Protestwelle im Iran

In den vergangenen Wochen hat sich die Protest- und Streikwelle im Iran weiter zugespitzt.

Frieda Afary

Dies liegt einerseits daran, dass die neuerlichen und viel drastischeren Sanktionen der US-Regierung gegen den Iran die einfache Bevölkerung besonders hart treffen. Auch wenn es bei den Sanktionen vordergründig um den Boykott von Erdöllieferungen aus dem Iran geht und die Einfuhr von Nahrungsmitteln und Medikamenten angeblich nicht betroffen sein sollen, wird durch die Unterbindung von Banktransaktionen zwischen dem Iran und dem Rest der Welt faktisch die Bezahlung solcher Importe verhindert. Dies führt dazu, dass die Mehrheit der 82 Millionen Menschen im Iran unter der Verknappung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Grundversorgungsleistungen leiden.

Hinzu kommen der dramatische Verfall der iranischen Währung Rial, eine astronomische Inflationsrate, Entlassungen und ausbleibende Löhne, die auch auf die wirtschaftlichen Probleme des Landes zurückzuführen sind, die bereits vor der Wiederaufnahme der Sanktionen bestanden haben. Angesichts des Währungsverfalls liegt der Mindestlohn inzwischen bei umgerechnet 100 Dollar pro Monat für eine vierköpfige Familie und damit unterhalb der absoluten Armutsschwelle, die nach der Definition der Weltbank 2 Dollar pro Tag und Kopf beträgt.

Auf der anderen Seite sind die Lügen der iranischen Führung – nicht nur von Ayatollah Chamenei sondern auch des „Reformers“ Rohani – immer schamloser geworden, wenn sie öffentlich über die „florierende“ iranische Wirtschaft schwadronieren oder über die Unterstützung der iranischen Bevölkerung bei ihrem „tapferen Kampf“ gegen den US-Imperialismus durch die Volksmassen in Syrien, Irak, Libanon und Jemen. Zugleich sorgt die – sogar von einigen Regierungsvertretern eingestandene – Korruption unter den Regierungsbehörden für zunehmende Wut unter der Bevölkerung.

Die regeste Beteiligung an den Kämpfen für bessere Arbeits- und Umweltbedingungen und Menschenrechte gibt es in Chuzestan, einer an Erdöl und Industrie reichen Provinz im Südiran. In die das ganze Jahr über anhaltenden Streiks der dortigen Arbeiter*innen in den Zuckerfabriken von Haft-Tapeh in Schusch (4500 Beschäftigte) und der Stahlarbeiter der National Steel Group in Ahvaz (4000 Beschäftigte) und in die Protestmärsche zu den Regierungsgebäuden in den Städten sind auch deren Familienmitglieder involviert. Am 18. November wurden 18 Zuckerarbeiter und eine Reporterin verhaftet, von denen bislang 12 auf die Proteste von Angehörigen, Kolleg*innen und Einwohner*innen von Schusch hin freigelassen worden sind.

Neben den landesweiten Protesten der LKW-Fahrer, die in den letzten sechs Monaten dreimal gestreikt haben, fanden weitere Protestaktionen in der Erdöl- und petrochemischen Industrie in Chuzestan statt. Außerdem gab es Proteste der Bauern, die Wasser für ihre Felder fordern, und der Gemeindearbeiter sowie der darbenden Rentner, die ihre eigene Vertretung gegründet haben.

Während die Beschäftigten Lohnnachzahlungen, Sozialleistungen, Arbeitsschutz und sichere Arbeitsplätze fordern, „privatisiert“ die iranische Regierung nach wie vor Unternehmen, die ihr zuvor unmittelbar gehört haben. Diese gehen an Anbieter, die realiter Statthalter des Staates und der islamischen Revolutionswächter sind und nur kurz befristete Arbeitsverträge anbieten oder gänzlich vertragslose Stellen ohne Sozialleistungen und Gewährleistung der ohnehin im Iran mickrigen arbeitsrechtlichen Regelungen. Als Reaktion hierauf haben die Zuckerarbeiter*innen von Haft-Tapeh gefordert, das Unternehmen selbst ganz oder teilweise selbst zu verwalten.

In Chuzestan gibt es auch bedeutsame Auseinandersetzungen um Menschenrechts- und Umweltprobleme. Letztere werden verursacht durch den Bau von Staudämmen, der Umweltverschmutzung durch die petrochemische Industrie, Raubbau an den Grundwasserreserven durch an kurzfristigen Vorteilen orientierte kapitalistische Entwicklung und den Klimawandel selbst. Folgen sind die Zerstörung von Sumpfgebieten, massive Wasserknappheit und erhebliche Luftverschmutzung.

Im vergangenen Frühjahr gab es in Chuzestan breite Proteste gegen Wasserrationierungen, Luftverschmutzung und Missachtung der kulturellen Rechte und der Sprache der arabischen Minderheit in Iran. Als daraufhin die iranische Regierung die Umleitung des Wassers aus dem Karun in die irakische Stadt Basra unterbrach, um die Protestwelle in Chuzestan zu beenden, führte dies wiederum zu Stromausfällen im Irak, weil die Wasserkraftwerke dort nicht mehr funktionierten. Ende August und Anfang September gingen daraufhin tausende Iraker auf die Straße, um von der irakischen Regierung die Grundversorgung mit Strom und sauberem Wasser einzufordern. Dabei geriet auch die Präsenz und der Einfluss des Nachbarstaates Iran ins Visier und das iranische Konsulat wurde sogar gestürmt und in Brand gesetzt.

Das iranische Regime fürchtet nichts so sehr wie einen Schulterschluss zwischen den Kämpfen im Iran und im Irak, wo sich extremistische und religiös-fundamentalistische Gruppen gegenüberstehen. Menschenrechtler in Chuzestan verweisen darauf, dass das iranische Regime die sunnitischen Fundamentalisten in Chuzestan gewähren lässt, Menschenrechtler und Gewerkschafter jedoch gnadenlos verfolgt. Nach dem Anschlag auf eine iranische Militärparade in Ahvaz am 22. September, für den eine iranisch-arabische Separatistenorganisation, die Arabische Kampfbewegung für die Befreiung von Ahvaz (ASMLA), verantwortlich gezeichnet hat, wurden über tausend iranisch-arabische Intellektuelle, Menschen- und Bürgerrechtler, politische und Medienaktivisten sowie teilweise auch deren Ehegatten und Kinder von den Behörden festgenommen. Am 10. November wurden 22 von ihnen ohne Gerichtsverfahren und ohne dass irgendeine Verbindung zur ASMLA bestanden hätte, hingerichtet und verscharrt.

Das iranische Regime fürchtet auch die Autonomiebestrebungen im iranischen Kurdistan, wo es auch viele Arbeitskämpfe gibt. Am 14. September wurde dort ein Massenstreik ausgerufen, um gegen die Hinrichtung der vier kurdischen politischen Gefangenen Ramin Hossein Panahi, Zanyar Moradi, Loghman Moradi und Kamal Ahmadinejad sowie gegen die iranischen Raketenangriffe auf kurdische Rebellen im Nordirak zu protestieren.

Daneben kämpfen die iranischen Lehrer*innen weiterhin an vorderster Front für Arbeits- und Menschenrechte. Bereits zum zweiten Mal seit Schuljahresbeginn streiken sie für höhere Löhne und Sozialleistungen anstelle ihrer jetzigen Hungerlöhne, für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und kostenlosen Unterricht für alle und gegen die Diskriminierung religiöser und nationaler Minderheiten, die noch nicht einmal in ihrer eigenen Sprache (Kurdisch, Azari oder Arabisch) in den öffentlichen Schulen unterrichtet werden. Sie fordern die sofortige Freilassung von inhaftierten Führern der Lehrergewerkschaft wie Esmail Abdi, Mohammad Beheschti Langerudi, Mohammad Habibi, die lange Haftstrafen verbüßen, weil sie den Aufbau einer Gewerkschaft „verbrochen“ haben. Andere haben kürzere Gefängnisstrafen oder Prügelstrafen erhalten oder wurden ins Exil getrieben. Streikende Lehrer*innen sind nach wie vor von Vertreibung oder Exil bedroht.

Am hartnäckigsten werden Feministinnen mit Gefängnisstrafen belegt. Die herausragendsten Beispiele sind Nasrin Sotudeh, Menschenrechtsanwältin der „Girls of Revolution Street“ (Frauen, die wegen der Entfernung ihres Kopftuchs in der Öffentlichkeit verhaftet wurden), Narges Mohammadi, Aktivistin gegen die Todesstrafe, Zeynab Jalalian, eine kurdische politische Aktivistin, Golroch Irai, Schriftstellerin und Atena Daemi, Kinderrechtlerin. Andere Feministinnen wurden wegen der Organisation von Workshops über Frauenrechte inhaftiert. Männer wie Arasch Sadeghi und Farhad Meysami, die für die Rechte der Frauen eintreten, sind ebenfalls im Gefängnis. Einige haben versucht, durch Hungerstreiks auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen und alle leiden unter verschiedenen Gesundheitsproblemen infolge der Gefängnishaft. Sotudeh wurden Familienbesuche verweigert, weil sie sich weigert, einen langen Mantel bei Besuchen zu tragen. Mohammadi hat ihre Kinder seit einigen Jahren nicht mehr gesehen und Jalalian ist in der Haft erblindet.

Am 22. Oktober wurde der Menschenrechts-, Kinderrechts- und Umweltaktivist Farshid Hakki vor seinem Haus erstochen und dann von den Agenten der iranischen Regierung verbrannt. Fünf weitere Umweltaktivisten, Frauen und Männer, wurden der Spionage beschuldigt und wegen „Beleidigung der öffentlichen Moral“, was als Kapitalverbrechen gilt, angeklagt. Im Februar wurde der Soziologieprofessor und Umweltaktivist Kavous Seyed Emami im Gefängnis ermordet.

Auch Student*innen waren an einigen der genannten Proteste beteiligt und betrieben daneben ihre eigenen Protestaktionen an der Teheraner Universität und der Allameh Tabatabai-Universität (ebenfalls in Teheran) sowie in anderen Provinzen, um sich gegen die Studiengebühren für bisher kostenlose Dienstleistungen und Kurse zu wehren und gegen die Relegation von „gebrandmarkten“ Studenten (politische Aktivisten) zu protestieren. Universitätsstudenten, die wegen der Unterstützung der Volksproteste gegen die Islamische Republik im Dezember 2017/Januar 2018 verhaftet wurden, wehren sich nach wie vor gegen die Haftstrafen, die gegen sie verhängt wurden. Am 20. November trafen sich Studenten der beiden Universitäten in Teheran, um ihre Solidarität mit den streikenden Zuckerrohrarbeitern von Haft-Tapeh und anderen Streikenden sowie den Lehrern zum Ausdruck zu bringen.

Zudem hat eine Gruppe politischer Gefangener aus dem berüchtigten Gefängnis Gohardascht bei Teheran gerade eine Erklärung veröffentlicht, in der sie ihre Unterstützung für die streikenden Arbeiter der Zuckerrohrfabrik Haft-Tapeh und von Ahvaz Steel bekunden. Darin heißt es: „Der Widerstand der ehrenvollen und hart arbeitenden Arbeiter von Haft-Tapeh und Ahvaz Steel ist ein weiterer wütender Schrei der Unterdrückten und Werktätigen einer Bevölkerung, die die Ausbeutung und Unterdrückung durch eine korrupte Regierung nicht mehr hinnehmen kann. Eine Bevölkerung, die täglich erleben muss, wie sie um die Früchte ihrer harten Arbeit gebracht wird, und die Armut, Hunger und katastrophalem Elend ausgesetzt ist, damit der von ihr geschaffene Reichtum dafür benutzt wird, Terrorismus und Kriege zu schüren oder ihre Proteste zu unterdrücken, hat endlich erkannt, wer ihr wahrer Feind ist. Wir, die politischen Gefangenen von Gohardascht ... glauben, dass der einzige legitime und gerechte Ausweg aus der Unterdrückung und Ausbeutung in der Rebellion liegt. Nur auf diesem Weg und durch die Einheit aller Gewerkschaften im Lande und aller unterdrückten Schichten der Gesellschaft werden wir die Ausbeuter und Unterdrücker verjagen.“

      
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Es ist in der Tat beeindruckend, wie vielfältig und umfassend die Proteste und Streiks der iranischen Bevölkerung sind. Tatsächlich ist die Mehrheit der 82 Millionen Iraner*innen von den elenden Bedingungen betroffen, die durch die wiederholten Wirtschaftskrisen des iranischen Kapitalismus, die Auswirkungen der militärischen Interventionen des Regimes im Ausland und die schwerwiegenden Auswirkungen der überharten US-Sanktionen hervorgerufen werden.

Was wir brauchen, ist eine sozialistische Organisation, die auf den genannten Kämpfen aufbaut sowie auf den Protesten vom Dezember 2017 und Januar 2018, die sich gegen die militärischen Interventionen des Irans in der Region und gegen die Islamische Republik richteten. Es muss eine neue Generation iranischer Sozialist*innen entstehen, die den iranischen Nationalismus bekämpft, den militaristischen Staatskapitalismus des Irans kritisiert und die Rechte der Frauen, der sexuellen Minderheiten und der unterdrückten nationalen Minderheiten im Iran verteidigt. Außerdem muss der Zusammenhang zwischen Militarismus nach außen und dem sinkenden Lebensstandard daheim der Bevölkerung vor Augen geführt werden. Wenn wir nicht eine solche Perspektive und eine solche Organisation auf den Weg bringen, riskieren wir, dass die Bauernfängerei der iranischen Monarchisten verfängt, die eine Rückkehr zu den „guten alten Zeiten des Schahs“ fordern.

Sozialist*innen auf der ganzen Welt, die ihre Solidarität mit den iranischen Kämpfen zum Ausdruck bringen wollen, können sich nicht einfach darauf beschränken, gegen die brutalen und grausamen Sanktionen der US-Regierung zu protestieren. Sie müssen auch ihre Ablehnung des iranischen Regimes zum Ausdruck bringen, die Not der streikenden Zuckerrohrarbeiter von Haft Tapeh und anderer Gewerkschaftsaktivisten, einschließlich der Lehrer*innen, öffentlich machen und die inhaftierten Feministinnen und arabischen und kurdischen Aktivist*innen verteidigen. Vorrangig ist, dass wir einen Diskurs schaffen, wie der Sozialismus wirklich zur Befreiung der Menschen führen kann und nicht bloß zu einer anderen Form kapitalistischer Unterdrückung und Ausbeutung.

22. November 2018
Übersetzung MiWe aus Alliance of Middle East Socialists blog



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2019 (März/April 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz