Kasachstan

Der Januar-Aufstand und die Massenstreiks in Kasachstan

Wir veröffentlichen eine vorläufige Analyse der Ereignisse im Januar 2022 in Kasachstan. Weitere Artikel mit Schlussfolgerungen und klärenden Details werden in den kommenden Wochen veröffentlicht.

Sozialistische Bewegung Kasachstans


Ursachen der Proteste


Die soziale Explosion selbst ist herangereift und zum jetzigen Zeitpunkt längst überreif. Dies liegt daran, dass Kasachstan zu einer Rohstoffkolonie der entwickelten kapitalistischen Länder geworden ist. 30 Jahre lang führten die ehemaligen Spitzenfunktionäre der sowjetischen Partei- und Jugendorganisation, angeführt von Nasarbajew, härteste Marktreformen durch, die auf die Privatisierung der Großindustrie und vor allem des Bergbaus abzielten. Das Sozialversicherungssystem wurde abgeschafft und das Rentenalter wurde angehoben, so dass der ehemalige Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans Lob von Margaret Thatcher und den Titel ihres besten Schülers unter den Präsidenten im postsowjetischen Raum erhielt.

Millionen von Menschen fielen unter die Armutsgrenze und verloren Mitte der 90er Jahre durch die Betriebsschließungen im verarbeitenden Gewerbe und die erzwungene Schließung landwirtschaftlicher Kollektivbetriebe über Nacht ihre Arbeit. Infolgedessen konzentrierte sich die gesamte Großindustrie im Westen Kasachstans in den Ölfördergebieten, wo sich seit 1993 US-amerikanische und europäische Unternehmen angesiedelt haben und zwei Drittel der Produktion kontrollieren, und im Zentrum Kasachstans, wo die wichtigsten Unternehmen „Arcelor Mittal Temirtau“ des britischen Milliardärs Lakshmi Mittal und der „Kazakhmys“-Konzern sind. In Bezug auf den Bezirk Mangghystau und die Regionen Westkasachstans, in denen die ersten Proteste ausbrachen, können wir sagen, dass sich dort alle sozialen Widersprüche und Unzufriedenheiten am stärksten konzentrierten, was zu Streiks und Massendemonstrationen führte, über die wir im Folgenden berichten werden.

Demonstration in Aqtöbe, 4. Januar 2022

Foto: Esetok

Erstens sind die Bezirke Mangghystau, Aqtöbe, Atyrau, Westkasachstan und Kyzylorda Regionen der Massenarbeitslosigkeit, in denen es außer Betrieben im Öl- und Gassektor praktisch keine andere Arbeit gibt. Die dortige Industrie aus der Sowjetzeit wurde in den 90er Jahren fast vollständig zerstört. Und genau dort in Zhanaozen und Aqtau, wo die ersten Kundgebungen und Streiks verzeichnet wurden, gibt es 7-8 weitere arbeitslose Verwandte und erwachsene Kinder pro arbeitendem Ölarbeiter. Und deshalb haben die Streikenden und Demonstrant*innen unter anderem den Aufbau neuer Industrien gefordert.

Unter so harten Bedingungen und auch schwierigen klimatischen Bedingungen, da es sich um Halbwüstenregionen handelt, bildeten Betriebskollektive und die lokale Bevölkerung eine starke Verbindung zueinander. Solidarität und Zusammenhalt wurden zum Schlüssel des Erfolgs bei der Durchführung zahlreicher Streiks, die seit Beginn der 2000er Jahre durchgeführt wurden.

Zweitens führten die Inflation im Sommer und Herbst letzten Jahres und der Anstieg der Lebenshaltungskosten zu einer Abwertung der Landeswährung Tenge und zu einem Rückgang der Kaufkraft der Löhne. Das zeigte sich besonders in der Region Mangghystau, die sich geografisch in einer „Sackgasse“ befindet, in der alle Produkte und Waren importiert werden müssen und deren Preise zwei- bis dreimal so hoch sind wie im Landesdurchschnitt. Außerdem stiegen die Preise für Kraftstoffe sowie für alle Arten der öffentlichen Versorgung. Es war klar, dass die Verdopplung des Preises auf Flüssiggas zum 1. Januar zum Auslöser einer Explosion der Unzufriedenheit nicht nur der Autofahrer*innen wurde, da diese Kostensteigerung auch einen starken Anstieg der Preise von auf der Straße transportierten Produkten bedeutete.

Drittens war der Aufstand alles andere als eine völlig unerwartete und zufällige Überraschung, wie sie uns glauben machen wollen. Denn das ganze Jahr 2021 über wurden der Bezirk Mangghystau und alle Regionen Westkasachstans von ständigen Kundgebungen und Streiks von Ölarbeiter*innen und Arbeiter*innen in Dienstleistungsunternehmen überzogen, überwiegend bei Unternehmen, an denen ausländisches Kapital beteiligt ist. Das waren größtenteils Besetzungsstreiks, bei denen Zelte und Jurten auf dem Gelände von Betrieben oder vor den Toren aufgestellt wurden, um zu verhindern, dass die Produktionsanlagen herausgebracht oder Streikbrecher hereingebracht werden. Die lokale Bevölkerung und benachbarte Betriebskollektive brachten ebenso wie Anfang Januar Lebensmittel, Wasser, Kleidung und sammelten sogar Spenden bei den Kundgebungen.

Viertens wurden – obwohl durch die Streiks Lohnerhöhungen durchgesetzt werden konnten – die wichtigsten Forderungen ignoriert. Dazu gehörten die Forderungen nach einem Ende von Rationalisierungen und nach einer Rückführung von Servicebetrieben in den Mutterbetrieb, nach Gewährleistung der Freiheit der Gewerkschaftstätigkeit und nach der Legalisierung und Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften, die von den Arbeiter*innen selbst gegründet wurden. Es sei darauf hingewiesen, dass infolge der von westlichen Manager*innen durchgeführten Rationalisierung Hunderttausende von Ölarbeiter*innen ihre Gehälter und Sozialleistungen verloren haben.

Fünftens wurden im Dezember 2021 auf dem Tengiz-Ölfeld beim „Tengizchevroil“-Joint Venture im Bezirk Atyrau, wo 75 Prozent der Anteile im Besitz der US-Konzerne Chevron und ExxonMobil sind, 40 000 Arbeiter*innen aus Dienstleistungs- und Bauunternehmen mit sofortiger Wirkung ohne Bereitstellung irgendwelcher Ersatzarbeitsplätze entlassen. Die gleiche Gefahr von Entlassungen hing über den Arbeiter*innen von Dienstleistungsunternehmen im Bezirk Mangghystau.

Zu berücksichtigen ist auch, dass in Mangghystau die zu Sowjetzeiten entdeckten Vorkommen bereits schwinden und viele bis 2030 erschöpft sein werden. Hier müssen alle Ölarbeiter*innen der Perspektive eines bevorstehenden Arbeitsplatzverlustes ins Auge blicken. Drohende Entlassungen und der bevorstehende Zusammenbruch der ganzen Branche in diesem Bezirk schufen daher eine aussichtslose Situation.


Soziale Explosion


Anlass für die Explosion der Unzufriedenheit wurde die Entscheidung der Regierung, Flüssiggas für Autos an der Börse zu verkaufen und den Preis dem Markt zu überlassen. In der Folge profitierten die Monopole, die den Preis gleich am ersten Tag spekulativ erhöhten. Der Kraftstoffpreis ist von 60 auf 120 Tenge (24 Euro-Cent) pro Liter gestiegen. Dies führte dazu, dass am nächsten Tag, am Sonntag, dem 2. Januar, Bewohner*innen von Zhanaozen und Arbeiter*innen lokaler Öl-Unternehmen, die gasbetriebene Fahrzeuge benutzen, begannen, zu spontanen Kundgebungen zu gehen und Straßen zu blockieren.

