Widerstand gibt es vielerorts, aber vereinzelt und daher aussichtslos. Also muss er sich verbreitern, untereinander in Kontakt treten und sich zu einer gemeinsamen Front zusammenschließen. Alle Teile der Arbeiterklasse, ob Italiener oder Einwanderer, jung oder alt, öffentlich oder privat Beschäftigter, prekär oder regulär Beschäftigter, Mann oder Frau müssen wieder erkennen, dass sie durch gemeinsame Klasseninteressen geeint werden und sich gegenseitig in ihren Kämpfen stärken müssen. Damit in absehbarer Zeit wieder erfolgreiche Kämpfe geführt werden können, bedarf es einer kämpferischen und klassenbewussten gewerkschaftlichen Organisierung, einer gewerkschaftlichen Einheit unter den Ausgebeuteten und einer Beendigung der Spaltung zwischen Basisgewerkschaften und den klassenkämpferischen Strömungen innerhalb der CGIL. Insofern ist es entscheidend, dass der oppositionelle Flügel in der CGIL im anstehenden Richtungsstreit gut abschneidet, nicht nur um die internen Kräfteverhältnisse innerhalb des Führungsapparats dieser Gewerkschaft zu beeinflussen, sondern weil dies darüber hinaus politisch bedeutsam ist. Es geht hierbei um die autonome Organisierung der Arbeiterklasse und eine klassenkämpferische Orientierung der Gewerkschaft, die sich an die gesamte Arbeiterklasse wenden und dabei auch die Basisgewerkschaften ansprechen muss.
Exemplarisch ist der Kampf, den die Frauenbewegung in den vergangenen Jahren geführt hat, um gegen die Gewalt von Männern an Frauen vorzugehen. Sie hat sich dabei an breite Schichten von Arbeiterinnen (und auch Arbeitern) gewandt, um sie zwei Jahre hintereinander für einen Streik am 8. März zu mobilisieren. Was wir brauchen, ist eine neue Arbeiterbewegung, die feministisch, antirassistisch, antibürokratisch und internationalistisch orientiert ist. Letzteres, weil es notwendig ist, Solidarität mit den Arbeiter*innen in Europa herzustellen, die für dieselben Interessen wie wir in Italien eintreten und gegen die neoliberale Austeritätspolitik kämpfen, die von den EU-Institutionen europaweit diktiert wird. […]“
Angesichts der bevorstehenden Wahlen ist eine neue politische Formation entstanden, in der sich verschiedene Organisationen, aber auch einzelne politische und soziale Aktivist*innen zusammengeschlossen haben, die ein dezidiert anti-neoliberales und angedeutet auch antikapitalistisches Programm vertreten. Der Name, auf den man sich schließlich geeinigt hat, lautet Potere al Popolo (Die Macht dem Volke). Die Definition, die sich die Formation in ihrem Gründungsmanifest im November 2017 selbst gegeben hat, ist wie folgt: „Wir sind eine Bewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern, Jugendlichen, Arbeitslosen und Rentnern, von Kompetenzen, die in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden, von Personen, die sich in Verbänden, örtlichen Komitees und für Bürgerinteressen engagieren, von Aktivisten und Militanten, die auch Parteien, Netzwerke und Organisationen der sozialen und politischen, antiliberalen und antikapitalistischen, kommunistischen, sozialistischen, umweltschützerischen, feministischen, laizistischen, pazifistischen, libertären und mediterranen Linken umfasst, die noch immer der Opposition angehören und nicht kapituliert haben.“
Anfang 2017 dominierten innerhalb der arg zersplitterten radikalen Linken Italiens zwei Parteien das Spektrum links der PD. Einerseits gab es die Sinistra Ecologia e Libertà, die hauptsächlich aus Sinistra Italiana (SI) hervorging und über eine stattliche Anzahl von Abgeordneten verfügte, die sie bei den Wahlen 2013 durch das Bündnis mit der PD unter Bersani erobert hatte und die dann in die Opposition zu den nachfolgenden Koalitionsregierungen der PD unter Letta und später Renzi gegangen waren. Diese eher gemäßigte Partei bildete und bildet teils noch immer Koalitionsregierungen mit der PD auf regionaler Ebene. Andererseits war dies der Partito della Rifondazione Comunista, der keinen Sitz im nationalen Parlament innehat, jedoch über eine Europaparlamentarierin verfügt und der Europäischen Linken angehört und noch immer unverdrossen Alexis Tsipras die Stange hält. Auch wenn sie im Vergleich zu früher deutlich geschrumpft ist, ist die Organisation weiterhin die zahlenmäßig größte in der radikalen Linken. In ihrem Innern gibt es verschiedene Strömungen mit mehr oder minder radikalen Positionen.
Die Krise der PD veranlasste auch einige führende Vertreter wie Bersani und D’Alema, die früher an der Regierung jahrelang Austeritätspolitik betrieben hatten, dann aber von dem aufstrebenden Renzi ausgebootet worden waren, eine neue Partei zu gründen, den Movimento Democratico e Progressista (MDP), und sich als neue und taugliche Alternative auf der Linken zu präsentieren – ein wenig glaubwürdiges Unterfangen.
Auf Initiative zweier Intellektueller, Falcone und Montanari, und der Unterstützung von SI und PRC sollte im Juni 2017 im Teatro Brancaccio ein breites antineoliberales Wahlbündnis aus der Taufe gehoben werden. Dieser Versuch scheiterte rasch, weil SI einem Bündnis mit der MDP den Vorzug gab und sie gemeinsam im Oktober die Koalition Liberi e Uguali mit dem Senatspräsidenten Pietro Grasso an der Spitze gründeten, um sich nach einem erhofften guten Wahlergebnis wieder der PD zur Bildung einer „wirklichen linken Mitte“ andienen zu können. Rifondazione blieb bei diesem Zusammenschluss außen vor.
Angesichts des nun entstandenen Vakuums auf Seiten der radikalen Linken kam es im November 2017 zu einem Vorstoß verschiedener politischer und sozialer Kräfte, eine gemeinsame Wahlliste zu gründen. Auf Betreiben der neapolitanischen Basisinitiative (centro sociale) „Je so pazzo“ (Ich bin verrückt) mit landesweiter Vernetzung kam es zu einer ersten Vollversammlung im November, die landesweit große Resonanz fand. Nach zwischenzeitlichen lokalen Versammlungen im ganzen Land wurde auf der zweiten Vollversammlung im Dezember eine linksalternative Listenverbindung unter dem Namen Potere al Popolo (PaP) gegründet. Die erfolgreiche Gründung entsprach dem Bedürfnis vieler Menschen, ob jung oder alt, nach einer politischen Alternative und einer dauerhaften, nicht nur auf die Wahlen angelegten Struktur, die sich in den Arbeitervierteln und Betrieben engagiert.
Insgesamt fünf Parteien und Organisationen waren wesentlich an der Konstituierung von PaP beteiligt und ihr Engagement sorgte dafür, dass Wahlkandidaturen im gesamten Land zustande kamen. Außer „Je so pazzo“ waren dies Rifondazione Comunista, der Partito Comunista Italiano (PCI, eine ehemalige Abspaltung der PRC), Sinistra Anticapitalista und die Anti-EU-Initiative Eurostop, die ihrerseits ein Bündnis darstellt, an dem u. a. Basisgewerkschafter*innen aus der USB beteiligt sind. Dabei handelt es sich um eine Verbindung oder vorläufige Einheitsfront, der es trotz der politisch und strategisch (und erst recht ideologisch) extrem unterschiedlichen Ausrichtung ihrer Hauptkomponenten gelungen ist, Parteien, soziale Initiativen und Einzelpersonen aus einem breiten Bewegungsspektrum – darunter frische Kräfte, aber auch alt gediente Kombattant*innen – zu vereinen. Ihr Anliegen ist die Bekämpfung der neoliberalen Politik und die Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der lohnabhängigen Bevölkerung und der Masse der Unterdrückten.
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Ihr Programm fasst in 15 Punkten die Forderungen der Bewegungen zusammen, die in den letzten Jahren im Land entstanden sind, um die politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen der neoliberal kapitalistischen Politik zu bekämpfen. Angesichts der Barbarei, des Rassismus und Faschismus und der herrschenden Wirtschaftspolitik, die die Gesellschaft ruiniert und zutiefst gespalten hat, repräsentieren diese Listenverbindung und ihr Programm ein neu gefasstes und breit angelegtes Projekt dar, das wieder Hoffnung aufkommen lässt. Auch wenn es sich dabei um kein sozialistisches Übergangsprogramm handelt, zielt das konsequente Engagement für die Umsetzung dieser Programmpunkte letztlich darauf, zwangsläufig das kapitalistische System zu bekämpfen, und dient dem Aufbau einer Widerstandsbewegung in der Gesellschaft.
Unter den gegebenen Bedingungen und Kräfteverhältnissen fiel das Wahlergebnis sicherlich bescheiden und unterhalb der hochgesteckten Erwartungen vieler mit regem Engagement beteiligten Kräfte aus. Entscheidend jedoch ist, den Versuch gewagt und die verkrusteten Verhältnisse auf der Linken aufgebrochen zu haben. Beleg dafür waren die Nach-Wahlversammlung, die Mitte März in Rom unter äußerst reger und kämpferischer Beteiligung stattfand, und auch die vielen Treffen vor Ort, zu denen sich auch neue Aktivist*innen eingefunden haben. Jetzt besteht die Aufgabe darin, das Engagement aus dem Wahlkampf in die tägliche Arbeit in den Betrieben, Schulen und Wohnvierteln zu übertragen, um dort den Widerstand gegen die neuen Angriffe seitens Regierung und Kapital aufzubauen und zu mobilisieren.
Sinistra Anticapitalista sieht in der PaP einen positiven Ansatz zu einem gemeinsamen Engagement all derjenigen, die eine dringend gebotene kämpferische Bewegung in der Gesellschaft aufbauen wollen. Oder, wie wir geschrieben haben: „ […] Daher muss Potere al Popolo als eine offene Koalition sozialer und politischer Bewegungen auftreten, als ein modernes Sozialforum, das den ursprünglichen Gedanken des Gründungsmanifests weiterträgt und weitere Organisationen und Einzelpersonen für sich zu gewinnen versucht. Zugleich muss es offen für breite Diskussionen sein, die auf den Versammlungen und in entsprechenden Foren geführt werden müssen. Daneben muss es sich eine organisatorische Struktur geben, die einerseits basisdemokratische Prinzipien widerspiegelt, andererseits die Vielfalt der beteiligten politischen und sozialen Kräfte angemessen vertritt und koordiniert. […]“
Bearbeitete Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2018 (Mai/Juni 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz