Selim Ergunalp, geboren 1948, wurde 1983 aus einem türkischen Gefängnis entlassen und konnte unter Vermittlung von Amnesty International eine Aufenthaltserlaubnis in München erreichen. In der Türkei herrschten nach dem Putsch der Armee 1980 zu der Zeit erneut die Militärs. Selim war einer unter Tausenden, die unter der Repression zu leiden hatten, weil er als sehr aktiver Linker in der Vatan-Partisi (linke Volkspartei) engagiert war und auch illegale Aktionen durchführte. Über die Umstände bestimmter Aktionen erzählte er uns öfter mit einem Schmunzeln im Gesicht.
Recht bald nach seiner Ankunft in Deutschland kam er in München mit der Ortsgruppe der Gruppe Internationale Marxisten (GIM) der damaligen deutschen Sektion der IV. Internationale, in Kontakt und wurde Mitglied. Neben seiner Teilnahme an den verschiedenen Kampagnen der GIM übersetzte er „trotzkistische“ Broschüren und Artikel ins Türkische, um damit die Diskussion in der türkischen Linken zu stimulieren.
Als die GIM sich 1986 mit der Mehrheit der ehemaligen maoistischen KPD-ML, (damals nur noch KPD genannt) unter dem Motto „Vereinigen statt Spalten“ zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) zusammenschloss, ging Selim mit. Innerhalb der VSP hatten sich die Mitglieder der IV. Internationale in
der sogenannten „Inprekorr-Strömung“ zusätzlich organisiert, um Mitglieder der IV. Int. zu bleiben und weiterhin an deren Debatten teilnehmen zu können. Die deutschen Mitglieder der IV. Internationale zerstritten sich einige Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Anschluss der DDR über das weitere Vorgehen in der VSP; ein Teil der IV. Mitglieder spalteten sich von der VSP ab. Für Selim war das Maß voll, er trat auch aus der VSP aus, trat aber nicht in das „Spaltprodukt“ RSB ein. Aber er blieb seinen Überzeugungen auch als „Unorganisierter“ treu.
Danach gab es lange Zeit eine gewisse Funkstille zwischen Selim und der Münchner OG der VSP (die sich zu einem späteren Zeitpunkt zur internationalen sozialistischen linken (isl) entwickelte und dem „Spaltprodukt“ RSB.
Erst im Rahmen der Vereinigungsbestrebungen von isl und RSB konnte er erneut für die IV. Internationale interessiert werden. Nach der Vereinigung der beiden Teile der deutschen Sektion zur Internationalen Sozialistische Organisation (ISO) der neuen Sektion der IV. Internationale in Deutschland vor 2 1/2 Jahren trat er wieder in die IV. ein.
Seine Haltung war eine recht klassische Auffassung des revolutionären Marxismus; mit einigen Positionen der ISO, zum Beispiel die zur Organisationstheorie bzw. den Organisationregeln, die sich die ISO gab, tat er sich recht schwer. Auch mit der seit Jahrzehnten in der IV. Internationale geltenden Orientierung auf den Aufbau von „breiten Parteien“ war er nicht einverstanden.
Ayrilik yaklasiyor her gün biraz daha,
JEDEN TAG RÜCKT DAS ENDE Nazim Hikmet |
Einer seiner politischen Schwerpunkte in den letzten Jahren lag auf den Ereignissen in der Türkei und Kurdistan. Insbesondere die Taksim-Bewegung gab ihm (trotz deren Niederlage) wieder neue Energie, weiterhin in die theoretischen Debatten der türkischen Linken im Lande selbst – aber auch in der türkisch- kurdischen Diaspora in München, einzugreifen.
Er verfasste viele Artikel für die Diskussion in der türkischen Linken und veröffentliche sie in verschiedenen linken Zeitungen und Diskussionsmagazinen in der Türkei. Nach langen Jahren konnte er wieder einige Male in die Türkei reisen, um Familienmitglieder zu treffen und mit alten und jüngeren Genoss*innen einen Beitrag zur Überwindung der Differenzen zwischen den verschiedenen Splitterorganisationen des revolutionären Marxismus zu leisten.
Eineinhalb Jahre vor seinem Tod wurde er wegen seine Rolle als „Brückenbauer“ zwischen den verschiedenen linken türkischen und kurdischen Organisationen in München sehr schnell in der neu entstehenden HDK in den Vorstand gewählt. Seine liebenswürdige Art des Agierens ohne aber theoretische Zugeständnisse an aktuelle politische Moden zu machen, machte es ihm möglich, diese Rolle zu spielen.
Ein Beispiel dafür ist das Buch (2016) das er „nebenbei“ auf Türkisch verfasste, in dem er verschiedene postmoderne Klassentheorien (u. A. die Theorien von Anthony Giddens, Chantale Mouffe und Laclau), die in den letzten Jahren seit der Taksim-Platz-Bewegung in der türkischen Linken diskutiert wurden, einer marxistischen Analyse unterwarf.
Ein anderes Beispiel ist sein Beitrag in die internationale Nr. 6/2017 (November/Dezember 2017), in dem er die Debatte über einen für die Linke angeblich notwendigen „Linkspopulismus“, um dem Rechtspopulismus wirkungsvoll entgegen treten zu können, scharf kritisiert. Auch nach einem Jahr ist der Artikel weiterhin sehr lesenswert.
Gerade aus dieser theoretischen Arbeit mit Ausstrahlung in die Türkei wurde er vor einem 3/4 Jahr durch die Nachricht seiner Krebserkrankung brutal herausgerissen. Seitdem musste er sich fast vollkommen aus der politischen Arbeit heraushalten, was ihm sichtlich großen Verdruss bereitete. Bis zum Schluss war es sein Bestreben, möglichst noch etwas zum Klassenkampf beizutragen.
Leider hat es nicht sollen sein: Schon am Tag seines 70. Geburtstages hat er wohl entschieden, nicht weiter leiden zu wollen. Er verweigerte die Nahrungs- und Medikamentenaufnahme, was dazu führte, dass er am Tag nach seinem Geburtstag im Beisein seiner Familie friedlich eingeschlafen ist. Auch über seinen Tod wollte er stolz selbst entscheiden.
Die Ortsgruppe München der ISO, die ISO insgesamt hat einen vorbildlichen, sehr engagierten, stolzen und vor allem höchst liebenswerten Genossen verloren. Wir trauern mit seiner Frau und den beiden Söhnen.
Wir werden Selim ein ehrendes Andenken bewahren – er wird in unserem Kampf weiterleben!
München, Donnerstag 4. Okt. 2018 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz