Das Beispiel der Cholera-Epidemien im 19. Jahrhundert zeigt, dass auch damals zahlreiche wirtschaftliche und soziale Aspekte darauf hingewirkt haben, ob die Epidemie verheerend ausfiel oder eben nicht. Hier zeigen sich durchaus Parallelen zu der heutigen Lage mit Covid-19 und dem Handeln (oder Nichthandeln) der Politik.
Paul B. Kleiser
In Europa gab es im 19. Jahrhundert fünf große Cholera-Epidemien, 1831-32, 1848-54, 1866-67 und 1888-92. Die Cholera ist eine schlimme Krankheit, die das kollektive Bewusstsein weiter Bevölkerungskreise stark geprägt hat, was sich unter anderem in diversen Liedern ausdrückte („Schnaps ist gut gegen Cholera“). Die erkrankten Menschen trockneten aus, bis sie „blau“ wurden. Daher sprach man auch von der „blauen Angst“.
In Frankreich starben in der ersten Epidemie 1832 gut 100 000 Menschen (bei einer Bevölkerung von rund 33 Mio.), davon allein 20 000 in Paris, besonders in den Armenvierteln. Die Bevölkerung verweigerte sich häufig den Zwangsmaßnahmen des Staates, während dieser sich weigerte, die Cholera zur „ansteckenden Krankheit“ zu erklären. Die Wirtschaft hatte – wie heute – häufig Vorrang vor der Gesundheit. 1848 schaute man dann genauer auf die Ursachen und stellte fest, dass verseuchtes Wasser die Hauptursache der Ausbreitung der Cholera war. Die Zunahme des internationalen Verkehrs und der Kolonialismus verschärften die Lage. Es wurden zahlreiche (nationale und internationale) Konferenzen organisiert, um die Krankheit an der Ausbreitung zu hindern – ohne großen Erfolg. In Großbritannien wurden die Fabriken angewiesen, kein Abwasser mehr in die Themse zu leiten.
In Deutschland fand die letzte Epidemie 1892 in Hamburg statt, bei der fast 9 000 Menschen zu Tode kamen. Dabei war auffallend, dass die meisten Toten in Hamburg zu beklagen waren, während im (damals preußischen) Altona es nur wenige Tote gab. Robert Koch reiste ins Katastrophengebiet und zog die richtigen Schlussfolgerungen: Altona war an eine Wasserversorgung und eine Kläranlage angeschlossen, während Hamburg das Trinkwasser der Elbe entnahm und ungeklärt wieder zurückleitete. Die Stadt investierte dann erhebliche Summen in die Klärung der Abwässer, damals die modernste Anlage in Europa. Interessant ist die Kontroverse zwischen Koch und dem Münchner Max Pettenkofer; während ersterer ein Bakterium verantwortlich machte, rekurrierte der Zweite auf dem gesamten Umweltbedingungen.
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Die weite Welle Mitte des Jahrhunderts führte auch zur Verbesserung der Hygiene. Es wurden Maßnahmen gegen ungesunde Wohnverhältnisse unternommen. In Paris schlug Haussmann ab 1852 ganze Schneisen in die Stadt, um für bessere Luft zu sorgen. Außerdem wurden Häuser mit fließendem Wasser errichtet, die an Abwasserkanäle angeschlossen waren.
Die Cholera war der Katalysator für das, was man später „die erste Revolution im Gesundheitswesen“ nannte. Man schätzt z.B., dass die Zunahme der durchschnittlichen Lebensdauer der Menschen von 1800 bis 1850 in den USA auf die Verallgemeinerung des Zugangs zu Trinkwasser (besonders in den großen Städten) zurückzuführen war. So wie verseuchtes Wasser im 19. Jahrhundert die wichtigste Quelle von Infektionskrankheiten war, ist es heute die Luftverschmutzung, die laut WHO allein in Europa zu 400 000 vorzeitigen Todesfällen führt. Cholera führte auch zu einem Nachdenken über die sozialen Ungleichheiten – die sich, vergleichbar mit Covid-19 – im Verlauf der Pandemien zeigten. Die Todeszahlen korrelierten stark mit der sozialen Lage der Betroffenen.
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz