Bolivien

Macht und Extraktivismus

Das Bergbauprojekt Casaya im Departement Chuquisaca zeigt sehr augenfällig die Widersprüche zwischen den offiziellen Aussagen der bolivianischen Regierung und ihrer tatsächlichen Politik auf. Es wurde zwar als gemeinnützig dargestellt, in Wirklichkeit wird dem Bergbau jedoch oftmals Priorität eingeräumt, und zwar zum Nachteil des Umweltschutzes und der indigenen Völker. Der Autor analysiert hier diese Widersprüche.

Frédéric Thomas

„Wir leben immer noch in einem Rechtsstaat.“ Das sind die ersten Worte von Santiago Yupari, Stadtrat der im Süden Boliviens gelegenen historischen Stadt Sucre, als ich mit ihm über das Bergbauprojekt Casaya spreche, dem in der Region großer Widerstand entgegenschlägt. Er fährt fort: „Die Regierung unterstützt mit ihrer klientelorientierten Position bestimmte Sektoren, wie z. B. den Bergbaubereich. Dem Wort nach leben wir in einem umweltbewussten Staat, der die indigenen Bevölkerungsgruppen schützt. In Wirklichkeit leben wir aber in einem Bergbaustaat und die Beziehungen zu den indigenen Gemeinschaften haben sich nicht geändert, da dieser Industriesektor als gemeinnützig gilt und eine wichtige Einnahmequelle darstellt.“

Das Bergbauprojekt Casaya entlarvt deutlich die Doppelzüngigkeit des bolivianischen Staates sowie die Widersprüche in seiner Strategie. Auf der einen Seite wird die „Pacha Mama“ (Mutter Erde) hervorgehoben und die der Geschichte und Identität der eingeborenen Bevölkerung sowie der Wille unterstrichen, eine alternative Entwicklung bzw. eine Alternative zum Produktivismus zu fördern. Auf der anderen Seite sind wir ein Land, das vom Extraktivismus abhängig ist: Der Bergbau und die Förderung fossiler Energiequellen (vor allem Gas) erwirtschaften durchschnittlich 11 % des BIP und fast 40 % der Regierungseinnahmen, genverändertes Soja wird Jahr für Jahr in immer größerem Umfang angebaut und die Zahl der sozialen und ökologischen Konflikte nimmt rasant zu.

Der Bergbau befindet sich zu mehr als 60 % in den Händen privater Unternehmen, die vor allem Zink, Blei und Kupfer abbauen. Die Kooperativen (von denen es etwas mehr als 1800 geben dürfte) decken 30 % dieses Abbaus ab und sind damit eine der Hauptquellen des Landes für formelle Arbeitsplätze. Mit dem Unternehmen Comibol [Corporación Minera de Bolivia, staatliche Bergbaugesellschaft Boliviens] schließlich ist der öffentliche Sektor als dritter Akteur dabei. Die Zahlen dieser Auflistung sind insofern jedoch irreführend, als ein Teil der Comibol-Minen durch Kooperativen oder vertraglich mit dem Staat verbundene private Unternehmen ausgebeutet wird.


Bedrohung der Landwirtschaft


Die Einnahmen, die das Departement Chuquisaca (Hauptstadt ist Sucre) aus dem Bergbau erzielt, haben sich in zehn Jahren versiebenfacht. Zwischen 2007 und 2017 hat Chuquisaca 4,7 Millionen Dollar eingenommen. Nun klingen diese Zahlen vielleicht recht beeindruckend, man muss sie jedoch mit denen des benachbarten Potosí vergleichen, der großen historischen Bergbauregion des Landes. Dort lag der Ertrag 2017 achtzig Mal so hoch.

Im Januar 2019 wurde innerhalb der Regierung von Chuquisaca ein Sekretariat für den Bergbau eingerichtet. Das Ziel? Das Bergbaupotenzial des Departements zu stärken und Investoren anzulocken. Die größte Herausforderung ist dabei der Widerstand der örtlichen Gemeinschaften, die einer von oben übergestülpten Aktivität ablehnend gegenüberstehen. David Telez, beim Bergbausekretariat verantwortlich für „Erschließung und Ertrag“, erklärt den Grund: „Hier gibt es keine Bergbautradition und noch nicht mal eine Bergbaukultur wie in Potosí. Gleichwohl hat der Umfang des Abbaus seit 2013 und 2014 zugenommen. Die Menschen haben darin durchaus eine weitere Einkommensquelle gesehen. Allerdings gibt es in der Region keine ‚Bergleute‘ im eigentlichen Sinne. Wir sind keine reinen Bergleute, wir sind ‚Agrobergleute‘, das heißt, die Leute verbringen den einen Teil ihrer Zeit mit Landwirtschaft und Viehzucht und arbeiten den anderen Teil in den Minen.“

2015 entstand im Departement eine Föderation aus 16 Bergbaukooperativen, neun werden zurzeit formalisiert. Insgesamt repräsentieren sie maximal 450 Bergleute und deren Familien. Eine dieser Kooperativen ist Casaya. Sie setzt sich u. a. aus Bauern, Kaufleuten, Taxifahrern zusammen. Niemand dort verfügt über Bergbauerfahrung. Als einige dieser Menschen nach den Gründen gefragt wurden, warum sie die Gründung dieser Kooperative vorangetrieben hätten, antworteten sie, dass Landwirtschaft eine sehr harte Arbeit sei und nicht genügend Geld einbringe ... 25 % des in Sucre konsumierten Gemüses kommt aus der Region Rio Chico, wo das Bergbauprojekt Casaya angesiedelt werden soll. „Für uns ist die öffentliche Gesundheit von großer Bedeutung“, bestätigt der örtliche Abgeordnete Santiago Yupari. „Darüber hinaus hat die Stadtverwaltung bereits viel Geld investiert, um die lokale Produktion zu unterstützen, Schulungen zu organisieren und technische Innovation in der Landwirtschaft zu fördern. All das würde durch den Bergbau ruiniert.“

„Die Verantwortlichen tun so, als hätte das Projekt keinerlei Auswirkungen, aber es gibt keinen Bergbau, der keine Auswirkungen hätte.“

Die Gemeinschaften sind jedoch nicht gewillt, den Bergbau und dessen schädliche Auswirkungen einfach so hinzunehmen. „Wir wissen aus Erfahrung, dass all das Auswirkungen haben wird. Die Verantwortlichen tun so, als würde es dabei keinerlei Auswirkungen geben, aber es gibt kein einziges Bergbauprojekt, das ohne Auswirkungen ist“, betont Trevor Hirsche, ein seit Jahren in Sucre tätiger Umweltingenieur und technischer Berater des dortigen Umweltkomitees. Da Studien zum Thema sozioökologischer Einflüsse fehlen, Studien, die eigentlich eine Grundvoraussetzung für jeglichen Bergbaubetrieb darstellen, hat er auf Bitten der örtlichen Gemeinschaften eine unabhängige Studie durchgeführt. „Meine Hauptsorge sind die Rückstände, die das Wasser zu verseuchen drohen. Sechzig Ortschaften mit insgesamt 8000 bis 9000 Einwohner*innen aus der indigenen Volksgruppe der Puca Puca sind auf das Wasser des Flusses Chico angewiesen. Die Bergwerksbetreiber behaupten, vor Ort keine Mineralien zu verarbeiten. Daher gäbe es auch keine Umweltverschmutzung. Aber selbst wenn Rohstoffe tatsächlich nur abgebaut werden, enthält das dabei in riesigen Mengen bewegte Fels- und Erdmaterial eine ganze Anzahl toxischer oder potenziell toxischer Produkte und Mineralien. Ganz zu schweigen davon, dass diese Masse an ‚Abfall‘ den Lauf des Flusses verändern und dessen Wasser zudem mit durch Regen ausgewaschene Schadstoffe verseuchen kann.“

Auf jeden Fall sind die Schäden bereits vorprogrammiert, warnt Roman Villa, einer der örtlichen Gemeindevorsteher der Region. „Schon heute gibt es aufgrund der Verschmutzung durch die Abwässer von Sucre weniger Fische im Fluss. Wenn auch noch das Bergwerk dazukommt, laufen wir Gefahr, dass es dann gar keine Fische mehr gibt. Und sobald die Menschen im Land wissen, dass das Gemüse in einer Bergbauzone produziert wird, werden darüber hinaus die Preise dafür sinken und der Absatz wird zurückgehen.“ Die Menschen haben dann kein Vertrauen mehr in die Qualität des Gemüses. Auch das wissen die Gemeinden bereits aus Erfahrung.

Davon zeugt das Beispiel von Yotala, einer Ortschaft, bei der mehrere von Sucre kommende Abwässer zusammenfließen. Momentan richten dort die Ortschaft und die NGO Funddasur alternative, ökologische Produktionsbetriebe ein, die durch ein wirkungsvolles, von anderen Wasserquellen gestütztes Bewässerungssystem versorgt werden. Damit wollen sie die Möglichkeit einer Landwirtschaft vor Ort demonstrieren und die Verbraucher*innen von der Qualität der Produkte überzeugen. Und letztendlich wollen sie so einer Ortschaft, die durch eine fehlende Abfallwirtschaft in Not geriet, wieder eine Zukunft geben.


Eine „selbstmörderische Entwicklungsstrategie“


Die für die sinnvolle Regulierung der Bergbauaktivitäten zuständige Behörde AJAM [Autoridad Jurisdiccional Administrativa Minera = Regulierungsbehörde für den Bergbausektor] hatte sich von Anfang an auf die Seite von Casaya geschlagen, falsche Informationen herausgegeben und bekräftigt, dass das Bergbauprojekt umgesetzt würde, ganz gleich, ob sich die Gemeinden dagegenstellten oder nicht. „Die Wirtschaftslage des Landes ist tatsächlich ziemlich heikel“, warnt Roxana Liendo, Expertin für ländliche Entwicklung und Klimawandel und stellvertretende Ministerin für ländliche Entwicklung in der ersten Regierung von Evo Morales (2006 bis 2010). „Die schwierige Situation wird von der Regierung allerdings totgeschwiegen, da sie ein Bild der Investitionsbereitschaft und Stabilität verbreiten will. Dieses Bild ist jedoch eine reine Fiktion, die auf einer selbstmörderischen, auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen basierenden Entwicklungsstrategie fußt.“ Und eine Fiktion, die sich nur mit Mühe aufrechterhalten lässt.

Mehr als drei Viertel des bolivianischen Gases (dasselbe gilt für Zink) waren 2017 für Argentinien und Brasilien bestimmt. Die Gasverkäufe an diese beiden Länder haben inzwischen allerdings abgenommen. Ganz generell wirft Boliviens Wirtschaftsstrategie Fragen in puncto mehrfacher Abhängigkeiten auf: zum einen bezüglich der starken Preisschwankungen bei einigen Rohstoffen (Gas, Zink und Gold machen fast zwei Drittel der Exporte aus), über die sie keine Kontrolle hat, und zum anderen bezüglich einiger Länder (ein Drittel der Exporte geht nach Brasilien und Argentinien, 21 % der Importe kommen aus China).

Statt der Industrialisierung und einer wirtschaftlichen Diversifikation zu dienen, hat der Rohstoffboom den extraktivistischen Charakter des Landes nochmals vertieft. Und er hat Bolivien noch weiter in die Falle einer internationalen Arbeitsteilung gelockt, der gemäß das Land natürliche Ressourcen exportiert und fertige Industrieerzeugnisse importiert. Der Bergbausektor ist davon noch mehr betroffen, da er sich weitgehend dem Staat entzieht. Letzterer erhält nur etwa 10 % der durch den Bergbau generierten Erträge, geschätzt etwa 2,5 bis 3,6 Milliarden Dollar pro Jahr.


Der Teufelskreis des Bergbaus


Eine solche Situation bringt einen Teufelskreis hervor. Der Bergbau wird ständig ausgedehnt, um den Preisverfall auf dem internationalen Markt auszugleichen, die Umweltstandards werden aufgeweicht, die Einbeziehung der indigenen Gemeinschaften wird umgangen, die Förderung fossiler Energieträger und der Bergbau werden für gemeinnützig oder als im vorrangigen nationalen Interesse liegend erklärt, und in der Konsequenz verschärfen sich die sozioökologischen Konflikte. Diese treiben gleichermaßen die Landflucht an, die laut Roxana Liendo mit einer zunehmenden „Verländlichung“ der Städte einhergeht, denn die Phänomene der Prekarisierung, der Unsicherheit, des Mangels an öffentlichen Dienstleistungen pflanzen sich auch im städtischen Milieu fort. Darüber hinaus schadet das der Umwelt. Unter dem ökologischen Deckmantel von Pacha Mama gehört Bolivien zu den drei am stärksten durch Quecksilber vergifteten Ländern der Welt. Quecksilber wird beim Abbau von Gold benötigt (2013 fielen dafür geschätzte 120 Tonnen pro Jahr im Land an).

      
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Erklärung des Büros der Vierten Internationale: Gegen den Putsch in Bolivien, die internationale Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020) (nur online)
Virginia de la Siega: Bolivien: Anti- oder Staatskapitalismus, Inprekorr Nr. 1/2015 (Januar/Februar 2015)
 

Ist das der Preis, der für die Ausmerzung der Armut gezahlt werden sollte? Für Roxana Liendo ist er das definitiv nicht: „Viele Menschen sind der Armut entkommen, aber das ist ein unsicheres Entkommen, denn es ist von Zuschüssen abhängig.“ Sie rechnet mit unpopulären Maßnahmen nach den Wahlen im Oktober 2019, ganz gleich, ob der dann gewählte Kandidat Evo Morales (der trotz des „Nein“ beim Referendum des Jahres 2016 antritt) oder ein anderer ist. Angesichts der Verschuldung und des Defizits in der Handelsbilanz seit 2015 kann diese Fiktion einer Stabilität nicht mehr viel länger aufrechterhalten werden.

„Der Staat kann vielleicht nicht gezwungen werden, auf uns zu hören, aber er ist gezwungen, auf das Gesetz und die Verfassung zu hören“, sagt Santiago Yupari. Eine Verfassung, die 2009 verabschiedet wurde und für die die indigene Bevölkerung gekämpft hat. „Wenn Geld im Spiel ist, können sich aber leider sogar die Gesetze ändern“, warnt er. Die Hoffnung liegt in der Mobilisierung, sagt Santiago Yupari: „Es ist das erste Mal in 30 Jahren, dass ich einen Marsch von 10 000 Menschen bei einer Demonstration gegen ein Bergbauprojekt gesehen habe!“

6. September 2019
Frédéric Thomas ist Doktor der Politikwissenschaften und Honorarprofessor am CETRI (Centre tricontinental, Belgien).
Übersetzung: Antje Hink



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz