Die syrische Revolution hat viele Feinde: das reaktionäre Regime, die geostrategischen Interessen der Regional- und Großmächte, letztlich aber auch die Schwächen der syrischen Linken und die Desorientierung der internationalen Linken. Dennoch gärt es weiter in der gesamten Region und der Sieg der Reaktion könnte sich als vorläufig erweisen.
Joseph Daher
Vor mehr als neun Jahren begannen die Aufstände in Syrien. Und inzwischen ist die Situation für die Menschen dieses Landes katastrophaler denn je. Das Land befindet sich in einer schweren humanitären Krise, denn mehr als 11,7 Millionen Menschen benötigen dort humanitäre Hilfe, und mehr als 5,6 Millionen Syrer leben als Flüchtlinge über den gesamten Nahen Osten verstreut. Die Armutsquote liegt insgesamt bei über 80 %, die Kosten für den Wiederaufbau werden auf ca. 400 Milliarden Dollar geschätzt.
Der Ausbruch der Covid-19-Krise hat nun die sozioökonomische Notlage der großen Mehrheit der syrischen Bevölkerung noch weiter verschärft. Das Assad-Regime hatte in der Vergangenheit bereits unzählige Krankenhäuser zerstört und das ohnehin schwache und unterfinanzierte Gesundheitssystem damit noch weiter geschwächt. Nun fehlen ausgerechnet jetzt, wo das Virus über das Land hereinzubrechen droht, aufgrund der internationalen Sanktionen auch noch dringendst benötigte Medikamente und medizinisches Material.
Assad hat inzwischen die Herrschaft über mehr als 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets wiedererlangt. Mit Hilfe von Russland, dem Iran und der libanesischen Hisbollah gelang es ihm, den ursprünglichen Aufstand niederzuschlagen und die Auseinandersetzung, die zu einem regionalen und internationalen Krieg geworden war, mehr oder weniger zu gewinnen.
Es ist nun an der Zeit, die aus dem syrischen Aufstand gewonnenen Erkenntnisse zu evaluieren, ein Aufstand, der ursprünglich Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit gefordert hatte und sich gegen Rassismus und konfessionelles Sektierertum richtete. Warum hatte der Aufstand keinen Erfolg? Einige vorläufige Erklärungen und Lektionen können jetzt zwar präsentiert werden, sie sollten aber nur als erste Überlegungen betrachtet werden, die in Debatten und Dialogen mit allen, die ein Interesse an der Emanzipation und Befreiung der Volksklassen und unterdrückten Völker haben, weiterentwickelt werden müssen.
Hierfür müssen wir die Wurzeln des Aufstands in Syrien, dem Nahen Osten und Nordafrika (MENA) verstehen. Diese Region befindet sich am Anfang eines langen Revolutionsprozesses. Er gründet auf dem Versagen und der Unfähigkeit des dortigen Wirtschaftssystems, die Erwartungen der Arbeiterklassen und unterdrückten Völker zu erfüllen.
In den Staaten dieser Region herrschen wahlweise Oligarchensippen bzw. militärische Diktaturen, die ein hauptsächlich auf fossilen Brennstoffen und anderen Ressourcen beruhendes wirtschaftliches Rentiersystem betreiben. In patrimonialen Rentierstaaten ist die Macht in der Hand einer einzigen Familie und deren Clique konzentriert, wie z. B. bei den Assads in Syrien. Die herrschenden Familien betrachten den Staat als ihr privates Eigentum und nutzen ihre ganze repressive Macht, um ihre Herrschaft zu schützen.
Bei anderen Staaten, wie etwa Ägypten, Algerien und dem Sudan, handelt es sich um neopatrimoniale Systeme. Hier befindet sich die Macht nicht in der Hand einer einzigen Familie, sondern in der eines Militärapparats. Das ermöglichte es dem Militär, als es sich in Ägypten mit Massenprotesten konfrontiert sah, den einen Diktator durch einen anderen Diktator zu ersetzen und damit die Struktur des Regimes und die eigene Macht zu schützen.
Der Unterschied in der Art dieser Regime ist ein Schlüsselaspekt, der erklärt, warum die Volksaufstände in dieser Region unterschiedliche Wege nahmen. Patrimoniale Regime sind weniger flexibel und müssen sich, wie in Syrien, der totalen Repression bedienen, während neopatrimoniale Regime verhasste Herrscher loswerden und gleichzeitig die bestehende Ordnung beibehalten können.
Diese Regime und ihre Rolle in der Wirtschaftswelt haben die Entwicklung der Region verzerrt, indem sie sich zu sehr auf die Förderung von Öl und Erdgas konzentrierten, die produktiven Sektoren zu wenig, die Dienstleistungssektoren hingegen zu stark entwickelten und diverse Arten von spekulativen Investitionen, vor allem in puncto Immobilien, anheizten. Für die Masse des Volkes, die von diesen Gewinnen nicht das geringste sah, hatte dies den Effekt, dass qualifizierte Arbeitskräfte aus der Region abwanderten und Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung vor allem bei jungen Menschen massiv zunahmen.
Das Wirtschaftssystem der Region begründete damit die vorrevolutionäre Situation. Das Fehlen von Demokratie und die zunehmende Verarmung der Massen bereiteten in einem Klima von Korruption und wachsender sozialer Ungleichheit den Boden für den Volksaufstand vor, für dessen Ausbruch es dann nur noch eines kleinen Funkens bedurfte.
Als dieser Funke erwiesen sich die Aufstände in Tunesien und Ägypten. Durch sie wagten es auch Menschen in anderen Ländern, sich zu erheben. In Syrien gingen große Teile der Bevölkerung mit denselben Forderungen auf die Straße, die auch in anderen Aufständen gefordert wurden: Freiheit, Menschenwürde, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit.
Wie es häufig bei Volksaufständen der Fall ist, schufen auch die Syrer*innen Alternativen zu den Institutionen des bestehenden Staates. Demonstranten bildeten Koordinationskomitees und örtliche Räte, die der lokalen Bevölkerung Dienstleistungen anboten und die Bewegung koordinierten. In befreiten Gebieten ließen revolutionäre Kräfte damit quasi eine Doppelherrschaft entstehen, die die Macht des Regimes herausforderte.
Natürlich darf man das Ganze nicht überbewerten; das alternative System demokratischer Selbstbestimmung wurde niemals umfassend entwickelt und hatte etliche Defizite. Zu diesen Problemen gehörten vor allem die Unterrepräsentierung von Frauen und von ethnischen sowie religiösen Minderheiten. Dennoch schufen die Komitees und Räte erfolgreich eine politische Alternative, die für große Teile der Bevölkerung attraktiv war.
Diese demokratischen Organe wurden von diversen konterrevolutionären Kräften schrittweise untergraben. Die stärkste Kraft war dabei natürlich Assads despotisches Regime, das die Aufstände militärisch niederschlagen wollte.
Dieses Regime ist und bleibt die größte Bedrohung für die Masse des syrischen Volkes. Die Widerstandskraft des Regimes wurzelte in der Mobilisierung seiner Volksbasis mithilfe von Sekten-, Stammes-, regionalen und klientelistischen Verbindungen sowie in der massiven ausländischen Unterstützung durch Russland, den Iran und die Hisbollah.
Die zweite konterrevolutionäre Kraft bestand in den islamistisch-fundamentalistischen und dschihadistischen Militärorganisationen. Diese verfügten zwar nicht über dieselben zerstörerischen Fähigkeiten wie Assads Staatsapparat, standen den ursprünglichen Forderungen und Zielen des Aufstands jedoch radikal ablehnend gegenüber. Sie attackierten die demokratischen Elemente der Protestbewegung und versuchten, ein neues autoritäres und andere Kräfte ausschließendes politisches System zu erzwingen.
Regionale Mächte und imperialistische internationale Staaten formierten sich dann noch als eine dritte Kraft der Konterrevolution. Durch die Hilfe der Damaskus-Alliierten Russland, Iran und Hisbollah sowie der ausländischen, von Teheran unterstützten fundamentalistischen schiitischen Milizen verfügte das Regime über politische, wirtschaftliche und militärische Macht in einem Umfang, der ihm ein Überleben ermöglichte.
Diese regionalen Kräfte betrachteten die Protestbewegung in Syrien und den möglichen Sturz des Assad-Regimes als Gefahr für ihre jeweiligen eigenen geopolitischen Interessen. Indem sie ihren Einfluss auf die Gesellschaft und den Staat des Landes verstärkten, wurden Teheran und vor allem Moskau zu einem immer wichtigeren Teil für das Überleben des Regimes, für die kommerzielle Ausnutzung beim Wiederaufbau des Landes sowie für die Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen.
Gegen diese Akteure schlossen sich die sogenannten „Freunde Syriens“ (Saudi-Arabien, Katar und die Türkei) zu einer weiteren internationalen Kraft der Konterrevolution zusammen. Sie unterstützten die meisten der reaktionären islamistisch-fundamentalistischen Gruppen, halfen, den Aufstand in einen konfessionell-sektiererischen bzw. ethnischen Krieg zu verwandeln, und stellten sich zu jeder sich bietenden Gelegenheit gegen den demokratischen Aufstand aus Angst, dass er eine potenzielle Gefahr für ihre eigenen autokratischen Regime sein könnte.
Die westlichen Staaten unter der Führung der USA wollten ebenfalls keine radikalen Änderungen in Syrien und wiesen jegliche Pläne zurück, die Hilfe für die progressiven Streitkräfte bedeutet hätten, die Assad stürzen wollten. Die US-amerikanische Politik konzentrierte sich auf die Stabilisierung des Systems und den gegen den IS gerichteten sogenannten „War on Terror“ (Kampf gegen den Terror).
Eine gewisse Zeit lang forderten die USA zwar, dass Assad abdanken solle, während sie sich gleichzeitig nach einem willfährigen General umsahen, mit dessen Hilfe sie die Fäden ziehen konnten, doch als diese Lösung nicht mehr möglich schien, wischten sie diese Forderung vom Tisch und akzeptierten, wie der Rest der regionalen und internationalen Mächte, dass Assad weiter an der Macht blieb. Die einzelnen Ziele der diversen regionalen und internationalen Akteure mögen zwar durchaus konträr gewesen sein, in einem Punkt zogen jedoch alle am selben Strang: Sie alle waren Gegner des Aufstands und alle wollten eine Ausbreitung des Aufstands über die Grenzen des Landes hinaus verhindern.
All diese verschiedenen konterrevolutionären Akteure halfen dabei, den syrischen Aufstand niederzuschlagen. Nun sollte man zwar durchaus nicht davor zurückscheuen, diese Kräfte für die Niederlage der Aufständischen verantwortlich zu machen, allerdings muss man auch die Fehler und Defizite der syrischen Opposition untersuchen und einer Kritik unterziehen.
Eines der schwerwiegendsten Probleme der Opposition ergab sich aus der von Liberalen und einigen Linken vorangetriebenen falschen Allianz mit den Muslim-Bruderschaften und anderen islamistisch-fundamentalistischen Gruppen und deren internationale Unterstützer, die die basisdemokratischen Forderungen der Aufständischen, insbesondere der Frauen, unterdrückter religiöser Minderheiten und ethnischer Gruppen, komplett ablehnten. Nicht zuletzt durch diese fehlgeleitete Allianz ging die Inklusivität der anfänglichen Volksbewegung in Syrien verloren. Diese Schwachpunkte waren zwar auch schon vor den Aufständen vorhanden, traten dann jedoch erheblich deutlicher hervor.
Die diversen linken Gruppierungen waren nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch das Regime einfach zu schwach, um ein organisiertes demokratisches und progressives unabhängiges Zentrum zu bilden. Das Ergebnis war, dass es der gegen Assad gerichteten Opposition nicht gelang, eine tragfähige politische Alternative darzustellen, die die Massen und unterdrückte Gruppen hätte zusammenschmieden können.
Der Fehler, diese Fragen nicht in den Mittelpunkt zu stellen, wird vor allem an den zwei Hauptproblemen deutlich: Frauen und Kurden. In beiden Fällen führten große Teile der syrischen Opposition einfach Konzepte fort, die diese Gruppen diskriminierten und ausgrenzten. Damit verprellten sie wichtige Kräfte, die für den gemeinsamen Kampf gegen das Regime unerlässlich gewesen wären.
Für einen Sieg hätte die Opposition ihre Kämpfe gegen Autokratie, Ausbeutung und Unterdrückung bündeln müssen. Hätte sie nicht nur demokratische Forderungen gestellt, sondern auch Forderungen im Interesse aller Arbeitenden sowie Forderungen nach Selbstbestimmung der Kurden und Befreiung der Frauen, wäre sie in einer sehr viel stärkeren Position gewesen, eine tiefere und umfassendere Solidarität unter den sozialen Kräften der syrischen Revolution aufzubauen.
Ein weiterer Schwachpunkt der Opposition war die sehr gering ausgeprägte Entwicklung sowohl der Klassenorganisation als auch der progressiven politischen Organisation. Die Aufstände in Tunesien und im Sudan zeigen eindrücklich, wie wichtig große Gewerkschaftsorganisationen wie die tunesische UGTT und die sudanesischen Berufsverbände sind, um die Massen zu einem erfolgreichen Kampf zu vereinen.
In gleicher Weise waren die feministischen Massenorganisationen in Tunesien und im Sudan wichtig, um Frauenrechte voranzubringen und demokratische sowie sozioökonomische Rechte zu erkämpfen, auch wenn diese noch immer fragil und nicht absolut gefestigt sind. Die syrischen Revolutionär*innen hatten diese organisierten Kräfte weder eingebunden noch waren sie mit Massenorganisationen zu vergleichen; dadurch wurde die Bewegung geschwächt. Für zukünftige Kämpfe müssten diese Kräfte jedoch unbedingt aufgebaut werden.
Die Linke muss sich bei Aufbau und Entwicklung solcher großer alternativer politischer Strukturen dringend einbringen. Der letzte große Knackpunkt, der untersucht und gemeistert werden muss, ist die Schwäche der regionalen Linken und deren Vernetzung ihrer Zusammenarbeit. Die Linke muss jetzt dabei helfen, eine Alternative zu den diversen konterrevolutionären Akteuren aufzubauen, und zwar nicht nur in ihren jeweiligen Heimatländern, sondern auch regional und international.
Im Moment befinden wir uns in dieser Region mitten in einem sich überkreuzenden revolutionären Prozess und benötigen eine Linke, die aus den Kämpfen in den einzelnen Ländern ihre Lehren und Ideen zieht. Eine Niederlage in einem Land ist eine Niederlage für alle Länder, und ein Sieg in einem Land ist ein Sieg für alle in der Region.
Despotische Regime verstehen das, und das sollten auch wir. Um ihre autoritäre, neoliberale Ordnung zu erhalten, teilen diese Regime einander mit, welche Lehren sie aus den Vorgängen gezogen haben. Und wir brauchen unsererseits mehr Kollaboration, vor allem zwischen progressiven Kräften in der Region und international. In einem Land allein oder in einer einzelnen Region kann keine sozialistische Lösung gefunden werden. Dies gilt gerade auch für die Länder und Regionen des Nahen Ostens und Nordafrikas, in denen regionale und imperialistische Mächten ihre Kämpfe austrugen und es noch immer tun.
Diese Zusammenarbeit muss auf die internationale Linke, einschließlich die in imperialistischen Mächten, ausgedehnt werden. Viel zu viele dieser Sektionen haben die syrische Revolution verraten, indem sie den progressiven Kräften der Bevölkerung ihre Solidarität verweigerten.
Für diesen Verrat gibt es viele Gründe, der wichtigste Grund jedoch besteht vielleicht im Rückzug der Linken vom sozialistischen Prinzip der Selbstbefreiung, jenem Gedanken, dass sich die Volksmassen nur durch ihren eigenen Kampf für Reformen und Revolution befreien können. Statt diese Position zu vertreten, mit der die Linke solidarisch an der Seite des syrischen Aufstands gestanden hätte, schlug sich ein großer Teil der Linken im Namen des „Anti-Imperialismus“ auf die Seite des Assad-Regimes, um „gegen den US-Imperialismus“ zu sein.
Schlimmer noch, sie schlug sich auf die Seite anderer imperialistischer und regionaler Mächte wie Russland und der Iran, die intervenierten, um Assad zu retten - weil diese Mächte angeblich „das kleinere Übel“ waren. Damit zeigten sie überdeutlich, dass ihr „Anti-Imperialismus“ nichts anderes als Rhetorik war und dass ihre politische Praxis sie lediglich dazu brachte, sich auf die Seite des eines kapitalistischen Staates bzw. einer Gruppe kapitalistischer Staaten gegen den bzw. die anderen zu schlagen und dabei den Kampf der Massen um ihre eigene Befreiung zu ignorieren, zu verraten oder, schlimmer noch, zu verunglimpfen.
Diese Haltung wirkte sich auch auf die Antikriegsbewegungen vor allem in den USA und Großbritannien aus. Die meisten verweigerten der Revolution ihre Solidarität unter dem Vorwand, „der Hauptfeind steht im eigenen Land“. Das ist zwar durchaus wahr, vor allem im Fall des US-amerikanischen Staates, der weltweit der größte Gegner von fortschrittlichem sozialen Wandel ist und bleibt, es bedeutet jedoch nicht, dass ihrem eigenen Staat gegenüber kritisch eingestellte Antikriegsbewegungen anderen internationalen und regionalen Imperialismen und Volksrevolutionen gleichgültig gegenüberstehen dürfen.
Stattdessen hätten sie sich gegen die USA und Großbritannien stellen sollen, gegen kleinere Imperialismen opponieren und dem syrischen Aufstand ihre Solidarität beweisen müssen. Dies ist der einzige Weg, wie die Linke einen echten Internationalismus aufbauen kann, der sich gegen jegliche Art von Imperialismus stellt, Kämpfe der Massen für Revolution und nationale Befreiung verbindet und einen weltweiten Kampf für den Sozialismus von unten her aufbaut.
Wir befinden uns in einem günstigen Umfeld, solch einen Internationalismus voranzutreiben. Im Verlauf des letzten Jahres wurden wir Zeugen einer weiteren Welle von Massenaufständen, die in großen Teilen der Welt den Neoliberalismus und Autoritarismus herausforderten. Aufgrund der Pandemie und der weltweiten Rezession mag diese Welle zwar zeitweise etwas gebremst worden sein, in den kommenden Jahren wird sie das System jedoch immer mehr in Frage stellen und noch radikalere Aufstände anheizen. Wir müssen jetzt eine neue Linke schmieden, die dieser Welle international zum Sieg verhilft.
Syrien und die MENA-Region werden Teil dieser Dynamik sein. Selbst in jenen Ländern, die wie Syrien katastrophale Konterrevolutionen erlitten haben, braut sich ein neuer Sturm zusammen.