Sie wurden sofort von Einwohner*innen und Arbeiter*innen aller örtlichen Zentren des Bezirks unterstützt. Am Abend kam es bereits zu einer Kundgebung im Bezirkszentrum Aqtau, bei der die Polizei zunächst erfolglos versuchte, die Menge vom zentralen Yntymak-Platz zu vertreiben. Infolgedessen wurden auch dort alle zentralen Straßen blockiert und die Menschen weigerten sich rundweg, sich zu zerstreuen. So entstanden zwei Protestzentren – Zhanaozen und Aqtau, wo die Teilnehmer*innen beschlossen, eine unbefristete Kundgebung abzuhalten, bis ihre Forderung vollständig umgesetzt sein würde – die Senkung des Benzinpreises auf 50 Tenge pro Liter (10 Euro-Cent). Parallel dazu stellten die Demonstrant*innen eine weitere Forderung auf – eine Lohnerhöhung um 100 Prozent.

Anschließend begannen sich in der Nacht und dann am Morgen und Mittag des 3. Januar Betriebskollektive den Demonstrant*innen anzuschließen und gaben Unterstützungsbekundungen ab. Auf den Plätzen wurden Zelte und Jurten errichtet, die lokale Bevölkerung organisierte warme Mahlzeiten und begann, Spenden zu sammeln. Die aktuellen Proteste können daher als Fortsetzung der Massenstreiks des letzten Jahres gegen die von der westlichen Unternehmensführung auferlegte Rationalisierungspolitik bezeichnet werden, bei der viele Service-Einheiten aus den Mutterunternehmen ausgegliedert wurden.

Am 3. Januar erregten Informationen über die Verlegung von Militärtransportflugzeugen mit Truppen die Empörung der Demonstrant*innen. Infolgedessen weitete sich der Protest noch weiter aus, und Einwohner*innen und Arbeiter*innen des Bezirkszentrums blockierten alle Zufahrtsstraßen zum Flughafen.

Diese Reaktion war auch zu erwarten, da alle noch frische Erinnerungen an die Erschießung von Streikenden in Zhanaozen im Dezember 2011 haben. Deshalb rief die Nachricht Schmerz hervor und bereits nachts und morgens begann als Reaktion auf diese Maßnahme der Behörden ein Generalstreik der Ölarbeiter*innen im Bezirk Mangghystau. Im benachbarten Bezirk Atyrau stellten Arbeiter*innen die Produktion auf dem Tengiz-Ölfeld ein.

Es waren die Ölarbeiter*innen des Unternehmens Tengizchevroil, an dem zu 75 Prozent US-Kapital beteiligt ist, die in den Streik traten. (Chevron besitzt 50 Prozent, ExxonMobil 25 Prozent und das kasachische Unternehmen KazMunayGas nur 20 Prozent.) Dort waren kurz vor Neujahr 40 000 Arbeiter*innen auf die Straße geworfen worden. Aber danach erfassten die Streiks nicht nur alle Ölförderunternehmen der fünf Bezirke Westkasachstans, sondern auch die gesamte Bergbauindustrie des Landes und die Metallindustrie.

Infolgedessen traten am 4. Januar Bergleute und Metallarbeiter*innen des Unternehmens „ArcelorMittal“ in der Region Qaraghandy sowie Arbeiter*innen aus Bergwerken und Kupferhütten des Kazakhmys-Konzerns, an dem britisches Kapital beteiligt ist, in den Streik. Örtliche Metallarbeiter*innen besetzten die Stadt Chromtau im Bezirk Aqtöbe vollständig.

Wichtigste soziale Forderungen der Streikenden wurden eine Absenkung der Preise für bestimmte Waren, höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, ein Ende der Entlassungen, die Freiheit der Gewerkschaftstätigkeit und der Bau neuer Fabriken – die Schaffung einer modernen Fertigungsindustrie, um die Zukunft der Region zu gewährleisten.

Am 5. Januar wurden in Zhanaozen, das zum eigentlichen politischen Hauptquartier der gesamten Arbeiter*innenbewegung wurde, auch politische Forderungen gestellt: der Rücktritt von Präsident Toqajew und allen Beamten aus dem Umkreis von Ex-Präsident Nasarbajew, die Freilassung politischer Gefangener und Inhaftierter, eine Rückkehr zur Verfassung von 1993, die die Freiheit garantiert, zu streiken und Gewerkschaften und Parteien zu gründen. Dort wurde aus Vertreter*innen aller Branchen der sogenannte Ältestenrat gewählt, der zum Koordinierungsgremium der Bewegung in der Region wurde und ein Beispiel für die Schaffung solcher Komitees und Räte in anderen von Streiks erfassten Regionen gab.

Die Rolle der Arbeiter*innenbewegung bei diesen Ereignissen war entscheidend, da es die Betriebskollektive waren, die zum Kern der Proteste in den Industrieregionen wurden und den Anstoß zu Massenkundgebungen in allen Städten Kasachstans gaben.


Die Ereignisse in Almaty und die Verhängung des Kriegsrechts


Gleichzeitig begannen am Dienstag, dem 4. Januar, auch schon zeitlich unbefristete Kundgebungen in Atyrau, Uralsk, Aqtöbe, Qysylorda, Taras, Taldykorgan, Turkestan, Schymkent, Ekibastus, in den Städten des Bezirks Almaty und in Almaty selbst, wo die Straßenblockaden bereits in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar zu einem offenen Zusammenstoß zwischen Demonstrant*innen und der Polizei führten, in dessen Folge das Rathaus vorübergehend eingenommen wurde. Dies veranlasste den Präsidenten Qassym-Schomart Toqajew, am Morgen des 5. Januar den Ausnahmezustand auszurufen. Anzumerken ist, dass an diesen Protesten in Almaty hauptsächlich arbeitslose Jugendliche und Binnenmigrant*innen teilnahmen, die in den Vororten der Metropole leben und in befristeten oder schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Und Versuche, sie mit Versprechungen zu beruhigen, indem der Gaspreis für die Bezirke Mangystau und Almaty auf 50 Tenge (10 Euro-Cent) gesenkt wurde, haben schon niemanden mehr zufrieden gestellt.

Die Entscheidung von Qassym-Schomart Tokayew, die Regierung zu entlassen und dann Nursultan Nasarbajew vom Posten des Vorsitzenden des Sicherheitsrates zu entfernen, hat die Proteste ebenfalls nicht gestoppt, da es bereits am 5. Januar zu Massenkundgebungen in den Bezirkszentren Nord- und Ostkasachstans kam, wo es sie zuvor nicht gegeben hatte - in Petropawlowsk, Pawlodar, Ust-Kamenogorsk, Semipalatinsk. Gleichzeitig wurde in Aqtöbe, Taldykorgan, Schymkent und Almaty versucht, die Gebäude der Bezirksverwaltungen zu stürmen.

Viele Aktivist*innen beobachteten den Einsatz organisierter Provokateure durch die Behörden am 5. Januar, als die Proteste ganz Kasachstan erfassten und Polizei und Armee die Demonstrant*innen nicht länger zurückhalten konnten. So gab es in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar und im Verlaufe des 5. Januars in Almaty, dem Bezirk Mangghystau, in Schymkent, Taldykorgan, Taras und anderen Städten zahlreiche Fälle von Polizisten und Soldaten aus den unteren Rängen, die auf die Seite der Aufständischen überliefen.

Daher setzte der Geheimdienst „Nationales Sicherheitskomitee“ ausgebildete Kampfgruppen ein, die schon seit Langem in abgeschlossenen Stützpunkten und Lagern ausgebildet worden waren, um eine „Chaos-Zone“ in Almaty und Südkasachstan zu schaffen. Diese ausgebildeten Gruppen von jungen Menschen sowie dem Geheimdienst unterstellte kriminelle Gruppierungen verübten Pogrome, Plünderungen, Angriffe auf staatliche Einrichtungen und verfügten über Waffen.

