Polen

Das Ende des „Großen Kompromisses“

Er war Grundlage der „dritten Republik“. Jetzt haben junge Leute den „Großen Kompromiss“ mit der Kirche gebrochen.

Agnieszka Graff

In Polen ist etwas zerbrochen, etwas ist übergelaufen. Es ist das Ende eines gewissen Kompromisses in Polen. Es handelt sich nicht um einen „Kompromiss zur Abtreibung“, weil es nie einen gab, sondern um einen viel umfassenderen systemischen Kompromiss: den „Großen Kompromiss“ zwischen Staat und Kirche, auf dem die Ordnung der Dritten polnischen Republik und die Identität von Polen nach 1989 gegründet wurde.

Marta Lempart formulierte es so: „Die begonnene Revolution ist nicht nur ein Kampf für die Abtreibung. Sie ist ein Kampf für die Freiheit, die sehr brutal angegriffen wurde, und Abtreibung ist das Symbol dafür.“

Von welcher Freiheit, für die Abtreibung das Symbol ist, sprechen wir? Es geht um Entscheidungsfreiheit im privaten Bereich – das ist klar. Es geht um die Gleichstellung der Geschlechter, wovon das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ein wesentliches Element ist – auch das ist selbstverständlich. Und es geht darum, uns von der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu befreien, die von den Demonstrierenden aufgefordert wird, sich sonstwohin zu verpissen, während die Koordinator*innen der Demonstrationen ihr höflich den Rücktritt nahelegen.

Aber das eigentliche Problem ist unsere eigene Wahrnehmung dessen, was wir als Gesellschaft oder, wie Präsident Kaczyński es auszudrücken beliebt, als Nation sind. Die Mobilisierungen werden wahrscheinlich bald aufhören, die PiS wird in Sachen Abtreibung tun, was sie will, aber der kulturelle Wandel wird irreversibel sein.

„Subjekt und Prädikat stimmen nicht überein“. [1] Dies ist eine der Parolen der Proteste, ein witziger Slogan und eine brillante Diagnose der Situation.


Die Grammatik des Großen Kompromisses


Die Grammatik, auf der der polnische Gesellschaftsvertrag seit 25 Jahren basiert, bricht vor unseren Augen zusammen. Diese Grammatik des Großen Kompromisses, die uns seit zwei Jahrzehnten begleitet hat, wurde an der Schwelle des Wandels zwischen den Machteliten und dem Episkopat beschlossen und machte die Frauen zu Geiseln der polnischen Modernisierung. Die Stabilität der Beziehungen zwischen Staat und Kirche beruhte auf dem ungeheuren Ausmaß der Macht des Staates und der Privilegien der religiösen Institutionen. Der Episkopat sollte den Systemwandel und den Beitrittsprozess zur Europäischen Union im Austausch für eine drakonische Einschränkung der Frauenrechte und die Ablehnung von LGBT-Rechten stabilisieren.

Polen ist ein katholisches Land – dieser Satz wurde wie ein Mantra wiederholt. Das war keine Beschreibung der Realität, sondern ein Dekret. Oder eine Beschwörung? Die Identifikation des polnischen Charakters mit dem Katholizismus sollte unsere Besonderheit in der Union sein. Und je nach Weltanschauung: der Preis oder die Belohnung für die „Rückkehr nach Europa“.

Für religiöse Fundamentalisten auf der ganzen Welt bedeutete dies, dass Polen die Rolle eines Versuchskaninchens für ihr Weltbild spielen sollte. Es sollte eine Hochburg des Christentums in einem immer säkularer werdenden Europa sein, ein Schlachtfeld für „Familienwerte“. Und unsere Gesellschaft sollte dies akzeptieren, weil davon ausgegangen wurde, dass dies unser „kultureller Kodex“ sei.


Dieser Große Kompromiss hatte zwei wesentliche Prinzipien und mehrere Zusatzregeln.


Erstes Prinzip: Die Dritte Republik erkennt an, dass die Kirche ein unbestreitbares Monopol in Bezug auf Werte hat. Der Bereich dieser Werte beschränkt sich weitgehend auf die Sexualethik: Daraus ergibt sich das Anti-Abtreibungsgesetz, die Präsenz religiöser Symbole im öffentlichen Raum und die Feindseligkeit gegenüber LGBT-Gemeinschaften – alles vom Staat bestätigt. Die Kirche beschloss auch de facto, den Zugang zur Empfängnisverhütung schrittweise einzuschränken. Ihre Stimme war entscheidend beim Streit um die Vergütung der In-vitro-Fertilisation.

Jarosław Kaczyński sagte in seiner Ansprache, dass „der Moralstandard der Kirche das einzige Moralsystem ist, das allen in Polen bekannt ist“ und dass „ihre Ablehnung dem Nihilismus gleichkommt“. Damit fasste er die Überzeugung perfekt zusammen, dass es keine Alternative zum Katholizismus als Quelle der Moral für die Polen gebe. Nach dieser Logik ist es die Kirche, die der sozialen Realität einen Sinn gibt. Außerhalb der Kirche ist das Nichts. Diejenigen, die den Religionsunterricht besucht haben, wissen, dass in Europa die „Zivilisation des Todes“ [2] herrscht.

Und diejenigen, die diesen Unterricht nicht genossen haben, müssen verstehen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt.

Das zweite Prinzip definiert, was die Kirche als Gegenleistung für ihre privilegierte Position tun muss. Ihre Aufgabe war es, die Probleme und Konflikte zu befrieden, die mit dem Systemwandel einhergingen.

Einerseits sollte sie nationalistische Stimmungen dämpfen, andererseits die soziale Unzufriedenheit beruhigen, die sich aus der neoliberalen Transformation ergab. Die Kirche sollte eine Art Puffer sein, der es Polen ermöglicht, der Europäischen Union beizutreten und dort zu bleiben.

Fügen wir hinzu, dass es Anfang der neunziger Jahre gute Gründe zu der Annahme gab, dass die Kirche dieser Rolle gerecht werden würde. Es gab noch den Papst, der der Patron des Beitritts Polens zur Union war; es gab eine ziemlich aktive liberale Fraktion in der Kirche; das neu geschaffene Radio Maryja [3] hatte zwar schon lokale Zulassungen erhalten, aber erst 1994 eine nationale. Die Neofaschisten waren marginal und verrückt, und kaum jemand in Polen stellte die neoliberale Transformation in Frage, sodass das Schweigen der Kirche niemanden überraschte.

Die Zusatzregeln sorgten einerseits für sozialen Frieden (und damit für die relative Stabilität aufeinander folgender Regierungen) und andererseits für die Sicherheit der Geistlichen. Die entscheidende Regel aber betraf das Schweigen der Frauen. Wir wussten im Voraus, dass jedes Anzeichen von Rebellion verspottet oder unterdrückt werden würde.

Ein wichtiger Mechanismus zur „Ablenkung der Aufmerksamkeit“ wurde ebenfalls eingeführt – der Kompromiss betraf das Abtreibungsgesetz, nicht jedoch die gelebte Realität von Abtreibungen. Zu keinem Zeitpunkt war die heimliche Abtreibung ein Thema, das für den Staatsapparat von Interesse war.

Und schließlich gab es eine dritte zusätzliche Regel, deren Existenz kürzlich in den Filmen der Sekielski-Brüder [4] offenbart wurde: Straflosigkeit für Priester, die für sexuellen Missbrauch verantwortlich sind, und Bischöfe, die sie über viele Jahre deckten. Kurz gesagt: ein Gesetz des Schweigens um Pädophilie in der Kirche.

Als ich während einer öffentlichen Debatte, die online von der Karol Modzelewski Open University organisiert wurde, die wichtigsten Elemente des Großen Kompromisses vorstellte, wurde ich gefragt, welche Beweise ich für seine Existenz habe. Anscheinend hatten junge Leute noch nie davon gehört. Weil er niemals niedergeschrieben wurde. Man findet ihn in keinem Geschichtsbuch. Aber für die Generation des Wandels, insbesondere für Frauen, war seine Existenz offensichtlich. Er war die Luft, die wir atmeten, er begrenzte die Realität, in der wir leben mussten. Er wurde von einer beschämenden Stille verhüllt. Hätten wir ihn angesprochen oder gar versucht, seine Legitimität in Frage zu stellen, hätten wir riskiert, verspottet zu werden. Dieser Kompromiss hielt mehr als ein Vierteljahrhundert. Es ist ein Stück polnischer Geschichte – das gerade jetzt zu Ende geht.

Um die Quellen des Großen Kompromisses zu finden, können wir auf das Buch von Adam Michnik, Die Kirche, die Linke, der Dialog (1977) [5] verweisen, das den Ton für die Beziehungen zwischen der Kirche und der demokratischen Opposition in den 1980er Jahren festlegte. Aber 1993 begann die Ära, die heute endet. Denn selbst wenn der Große Kompromiss die Macht der Kirche in Polen im weitesten Sinne betrifft, wurde er durch das Abtreibungsverbot besiegelt. Die Kirche war an diesem Thema besonders interessiert und hat es nie losgelassen.


Das Gesetz von 1993 oder die Grenzen der polnischen Demokratie


Erinnern wir uns, dass davor das Gesetz von 1956 galt: Abtreibung war legal im Falle einer Fehlbildung des Fötus, einer Bedrohung für die Gesundheit der Frau, wenn die Schwangerschaft das Ergebnis eines Verbrechens war und – besonders wichtig – wegen schwieriger Lebensbedingungen der Frau.

 

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(Foto: Zorro2212, Łódź, Dezember 2011)

1993 wurde das Abtreibungsverbot – fälschlicherweise als „Kompromiss“ bezeichnet – verhängt. Mehr als eine Million von den „Bujak-Komitees“ gesammelte Unterschriften für ein nationales Referendum wurden ignoriert. Das sind die Tatsachen.

Aber was ist ihre tiefere Bedeutung? Wir haben damals etwas Grundlegendes gelernt: Im freien Polen liegt bei intimen Fragen – in Bezug auf menschliche Sexualität, Fruchtbarkeit, Fortpflanzung – die Entscheidung bei der katholischen Kirche. Hier liegen die Grenzen der polnischen Demokratie.

Für viele von denen, die in der Opposition gekämpft hatten, war das ein kognitiver Schock. Es ging um die Rechte der Frauen, aber auch und vielleicht vor allem darum, den Träumen von einem modernen säkularen Staat ein Ende zu setzen.

Lasst es uns wiederholen: Die Founding gesture [Gründungsgeste] des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in der Dritten Republik war die Befriedung einer großen sozialen Bewegung: der Mobilisierung für ein Referendum über Abtreibung.

Um es deutlicher zu sagen: Den Menschen, die die Frage zur Abstimmung stellen wollten, wurde gesagt: Haltet die Klappe! Dies wurde in den nächsten zwei Jahrzehnten hunderte Male wiederholt: Das Thema der Gleichstellung der Geschlechter und der sexuellen Rechte wurde öffentlich verhöhnt, ignoriert, ins Abseits gedrängt.

Es hieß – auch in den liberalen Medien -, dass es sich um eine „Ersatz“ -Frage“ handele, eine Frage der „Sitten und Gebräuche“. Wir sagten ironisch: Frauenrechte sind wohl eine Art Abstraktion, die nur Feministinnen interessiert, während „normale Frauen“ sich mit dem „echten Leben“ beschäftigen.

Die anschließenden Zusammenstöße um die Frage der Abtreibung fanden in dieser Atmosphäre statt. Es gab rebellische Aufrufe, Artikel und Bücher, aber wir wussten im Voraus, dass sie den Lauf der Geschichte nicht beeinflussen würden. Doch dies ist unsere Geschichte – die Geschichte, deren jüngste Phase die der Massendemonstrationen im Zeichen des Streiks der Frauen ist.

1996 versuchte das Parlament, das Gesetz flexibler zu gestalten, indem es die schwierige persönliche Situation der Frauen wieder hinzufügte. Diese Ergänzung wurde vom Verfassungsgericht kassiert, dessen Präsident damals Professor Andrzej Zoll war. Dieses Urteil wurde auf eine Weise gerechtfertigt, die für diese Zeit merkwürdig und doch charakteristisch war: Das Verbot der Abtreibung sei ... notwendig zum Schutz der Mutterschaft. [6]

Mutterschaft wurde somit mit Schwangerschaft gleichgesetzt, wodurch schwangere Frauen juristisch und rhetorisch jeglicher Persönlichkeit beraubt wurden. Dies war nicht der einzige Vorfall dieser Art.

Seit Mitte der neunziger Jahre wurden Frauen in den Medien, in der Alltagskultur und in der öffentlichen Debatte systematisch ausgeschlossen. Kinder- und Lehrbücher wurden von „empfangenen Kindern“ überflutet – Föten, die in einem kosmischen Limbo schweben, losgelöst von der Realität, der Realität der Schwangerschaft und der Frau, die über ihre Gesundheit und ihr Leben entscheidet.

Um die Parole der heutigen Demonstrationen zu verwenden: Das damalige Subjekt konnte dem Urteil nicht zustimmen oder es ablehnen, denn es wurde praktisch aus dem Urteil gestrichen, in dem sein Schicksal entschieden wurde. Ich verfolgte diesen Prozess mit Staunen. Ergebnis war das Kapitel „Die verschwundene Frau“ in meinem 2001 erschienenen Buch Świat bez kobiet (Die Welt ohne Frauen). [7]

Das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre war eine Zeit, in der Frauenorganisationen (vor allem die Vereinigung für Frauen- und Familienplanung) und feministische Straßeninitiativen (ich meine natürlich die Manifas [8]) versuchten, den Großen Kompromiss in Frage zu stellen.

Es ist interessant festzustellen, dass die erste Manifa eine Reaktion auf ein Ereignis war, das als vorübergehender Angriff auf eine der Zusatzregeln des Großen Kompromisses angesehen werden konnte – das Ignorieren der Frage der geheimen Abtreibungen. Im Dezember 1999 überfiel die Polizei eine Gynäkologiepraxis in Lubliniec. Es hieß, der Körper der Frau sei als Beweismittel „beschlagnahmt“ worden. Das war schrecklich, wir gingen auf die Straße.

Die einfache Tatsache der Existenz des Gesetzes wäre wahrscheinlich nicht genug gewesen, weil wir die Entscheidung des Gerichts auswendig gelernt hatten. Im Jahr 2002 beschlossen Feministinnen, die Existenz des Großen Kompromisses auf dem internationalen Forum zu offenbaren. Das Frauenbündnis für den 8. März richtete ein Schreiben von einhundert Frauen an das Europäische Parlament, in dem es um Unterstützung für eine demokratische Debatte über die Situation der Frauen in Polen bat und darüber informierte, dass beim Beitritt Polens zur Europäischen Union ein „spezifisches Abkommen zwischen der katholischen Kirche und der Regierung geschlossen worden war. Danach werde die Kirche die europäische Integration unterstützen und im Gegenzug die Regierung die Debatte über eine Änderung des Anti-Abtreibungsgesetzes aufgeben.“ Und weiter: „Hinter den Kulissen der Integration Polens in die Europäische Union gibt es daher eine Art Handel mit Rechten der Frauen.“

Der von bedeutenden Frauen aus Wissenschaft, Kultur und Kunst unterzeichnete Brief erhielt keine Antwort von den europäischen Institutionen – die EU vermied Debatten über gesellschaftliche Fragen und befürwortete daher de facto den Großen Kompromiss. Außerdem reagierten beide Seiten der im Brief beschriebenen Verschwörung mit einer Mischung aus Bevormundung, Spott und Drohungen.

Bischof Życiński erklärte, es sei „das am wenigsten ernsthafte Protestschreiben, das er in letzter Zeit gelesen habe“, und fügte mit einem wissenden Augenzwinkern hinzu, dass die Bischöfe auf ihre Unterstützung für die europäische Integration auch verzichten könnten.

Der Chefredakteur der nationalen Teils der (liberalen) Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Rafał Zakrzewski, bestätigte die Existenz des Kompromisses: „Die Kirche ist ein starker Verbündeter für die Integration in die EU. Und ich bin überzeugt, dass es für uns wichtiger ist, uns so schnell wie möglich in einem gemeinsamen Europa wiederzufinden, als jetzt einen hitzigen Streit zu beginnen.“

Die folgenden Szenen dieses Dramas waren mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, Frauenstimmen Gehör in den Medien und der öffentlichen Meinung zu verschaffen (Aktion auf dem Schiff Langenort im Jahr 2003, die anschließenden Demonstrationen im Jahr 2003) [9], bei den europäischen Institutionen (der Fall von Alicja Tysiąc in Straßburg im Jahr 2007) und im öffentlichen Bewusstsein, das vom kirchlichen Neusprech und der unantastbaren Rechtslage effektiv eingeschläfert wurde (2011 bekannte sich Katarzyna Bratkowska öffentlich zu ihrer Abtreibung).

Auf die Proteste von 2016 werde ich etwas später eingehen, denn sie sind ein weiteres Kapitel in dieser Geschichte – der Anfang vom Ende des Großen Kompromisses.


Reizt nicht die Kirche, sonst wird alles zusammenbrechen ...


Wenn wir vom Großen Kompromiss sprechen, handelt es sich weder um einen offenen Konflikt um das Konzept der Gesellschaft, der gewonnen oder verloren werden kann, noch um eine Debatte über ein kontroverses Thema in einem demokratischen Land. Wir sprechen von einer Verschwörung des Schweigens, des Fehlens von Debatten. Wir sprechen von einem Staat, der einer antidemokratischen Institution das Recht eingeräumt hat, über das Privatleben seiner Bürger (Frauen und Männer) zu entscheiden, und ihnen gleichzeitig befiehlt, ein beschämendes Schweigen zu bewahren.

Dies ist die Geschichte eines Landes in der Mitte Europas, dessen politische Eliten der Macht der Kirche im Bereich der Werte nachgegeben haben. Der Große Kompromiss war instabil und musste von den Politikern ständig bekräftigt werden. Dies geschah zu verschiedenen Anlässen und aus verschiedenen Gründen: von der Rechten, weil sie diese Werte teilte, von den Liberalen und der Linken, weil sie davon überzeugt waren, dass die Kirche eine Macht ist, die nicht gereizt werden sollte.

Frauenrechte
(Foto: Silar, Bielsko-Biala, November 2020)

 

Versuchen wir, die Motivationen derer zu reproduzieren, die die Hüter des Kompromisses waren. Wir kehrten nach Europa zurück; dies war ein großer historischer Prozess. Es bestand die tiefe Überzeugung, dass er ohne Unterstützung der Kirche vielleicht nicht gelingen könnte. Europa hingegen war bereit, die Feindseligkeit gegenüber den Frauenrechten als unsere „kulturelle Ausnahme“ zu betrachten.

Außerdem wurde uns versprochen, dass es nach dem EU-Beitritt besser werden würde – dass die Zeit der Gleichstellung kommen würde. Aber als wir uns in dieser so herbeigesehnten Union befanden, zeigte sich, dass der Große Kompromiss noch in Kraft war. Warum? Weil die Kirche – und nur sie – den Zugang der rechtsextremen Nationalisten zur politischen Bühne verhindern kann. Andernfalls wäre der Traum von Europa und einem demokratischen Polen endgültig beendet.

Das Gender-Thema – nicht nur die reproduktiven Rechte von Frauen, sondern auch häusliche Gewalt, Sexualerziehung und die Rechte sexueller Minderheiten – wurde seit vielen Jahren unter der Decke gehalten, um die Kirche nicht zu verärgern.

Man glaubte, dass ohne die Kirche alles zusammenbrechen würde. So war es in den Tagen der Regierungen der Freiheitsunion (UW), dann der Allianz der Demokratischen Linken (SLD) und sogar der ersten PiS-Regierung. Acht Jahre Regierungen der Bürgerplattform (PO) waren acht Jahre Ausweichmanöver und Zugeständnisse.

Heute wissen wir, dass diese Berechnungen falsch waren. Es hat nicht funktioniert, gerade weil sie der Kirche zu sehr vertrauten.

Die PiS gewann die Wahlen mit Unterstützung der Kirche. Die Errungenschaften der Dritten Republik wurden mit ihrer vollen Zustimmung zerstört. War es möglich, dies in den frühen neunziger Jahren vorherzusagen, als die Grundlagen für den Großen Kompromiss geschaffen wurden? Wahrscheinlich nicht ganz. Die Kirche hat sich allmählich nach rechts bewegt. Tadeusz Rydzyk brauchte einige Zeit, um sein Medienimperium aufzubauen.

In der Zwischenzeit haben sich, nur von wenigen Menschen bemerkt, mächtige ultra-konservative internationale Bewegungen entwickelt. Ihre lokalen Ableger sind Ordo Iuris, Kaja Godek und viele Organisationen, die sich für „Familienwerte“ und de facto gegen die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen. [10] Sie sind eng mit internationalen Netzwerken verbunden: dem „World Congress of Families“ (Weltkongress der Familien), „Tradition, Family and Property“ (Tradition, Familie und Eigentum) und „CitizenGo“ – keines davon existierte, als der Kompromiss in Polen geschaffen wurde.

All diese Veränderungen haben den Großen Kompromiss vor unseren Augen beendet, da seine gewalttätige Natur für alle offensichtlich geworden ist.


Wer erinnert sich an den Schwarzen Montag?


Der gegenwärtige Umbruch ist nicht das Produkt von Julia Przyłębska, sondern das der Schwarzen Proteste der Jahre 2016-2018. [11]. Die Koordinator*innen sind teilweise dieselben: Marta Lempart und der Nationale Streik der Frauen, die lokalen Streikgruppen und „Dziewuchy dziewuchoms“. [12]

Die Emotionen sind auch weitgehend eine Fortsetzung der damaligen Rebellion, aber die Sprache hat sich sehr verändert. Vor vier Jahren entdeckten wir die wahren Absichten der religiösen Fundamentalisten von Ordo Iuris, die Rücksichtslosigkeit des Episkopats und der Regierung und – was vielleicht am wichtigsten ist – unsere eigene Stärke und Wut.

Wer erinnert sich an den Schwarzen Montag? Am 3. Oktober 2016 fanden in 200 Städten Proteste statt, Tausende von Frauen gingen in schwarzer Kleidung zur Arbeit. Im Regen, unter Regenschirmen, zu Tausenden auf dem Zamkowy-Platz (Schlossplatz in Warschau) und auf anderen Plätzen polnischer Städte bildete sich eine neue politische Einheit: wütende Frauen.

Viele Frauen, die heute auf der Straße schreien: „Verpisst Euch sonstwohin“ und „Dies ist Krieg“, haben ihre Rebellion 2016 begonnen. Damals waren sie als Mädchen und sehr junge Mädchen mit ihren Müttern, Großmüttern und älteren Schwestern dort. Jetzt sind sie mit viel Begleitung und viel radikaleren Parolen zurück.

Es gibt keine Bezüge mehr auf die Tradition von Solidarność, es gibt nicht mehr die Symbolik der Umwandlung des Warschauer Aufstands in ein feministisches Gebet – es gibt Blasphemie, Ironie und schwarzen Humor. „Mama hat mir erlaubt, heute schmutzige Worte zu sagen“ – dieses Plakat in den Händen eines jungen Mädchens sagt viel über die Atmosphäre dieser Ereignisse und die generationenübergreifenden weiblichen Verbindungen aus, aus denen sie sich speist. [13]

Der Große Kompromiss ist unwiderruflich beendet. Es zerfiel Stück für Stück. Vor ungefähr zehn Jahren hat die Kirche selbst ihre Rolle als Verbündete von Demokratie und Modernisierung aufgegeben (oder sie hat einfach aufgehört, den Anschein zu erwecken), und dann haben die Frauen sich geweigert zu gehorchen – 2016 wird als Geburtsstunde der Massenfrauenbewegung in Polen in die Geschichte eingehen.

Vor einem Monat legte Kaczyński seine Karten auf den Tisch, um Ziobro [14] zu überbieten und die Aufmerksamkeit von der Unfähigkeit der Regierung, mit der Pandemie fertig zu werden, abzulenken – das war die Entscheidung des Pseudo-Gerichts. Und ein neuer kompromissloser Spieler erschien: die Generation Z, geboren nach 1995.

Und diese jungen Leute betrachten die Symbole von Solidarność als Anregung für Internet-Memes.

Dies ist die Rebellion der Smartphone-Generation: Individualismus, Netzwerk und ein spezifischer Sinn für Humor stehen an erster Stelle. Sie alle drücken sich persönlich und auf ihre eigene Weise aus. Gemeinsam schreiben sie Geschichte und sind sich dessen bewusst.

Wahrscheinlich wird bald jemand die Fälle von Apostasie (öffentliche Loslösung von der katholischen Religion) zählen und feststellen, dass sie in die Tausende gehen. Der Schlüssel zu einem mächtigen kulturellen Wandel liegt jedoch in den Bildern – Memes, Videos, Fotos, Clips.

Es gibt auch Veränderungen in der Landschaft und Fotos dieser Veränderungen: Blitze (der rote Blitz ist eines der Symbole der Rebellion) an den Wänden, Inschriften wie „Ihr habt Blut an Euren Händen“, Poster an Kirchenzäunen. Diese Bilder sind vergänglich, aber zusammen bilden sie einen neuen Schritt im kollektiven Gedächtnis dieser Gesellschaft. Und dies wird zweifellos in die Geschichtsbücher eingehen.

      
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Die Rechte behauptet, dass die Bösen, die Unruhestifter, die Barbaren auf die Straße gegangen seien. Kaczyński hat sie als Kinder bezeichnet, die von Erwachsenen manipuliert würden. Tatsächlich haben wir es mit jungen Menschen zu tun, die sich geweigert haben, an einem Spiel teilzunehmen, das Erwachsene ihnen aufzwingen wollen.

Sie sind eine kollektive Einheit, die sich ihrer selbst bewusst ist und heute Geschichte schreibt und den Generationen der Transformation sagt: „Ich prüfe dich“. Sie entsteht vor unseren Augen und stellt die Grundlagen des Gesellschaftsvertrags in Frage, die sie vorgefunden hat. Abtreibung war der Auslöser, und der Slogan „Fuck the PiS“ verpflichtet uns, die Frage nach der Zukunft der Regierungspartei zu stellen.

Auf lange Sicht ist es eine viel komplexere Frage als die nach dem Abtreibungsgesetz und der Karriere von Präsident Kaczyński: Junge Menschen haben die kulturelle Hegemonie der Kirche in Polen abgelehnt. Es ist amüsant festzustellen, dass die Schlussfolgerungen früherer Generationen in dieser Frage von den jungen Leuten abgelehnt wurden, die manchmal als Generation „JP2“ [16] bezeichnet werden, jungen Leuten, die in der Schule mehr Religions- als Informatikunterricht hatten.

Übersetzung aus dem Englischen: Björn Mertens
Agnieszka Graff ist Schriftstellerin, Publizistin, Wissenschaftlerin und feministische Aktivistin. Sie ist Professorin am American Studies Center der Universität Warschau, ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem bei Feminismen und Gender-Studies.[nach Wikipedia]



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2021 (Januar/Februar 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] „Podmiot nie zgadza się z orzeczeniem“ ist ein Wortspiel mit schillernder grammatischer und juristischer Deutung: Der Begriff „orzeczenie“ bedeutet in der Grammatik „Prädikat“ bzw. „Satzaussage“ und im juristischen Sprachgebrauch „Urteilsspruch“, also „der (Satz-)Gegenstand verträgt sich nicht mit der Satzaussage“ oder „Das Urteil geht an der Sache vorbei“ oder so ähnlich [Anm. d. Red.].
[2] Anspielung auf das 2019 erschienene Buch About the Civilization of Death: How to stop the anti-culture of totalitarian minorities (Polnisch: O cywilizacji śmierci. Jak zatrzymać antykulturę totalitarnych mniejszości) des Historikers Marek Jan Chodakiewicz, in dem dieser zu einem Kulturkampf gegen Homosexuelle aufruft. [nach Wikipedia, Anm. d. Üb.]
[3] Radio Maryja, ein konservativer katholischer Radiosender, wurde 1991 gegründet und sendete zuerst in Toruń und Bydgoszcz, bevor er 1994 die nationale Genehmigung erhielt. Sein Gründer und Direktor bis heute ist Tadeusz Rydzyk, ein redemptoristischer Priester, der bekannt ist für seine Verteidigung kreationistischer Thesen, seinen Kampf gegen die Freimaurerei, seinen Nationalismus und seine antisemitischen Äußerungen. Dieser Sender, der auch über Satellit in Europa und Nordamerika ausgestrahlt wird, ist, zusammen mit der rechtsextremen Tageszeitung Nasz Dziennik, dem Fernsehsender Trwam, der Hochschule für Sozial- und Medienkultur von Toruń sowie der Lux-Veritas-Stiftung, Teil eines Medienimperiums der katholischen Rechten.
[4] Diese Dokumentarfilme sind auf YouTube verfügbar: „Versteckspiel“ (Zabawa w chowanego, 2020) und „Sag es niemandem“ (Tylko nie mów nikomu)
[5] Michnik, Adam: Kościół, lewica, dialog, Paryż: Biblioteka Kultury, 1977, (Biblioteka Kultury, Bd. 277). – 172 S.
Michnik, Adam: Die Kirche und die polnische Linke. Von der Konfrontation zum Dialog, aus dem Französischen übersetzt von Kuno Füssel, mit einem Nachwort von Hans Hermann Huecking u. Tadeusz Marek Swiecicki, München: Kaiser, 1980. – 240 S.
[6] Auszüge aus dem Urteil des Verfassungsgerichts vom 28. Mai 1997: Dem Beschwerdeführer zufolge lag auch ein Verstoß gegen Artikel 79-1 der Verfassungsbestimmungen zum Mutterschutz vor. Mutterschaft sollte von Natur aus eine Beziehung zwischen Mutter und Kind sein. Gesetzliche Bestimmungen können weder darauf abzielen, diese Beziehung zu brechen, noch einen solchen Bruch zu stimulieren (...). Aufgrund der oben genannten Funktion der Mutterschaft erfolgt der verfassungsmäßige Schutz dieses Wertes nicht im alleinigen Interesse der Mutter. Der Fötus und seine gute Entwicklung müssen gleichermaßen Gegenstand dieses Schutzes sein. Dies beinhaltet eindeutig den Schutz der Gesundheit des gezeugten Kindes und das Verbot, dem Fötus gesundheitliche Probleme zuzufügen oder ihn zu schädigen.
[7] Graff, Agnieszka: Świat bez kobiet. Płeć w polskim życiu publicznym, Warszawa: Wydawn. W.A.B., 2001. – 282, [4] S. [Welt ohne Frauen. Geschlecht im polnischen öffentlichen Leben].
[8] „Manifa“ Allgemeine Abk. f. manifestacja, also „Demo“, oft speziell auf Demos mit feministischem, antiklerikalem Inhalt bezogen. [Anm. d. Üb.]
[9] Der Frauenverband lud die „Women on Waves“ (Frauen auf Wellen) nach Polen ein. Ihr Schiff, die Langenort, kam in Władysławowo an der polnischen Küste an, um dort zwei Wochen zu bleiben. Sie organisierten zusammen mit polnischen Aktivist*innen Aktionen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Anti-Abtreibungsgesetz zu wecken, und führten Abtreibungen in extraterritorialen Gewässern durch. Diese Aktionen wurden von rechtsextremen Gruppen wie der Allpolnischen Jugend und dem Bund der polnischen Familien heftig angegriffen, die Frauen massiv einschüchterten, um sie am Einsteigen zu hindern.
[10] „Ordo Iuris“ ist eine rechtsextreme katholische fundamentalistische NGO, die Lobbyarbeit für „traditionelle Werte“ finanziert. Sie war Urheberin des Gesetzentwurfs, der auf ein absolutes Abtreibungsverbot abzielt und 2016 vom Landtag unter dem Druck der Mobilisierung von Frauen abgelehnt wurde. Diese NGO ist mit der rechtsextremen brasilianischen NGO „Tradition, Familie und Eigentum“ (TFP) verbunden, die vom Bischof von Campos in Brasilien als ketzerische Sekte angesehen wird. Kaja Godek ist eine Anti-Abtreibungs- und homophobe Aktivistin, die die Pro-Stiftung leitet. Sie kandidierte bei den Europawahlen 2019 für die Koalition rechtsextremer Organisationen.
[11] Julia Przyłębska wurde 2015 auf Initiative der PiS zur Präsidentin des Verfassungsgerichts gewählt. Dieses Gericht entschied, dass die beabsichtigt eingeleitete Beendigung einer Schwangerschaft (Abtreibung) für Frauen, die mit Föten schwanger sind, die an Missbildungen, auch „schwerwiegenden und irreversiblen“, leiden, verfassungswidrig sei.
[12] Dziewuchy dziewuchom (die Bewegung von „jungen Mädchen für Mädchen“) ist eine feministische Bewegung, die etwa fünfzig lokale Gruppen zusammenbringt. Sie wurde am 1. April 2016 durch die Einrichtung einer Facebook-Seite gegen den Entwurf des Anti-Abtreibungsgesetzes initiiert: https://www.facebook.com/dziewuchydziewuchom, https://dziewuchydziewuchom.pl
[13] Die Bewegung ist geprägt durch Parolen in einer ausgesucht vulgären Sprache. [Anm. d. Üb.]
[14] Zbigniew Ziobro, ursprünglich Mitglied der PiS, gründete 2012 eine noch konservativere Partei unter dem Namen „Solidarna Polska“ (Solidarisches Polen), die zusammen mit der PiS Teil der „Zjednoczona Prawica“ (Vereinigte Rechte) ist. Seit 2015 ist er Justizminister.
[15] Diese Skulptur mit dem Namen „Vergiftete Quelle“ zeigt Papst Johannes Paul II., wie er einen großen Stein in einen roten Teich wirft. Sie ist Antwort auf eine Installation auf der Biennale 1999, die den Papst zeigt, der von einem großen Meteor getroffen wird. Siehe: https://www.theguardian.com/world/2020/sep/24/poland-unveils-superhuman-john-paul-ii-statue-in-warsaw [Anm. d. Üb.]
[16] Abkürzung für Papst Johannes Paul II.