Aus diesem Grund muss man sich darüber klar sein, dass revolutionäre Prozesse wie die in der MENA-Region als Epochen zu verstehen sind, die durch Phasen der Revolution und der Niederlage gehen, auf die dann neue revolutionäre Aufstände folgen. In Syrien sind die Verhältnisse, die zu den Aufständen führten, noch immer da. Dem Regime ist es nicht nur nicht gelungen, die Probleme zu lösen, sondern es hat sie im Gegenteil noch weiter verschärft.
Damaskus glaubt, genau wie andere Hauptstädte der Region, dass es seine despotische Herrschaft durch die anhaltende massive Gewalt gegen die eigene Bevölkerung weiter aufrechterhalten könne. Eine solche Auffassung ist unzweifelhaft zum Scheitern verdammt. Neue Ausbrüche von Massenprotesten wie kürzlich in Algerien, im Sudan, Irak und Libanon dürften zu erwarten sein.
Trotz der massiven Unterstützung durch seine ausländischen Verbündeten steht das Assad-Regime vor schier unlösbaren Problemen, ganz gleich wie hartnäckig es sich auch dagegen wehrt. Dass es ihm nicht gelungen ist, die riesigen sozioökonomischen Probleme des Landes zu lösen, die Bevölkerung aber weiterhin gnadenlos von ihm unterdrückt wird, hat für Kritik und auch schon neue Proteste gesorgt.
Mitte Januar 2020 fanden in der Provinz Sweida mehrere Demonstrationen statt, die sich gegen das Versagen des syrischen Regimes im Kampf gegen Armut und Arbeitslosigkeit wendeten. Auch in der Provinz Daraa sowie in ländlichen Gebieten rings um Damaskus sind in letzter Zeit immer mehr Proteste aufgeflammt.
Aus diesen Situationen heraus ergeben sich jedoch nicht automatisch politische Chancen, vor allem nicht nach mehr als neun Jahren eines schrecklichen, mörderischen Krieges. Das Fehlen einer strukturierten, unabhängigen, demokratischen und inkludierenden politischen syrischen Opposition, die für die ärmeren Klassen attraktiv sein könnte, erschwert es verschiedenen Teilen der Bevölkerung, sich zu vereinen und das Regime erneut und diesmal auf einer die gesamte Nation umfassenden Stufe herauszufordern.
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Das ist die größte Herausforderung. Trotz der schwierigen Bedingungen, wie Unterdrückung, Armut und soziale Entwurzelung, muss eine fortschrittliche politische Alternative organisiert werden, die als Ausdruck des lokalen Widerstands gelten kann. Und sie muss sich einige der Erkenntnisse, die ich aufzuzeigen versucht habe, zu Herzen nehmen und sich von den neuerlichen Aufständen in der Region inspirieren lassen.
Wenn die syrische Revolution erneut ausbricht, muss sich die internationale Linke des kapitalen Fehlers bewusst sein, den so viele beim ersten Ausbruch machten, indem sie sich auf die Seite des Regimes oder regionaler und internationaler Konterrevolutionskräfte schlugen. Stattdessen sollte der politische Kompass der Revolutionär*innen vom Prinzip der Solidarität mit progressiven Kämpfen, ausgehend von breiten Teilen der Bevölkerung, geleitet werden.
Wie Che Guevara sagte: „If you tremble with indignation at every injustice then you are one of my comrades.“ (Wenn dich jede Ungerechtigkeit vor Wut erzittern lässt, bist du einer meiner Genossen.) Unsere Schicksale sind miteinander verbunden.
Joseph Daher ist ein syrisch-schweizerischer Sozialist und Wissenschaftler. Er ist der Autor von „Hezbollah: The Political Economy of the Lebanon’s Party of God“ (2016) und „Syria after the Uprisings: The Political Economy of State Resilience“ (2019). |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2020 (September/Oktober 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz