Buchbesprechung

"Der Mann hinter der Novemberrevolution"

Wer weiß, wer der wichtigste Organisator der Novemberrevolution in Deutschland 1918 war? Wer weiß, wer das Staatsoberhaupt der „Deutschen Sozialistischen Republik“ war, die von Karl Liebknecht am 9. November 1918 ausgerufen, aber bald zur kapitalistisch verfassten „Weimarer Republik“ wurde?

Johann-Friedrich Anders

Über diese weitgehend unbekannte wichtige Person der deutschen Arbeiterbewegung gibt es bei Dietz (Berlin) in der Reihe „Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus“ eine Biografie:

Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution (erstmals 2008; 2018 in 2., korrigierter und erweiterter Auflage. Preis € 24,90).

Richard Müller – so Hoffrogge – war als Vorsitzender der Revolutionären Obleute „einer der maßgeblichen Hintermänner der Revolution in Berlin“. „Gemeinsam mit den Revolutionären Obleuten organisierte er die großen Berliner Massenstreiks der Jahre 1916–1918 und schuf damit die Voraussetzungen für den Umsturz. In der Revolutionsregierung war er Vorsitzender des ‚Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte‘“. Dieser Vollzugsrat „vertrat provisorisch alle revolutionären Räte in Deutschland und war damit vom Anspruch her dem Rat der Volksbeauftragten übergeordnet. Der Vollzugsrat hatte das formale Recht, diese zu kontrollieren und abzusetzen und stellte damit die höchste Gewalt der provisorischen ‚Deutschen Sozialistischen Republik‘ dar.“


Hoffrogges Darstellung


Hoffrogge rekonstruiert zunächst die Biografie Richard Müllers (1880–1943), soweit die Quellen es erlauben. Anschließend würdigt er Richard Müllers zentrale politische Leistung: Müller war Mitorganisator der Revolutionären Obleute und spielte eine führende Rolle in der Rätebewegung.

Wie Hoffrogge darstellt, gab es in den Kriegsjahren zwei wichtige Entwicklungen in der deutschen Arbeiterbewegung: Zum Einen schufen Richard Müller und die gewerkschaftlichen Vertrauensleuten der Dreher in den Berliner Großbetrieben ein immer dichteres oppositionelles Netzwerk, das ab 1917 auch reichsweite Kontakte knüpfte und das sich 1918 den Namen „Revolutionäre Obleute“ gab. Diese Aktivitäten waren „nur im geheimen möglich, da die offiziellen Gewerkschaftsversammlungen trotz des Burgfriedens von der Polizei bespitzelt wurden.“ „Demonstrationen oder andere Straßenpropaganda betrieben sie nicht. Überhaupt waren sie eher auf Aktionen ausgerichtet, auf aufklärende Propaganda oder Theoriearbeit, wie bei der Spartakusgruppe üblich, legten sie wenig Wert. Ihr Aktionsfeld war die Fabrik, ihre politische Aktionsform der Generalstreik.“ Erst Wochen nach der Revolution, im Dezember 1918, trafen sich die Revolutionären Obleute zum ersten Mal öffentlich.

Zum anderen schufen sich die Arbeiter*innen, „deren Interesse an Beendigung von Krieg und Burgfrieden in Partei und Gewerkschaften nicht mehr vertreten war, … im Prozeß der Revolution mit den Räten neue Interessenvertretungen“. Seit dem Frühjahr 1917 bildeten sich in Deutschland Streikkomitees, die sich „Arbeiterrat“ nannten.

Deren „Machtposition“ galt allerdings – so Hoffrogge – „in SPD-Kreisen nicht als revolutionäre Errungenschaft, sondern wurde in Agitationsschriften als ‚Zustand der Rechtlosigkeit, in dem nur die Gewalt gilt‘ bezeichnet.“ Für SPD und Gewerkschaften waren – so schrieb Peter von Oertzen einmal – „die Arbeiter ‚als solche‘ … keine handlungsfähigen Subjekte. Handlungsfähig, und das heißt damit auch handlungsberechtigt, waren in ihren Augen einzig und allein Partei- und Gewerkschaftsorganisation.“

Schließlich liefert Hoffrogge eine Charakterisierung Richard Müllers. Müller war – so der Autor – nicht nur „der Mann hinter der Novemberrevolution“. Er war auch ein „kommunistischer Sisyphos“: „Spätestens seit 1917 stellte er all seine Energie und Organisationskraft in den Dienst der Revolution, deren Notwendigkeit er später trotz einer kaum enden wollenden Serie von Niederlagen immer wieder verteidigte.“ „Viermal baute er eine Organisation im Dienste der Revolution auf“: erst den Vollzugsrat, dann die Betriebsrätezentrale, dann die Reichsgewerkschaftszentrale. „Ein viertes Mal wiederholte er diesen Anlauf im DIV… Jedes Mal wurde seine Aufbauarbeit zerstört und zunichte gemacht.“


Kritische Anmerkungen


So informativ die politische Biografie von Richard Müller ist, so scheint mir ein zentraler Punkt problematisch: Hoffrogges Charakterisierung Richard Müllers als „der Mann hinter der Novemberrevolution“ und als „Sisyphos der Revolution“.

Beide Bilder sind zweifellos anschaulich, aber sie suggerieren als Sachverhalt, was laut Hoffrogges eigener Darstellung nicht der Fall war.

Richard Müller ist nicht der Mann (Singular!) hinter der Novemberrevolution (Mann ist übrigens zutreffend, denn Frauen gab’s in diesem Kreis mit einer einzigen späten Ausnahme anscheinend keine). Und er ist nicht der Mann hinter der Novemberrevolution – also ein Drahtzieher. Er agierte zwar nicht im Licht der Öffentlichkeit – angesichts der Repression im wilhelminischen Obrigkeitsstaat war das schlicht nicht möglich. Aber das macht Richard Müller keineswegs zum Drahtzieher im Hintergrund, und die Massen waren keineswegs seine Marionetten.

Und dass alle seine politischen Bemühungen schließlich scheitern, macht Richard Müller nicht zu einem Sisyphos – der ja etwas prinzipiell Unmögliches versuchte: einen Stein auf einem spitzen Gipfel eines Berges zu platzieren, wo ein Stein nicht liegen bleiben kann. Und Hoffrogge will doch wohl kaum zum Ausdruck bringen, dass Revolutionen etwas prinzipiell Unmögliches seien.


Zur Kritik der korrigierten und erweiterten Auflage von 2018


Diese zweite Auflage unterscheidet sich gegenüber der Erstausgabe vor allem durch den Abdruck eines 2012 von Hoffrogge in einem Moskauer Archiv gefundenen Dokuments: Richard Müllers ausführlicher Einspruch an das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (KI) gegen seinen 1924 erfolgten Ausschluss aus der KPD. Diese zweite Auflage finde ich eine Enttäuschung. Viele Fehler der Erstausgabe sind nicht korrigiert.

So steht in dieser „korrigierten“ Neuauflage immer noch, die „Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang“ sei von Stalin „verfaßt“ worden.

Stalin hat diese Geschichtsklitterung verfassen lassen, er hat sie nicht selber „verfaßt“. Nicht einmal das Philosophie-Kapitel des „Kurzen Lehrgangs“ „Über dialektischen und historischen Materialismus“ hat er anscheinend selber verfasst, sondern eine Autorengruppe unter der Leitung von Mark B. Mitin (1901–1987), zu der Zeit Chefredakteur der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“.

Weiter gestattet Hoffrogge sich eine Mischung aus ungenauer Formulierung und unterlassener inhaltlicher Korrektur: „Aus der KPD, in die er nach dem Zerfall der USPD eingetreten war, wurde er infolge eines Fraktionskampfes ausgeschlossen. Wie viele der Rätesozialisten aus dem USPD-Umfeld verließ auch Richard Müller die Partei schon nach wenigen Monaten Mitgliedschaft, weil er in Konflikt mit dem sich verfestigenden Autoritarismus der KPD geriet.“

Aus einer Partei „ausgeschlossen“ werden ist etwas durchaus anderes als eine Partei „verlassen“. „ … nur wenige Monate Mitgliedschaft“ konnte Hoffrogge nur in der ersten Auflage schreiben, als er die von ihm erst 2012 in Moskau gefundenen Dokumente noch nicht kannte. Schließlich: Fraktionskämpfe sind sicherlich nicht dasselbe wie Autoritarismus.

Wiederholt sieht Hoffrogge zu einer Zeit Leninismus vorliegen, als es ihn noch gar nicht gab. So schreibt er etwa: „Das Fehlen einer handlungsfähigen revolutionären Organisation hatte sich sowohl bei der Niederschlagung der lokalen Räterepubliken als auch bei den Märzstreiks des Jahres 1919 als fatal für die revolutionäre Linke erwiesen. Aus diesen Erfahrungen heraus ist es zu erklären, daß Richard Müller und sein Kreis sich nun zum Leninismus bekehrte.“ – Was soll hier der Begriff Leninismus? 1919 kannte man vermutlich noch nicht einmal das Wort „Leninismus“.

Weiter schreibt Hoffrogge einmal von „der Notwendigkeit einer autoritären Zentralisierung der Partei durch Stalin nach Lenins Tod im Januar 1924“. – Diese Rechtfertigung der Politik Stalins, von Hoffrogge mit keinem Wort begründet, ist nicht nachvollziehbar. Wofür soll 1924 eine „autoritäre Zentralisierung der Partei“ notwendig gewesen sein – außer zur Machtsicherung der Position Stalins?

Außerdem gibt es immer noch, wie ich finde, unangebrachte Formulierungen, z. B. die Aussage über Karl Liebknechts Grab: „sein Grab ist noch heute Wallfahrtsort für die politische Linke.“ – Linke sind keine Wallfahrer, und Liebknecht ist für sie kein Heiliger.

Des Weiteren stößt man auf Unlogisches. So schreibt Hoffrogge etwa über die Gewerkschaft DIV: „Es handelte sich hier um eine marxistische Organisation, die jedoch gleichzeitig eine grundsätzliche Kritik an der Politik sowohl der KPD als auch der Sowjetunion übte.“ – Wieso „jedoch“?

Und schließlich finden sich immer noch (nicht immer als solche erkennbare) Spekulationen, wo keine Fakten bekannt sind. So formuliert Hoffrogge z. B. über Müllers Mitstreiter Ernst Däumig: „Während ihn mit Ernst Däumig trotz dessen intellektuellem Hintergrund eine enge Freundschaft verband …“ – Für dieses „trotz“ gibt es anscheinend keine Quelle, mit der sich die Behauptung rechtfertigen ließe. So müsste Hoffrogge offen lassen, ob die beiden eine enge Freundschaft verband „trotz“ oder „wegen“ Däumigs intellektuellem Hintergrund oder ob Däumigs intellektueller Hintergrund bei ihrer Freundschaft gar keine Rolle spielte.

      
Weitere Artikel zum Thema
Fernand Charlier: Revolution in Deutschland, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018)
 

Schade finde ich, dass Hoffrogge selbst in der erweiterten Auflage auf den Abdruck wichtiger Dokumente verzichtet – z. B. auf das zum Mord an Luxemburg und Liebknecht aufrufende Gedicht aus dem SPD-„Vorwärts“ vom 13.1.1919; schade auch, dass Hoffrogge nur eines der von ihm in Archiven gefundenen Dokumente veröffentlicht. Warum etwa kein Abdruck von Richard Müllers Begleitbrief von 1932 an das ADGB-Archiv zu seinen „Materialien zur Entstehung der RGO“?

Schließlich wäre eine tabellarische Chronik von Richard Müllers Leben sicherlich hilfreich; ebenso ein Personenregister.


Schluss


So verdienstvoll ich es finde, Richard Müller zum Thema einer Biografie zu machen, so scheint mir doch, dass er eine sorgfältiger formulierte Biografie verdient hat. Hoffentlich gibt es bald eine dritte Auflage, gründlich überarbeitet und um den Abdruck wichtiger Dokumente erweitert.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018). | Startseite | Impressum | Datenschutz