Der Einsatz dieser Provokateure zielte darauf ab, alle Demonstrant*innen des „Terrorismus“ zu beschuldigen und den Beschuss friedlicher Kundgebungen und Streiks anzuordnen. Deshalb versuchten sie im Fernsehen und in Zeitungen, alle Demonstrant*innen als Plünderer, Räuber, Mörder und sogar Terroristen darzustellen. Am 6. Januar wurden Einheiten der Armee und der Nationalgarde nach Almaty gebracht, die viele unbewaffnete Demonstrant*innen sowie diejenigen jungen Arbeitslosen erschossen, die, nachdem sie am Tag zuvor die örtliche Polizei und Militäreinheiten entwaffnet hatten, zu den Waffen gegriffen haben, um das Nasarbajew-Regime zu stürzen.

Infolgedessen wurde nun in Kasachstan ein strenges Kriegsrecht verhängt, das auf Befehl Qassym-Schomart Tokayews eingeführt wurde, um Volksaufstände und Streiks von Arbeiter*innen in der Rohstoffindustrie wie auch in den Metallbetrieben im Besitz US-amerikanischer und europäischer Konzerne mit militärischer Gewalt zu unterdrücken.

Bis heute wurden nach offiziellen Angaben mehr als 10 000 Menschen festgenommen, 225 Menschen starben in Almaty und einigen Städten im Süden Kasachstans. Tatsächlich gab es jedoch viel mehr Tote, da es richtige Kämpfe gegen das aufständische Volk gab. Außerdem kam es zu Erschießungen in Qysylorda, Aqtöbe, Atyrau und anderen Städten, in denen es überhaupt keine Pogrome gegeben hatte. Der Präsident nannte die Demonstrant*innen Terroristen und behauptete, dass 20 000 Bewaffnete von außen auf das Territorium Kasachstans vorgedrungen seien. Aber das ist nicht wahr!

Um ein Blutvergießen zu verhindern, haben die Ölarbeiter*innen Westkasachstans sowie Metallarbeiter*innen, Kupferschmelzer*innen und Bergleute der Minen des Bezirks Qaraghandy am Samstag, dem 8. Januar, organisiert ihre Kundgebungen und Streiks beendet. Aber seit dem 2. Januar gelang es den Arbeiter*innen in den Industrieregionen, wo die Arbeiter*innenklasse den Kern der Proteste ausmachte, den Protestcharakter der Aktionen sicherzustellen.


Über eine angebliche Beeinflussung der Ereignisse von außen


In den Medien und sozialen Netzwerken sowie von vielen linken und kommunistischen Parteien wurden Verschwörungstheorien über eine Einmischung der Vereinigten Staaten, der Ukraine, Großbritanniens, der Türkei und anderer Staaten verbreitet. Diese würden angeblich versuchen, eine „Farbenrevolution“ in Kasachstan zu organisieren. Tatsächlich hat sich das US-Außenministerium bereits am 6. Januar für das bestehende Regime in Kasachstan ausgesprochen, ebenso wie die Europäische Union sowie die Führungen Russlands und Chinas. Das heißt, es gab eine echte Manifestation der bürgerlichen Klassensolidarität im Kampf gegen die Massenbewegung der Arbeiter*innen und breiter Volksschichten.

Es gibt auch keine 20 000 islamistischen Terroristen, die Präsident Toqajew in seiner Erklärung erwähnt hat. Ihm zufolge sind sie angeblich aus arabischen Ländern nach Kasachstan eingedrungen. Bis heute hat man jedoch unter den Toten, Verletzten und Festgenommenen keinen einzigen Araber gefunden. Dieser Mythos einer externen Invasion wurde benötigt, um den Einsatz von Panzern und schweren Waffen gegen Demonstrant*innen und Streikende zu rechtfertigen und andererseits die Notwendigkeit zu erklären, Truppen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ nach Kasachstan zu verlegen. Außerdem wird auf diese Weise versucht, in den Augen der Werktätigen anderer ehemaliger Sowjetrepubliken das Bild von Arbeiteraufständen und Massenprotesten der Bevölkerung zu verteufeln.

      
Mehr dazu
Gemeinsame Erklärung von sozialistischen Organisationen aus Russland: Für ein demokratisches und sozialistisches Kasachstan!Stoppt die Intervention, lasst die Inhaftierten frei, die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022) (nur online)
Interview mit Michail Lobanow: Eine neue sozialistische Bewegung in Russland, die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022)
Jan Malewski: Vorbildlicher Streik der Ölarbeiter, Inprekorr Nr. 464/465 (Juli/August 2010)
 

Bisher spielen in dieser Protestbewegung oder bei Arbeiteraufständen keinerlei politische Kräfte eine Rolle, da das politische Feld im Moment vollständig gesäubert ist, alle Oppositionsparteien und -bewegungen, einschließlich der Kommunistischen Partei, wurden verboten. Alle unabhängigen Gewerkschaften wurden aufgelöst. Alleine nach der Verabschiedung des arbeiterfeindlichen Gewerkschaftsgesetzes im Jahr 2014 wurden mehr als 600 Gewerkschaften im Land per Gerichtsbeschluss aufgelöst. Zuletzt wurde der „Verband Unabhängiger Gewerkschaften Kasachstans“ 2017 durch ein Gerichtsurteil verboten, vier seiner Vorsitzenden wurden zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt.

Natürlich wird es in Zukunft Versuche der bürgerlichen Kräfte geben, die Protestbewegung anzuführen, aber bisher ist dies nicht geschehen, und es gibt keinerlei Anführer*innen oder politische Vereinigungen, die im Namen dieser Massen sprechen könnten. Dies beweist einmal mehr, dass das, was passiert ist, eine soziale Explosion und eine Massenbewegung an der Basis war, die eine Reihe gerechter wirtschaftlicher, sozialer und politischer Forderungen vorbrachte bis hin zur Abschaffung des derzeitigen Regimes.

Bisher gelang es Präsident Toqajew, die Lage durch die Einführung eines Militärregimes vorübergehend zu stabilisieren. Aber das ist vorübergehend, denn trotz des nationalen Populismus seiner jüngsten Reden bleiben alle Klassengegensätze und das politische System selbst sowie die Dominanz transnationaler Konzerne unverändert bestehen. Bemerkenswerterweise wandten sich US-amerikanische und europäische Unternehmen als erste an den Präsidenten mit der Bitte, die Ordnung wiederherzustellen, und am 5. Januar gab er eine Erklärung ab, dass das Eigentum und die Investitionen ausländischer Unternehmen durch die Staatsmacht geschützt würden. Und tatsächlich sind jetzt Truppen zum Tengiz-Ölfeld geschickt worden, um das Eigentum der US-Konzerne Chevron und ExxonMobil zu schützen. Zuvor hatten hier noch streikende Ölarbeiter*innen die Eisenbahnstrecke und die Autobahn blockiert.

Wir glauben nicht, dass dies eine endgültige Niederlage der Arbeiter*innenbewegung ist. Im Gegenteil, Ölarbeiter*innen, Bergleute und Metallarbeiter*innen haben unschätzbare Erfahrungen in Klassenkämpfen gesammelt und zum ersten Mal gab es einen Generalstreik in der Bergbauindustrie. Die Behörden haben es nicht geschafft, die Proteste und Streiks der Arbeiter*innen im Westen und im Zentrum Kasachstans niederzuschlagen, wo die Arbeiter*innen die Proteste organisiert beendeten. Das bedeutet, dass der Generalstreik erneut begonnen werden kann, allerdings mit bereits konkreteren Forderungen und einer entwickelten Kampftaktik.

Unsere Aufgabe ist es, den Aufbau von klassenkämpferischen Gewerkschaften zu unterstützen, die Aufhebung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 2015 zum Verbot der Kommunistischen Partei und die Legalisierung der Sozialistischen Bewegung zu erreichen und der Arbeiter*innenklasse zu zeigen, dass der Sozialismus die einzige Alternative ist, die ihre Interessen zum Ausdruck bringt.

Der Text wurde zuerst am 24.01.2022 auf Russisch auf der Website socialismkz.info veröffentlicht und von Christoph Wälz übersetzt.



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz