Die Gruppe „Sosyalist Demokrasi için Yeniyol“ (dt.: Neuer Kurs für eine sozialistische Demokratie), die türkische Sektion der Vierten Internationale, hat beschlossen, der „Türkiye İşçi Partisi“ (TIP, Arbeiterpartei der Türkei) beizutreten. Im Folgenden dokumentieren wir das Gespräch, das Tugay Candan mit unserem Genossen Uraz Aydın geführt hat.
Interview mit Uraz Aydın
Ihr kommt von einer anderen politischen Tradition her und habt euch entschieden, euren Kampf in den Reihen der TIP fortzusetzen. Wie ist der Prozess eures Beitritts verlaufen und wie seid ihr aufgenommen worden? |
Wir haben bereits bei verschiedenen Gelegenheiten mit einer Vielzahl von Genossinnen und Genossen der TIP aktiv zusammengearbeitet. Zunächst hier ein Blick auf die entferntere Vergangenheit: Wir haben uns beispielsweise in der Mitte der Neunzigerjahre mit vielen Genossen aus der Vereinigten Sozialistischen Partei (Birleşik Sosyalist Parti, BSP) und später der Freiheits- und Solidaritätspartei (Özgürlük ve Dayanışma Partisi, ÖDP), die Mitte der neunziger Jahre zwei wichtige Erfahrungen mit vereinigten Parteien in der Türkei gemacht haben, untereinander kennengelernt. In jüngster Zeit hatten wir gemeinsam Aktivitäten entfaltet: in der aus den Gezi-Revolten hervorgegangenen Vereinigten Juni-Bewegung, dann in der Plattform "Der Saray wird einstürzen, das Volk wird siegen", einer unabhängigen sozialistischen Initiative, die zur Unterstützung der HDP im Vorfeld der Wahlen vom 1. November 2015 gegründet wurde, und im Jahr 2017 in der Vereinigten Arbeitskoordination, deren Ziel es war, Arbeiterversammlungen in den Betrieben durchzusetzen. Seit über einem Jahr engagieren wir uns auch gemeinsam mit einigen anderen revolutionären Strömungen in der „Solidarität der städtischen Werktätigen“ mit dem Ziel, die prekärsten Sektoren im Dienstleistungssektor zu organisieren.
Wir haben immer den Blick vor allem auf den Aufbau von möglichst dauerhaften Einheitsinitiativen gerichtet und versucht, dazu beizutragen, dass sie einen dauerhaften Charakter annehmen, mit der Perspektive, dass sie zur Bildung von politischen Projekten führen. Wir müssen Mittel und Wege finden, um gemeinsam zu kämpfen, natürlich ohne zu vergessen, was uns in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung an strategischen Divergenzen trennt, aber auch ohne daraus unüberwindbare Grenzen zu machen. Wir vertreten dies nicht, weil wir einen Fetischismus der Einheit betreiben würden, sondern weil wir glauben, dass die radikale Linke eine pluralistische Neuzusammensetzung braucht, um zum Aufbau einer revolutionären Massenpartei beizutragen, die in den Arbeitermassen verwurzelt ist und zu einem entscheidenden Akteur im Klassenkampf wird. Das haben wir in der BSP und in der ÖDP versucht zu erreichen und versuchen wir heute in der TIP. Wir geben also nicht irgendeinen Teil unseres Erbes und unserer Ziele auf, sondern gerade, weil die TIP unserer Perspektive des Organisationsaufbaus entspricht, schließen wir uns ihr an.
Ich möchte jedoch klarstellen, dass es keine Aufbaustrategie ist, für die wir nur für die Türkei ‒ die wahrscheinlich eine der am tiefsten gespaltenen revolutionären Bewegungen der Welt hat ‒ eintreten, sondern eine internationale Strategie. Die Vierte Internationale, der wir angehören, hat sich zum Ziel gesetzt, zu einer einheitlichen, demokratischen und pluralistischen Neuformierung der revolutionären Linken beizutragen, und zwar in praktisch jedem Land, in dem die Mittel dazu gegeben sind. Darüber hinaus glauben wir, dass wir als Internationale nur ein Teil einer breiten, pluralistischen Internationale sind, in der verschiedene revolutionäre Strömungen auf antikapitalistischer, feministischer und ökologischer Grundlage ihren Platz finden. Wir haben verschiedene Erfahrungen mit Zusammenschlüssen und dem Aufbau von Einheitsorganisationen gemacht, mit sehr unterschiedlichen organisatorischen Strukturen, einige haben funktioniert und es geschafft, zu – natürlich relativ betrachtet – politischen Kräften zu werden, andere nicht. Aus einer solchen Perspektive heraus haben wir uns an Einheitsprojekten beteiligt, die es in Ländern wie Portugal, Brasilien, Dänemark, Russland, Pakistan, Frankreich und bald auch in Griechenland gibt, wo eine vereinte antikapitalistische Bewegung kurz vor der Gründung steht.
Zurück zu unserer Aufnahme in die TIP: Die Tatsache, dass sie für die Teilnahme von Aktivist*innen aus anderen Strömungen offen war, war wichtig. Aber entscheidend war natürlich die Tatsache, dass wir uns über die politischen Aufgaben einig waren ‒ auch wenn wir unterschiedliche historische Bezüge haben. In diesem Zusammenhang war es wichtig, dass die TIP bei den Arbeiter*innen Interesse geweckt hat, indem sie den Klassenkampf in den Mittelpunkt ihres Kampfes stellt sich mit dem Kampf des kurdischen Volkes solidarisiert, wie es jede linke Partei tun müsste ‒ was einige von ihnen jedoch nicht tun.
Kurz nachdem ihr der TIP beigetreten seid, hat die Vorbereitungskonferenz für den „Interventionskongress“ stattgefunden. Der Kongress wird am 13. Februar zu Ende gehen. Die Teilnehmer*innen der Konferenz haben den Aufruf „Kommt, lasst uns das Schicksal unseres Landes in die Hand nehmen“ an die Öffentlichkeit gerichtet. Welche Bedeutung hat diese Konferenz deiner Meinung nach gehabt? |
Uraz Aydın Foto: İleri Haber |
Ich denke, unsere Genoss*innen, die von Anfang an am Aufbau der Partei beteiligt waren, könnten das besser einschätzen. Aber als jemand, der die Entwicklung der Partei mit Interesse verfolgt hat, habe ich sie als eine Konferenz gesehen, auf der die TIP ihre Organisationsstruktur und ihre politische Strategie angesichts eines politischen Wendepunkts, der wahrscheinlich sehr stürmisch sein wird, neu gestaltet hat. Um auf ihren Namen Bezug zu nehmen, könnte man sie vielleicht als eine Konferenz bezeichnen, auf der eine Partei, die vom Schwerpunkt her ein Anziehungspunkt für Arbeitende und Unterdrückte ist, ihren Willen bekundet hat, in die Geschichte einzugreifen, entsprechend den Bedürfnissen, Forderungen und Bestrebungen der Menschen von unten. Neben der Frage des Eingreifens war mein Eindruck von der Konferenz jedoch, dass sie auch Teil eines Aufbauprozesses war. Der Arbeiterpartei der Türkei ist es innerhalb kurzer Zeit gelungen, bekannt zu werden, sie hat gezeigt, dass sie drauf und dran ist, eine aktive Akteurin im Klassenkampf zu werden, und sie hat wesentliche Schritte in diese Richtung unternommen. Ich stimme allerdings absolut mit dem überein, was der Parteisprecher und Abgeordnete Erkan Baş gesagt hat: „Wir wachsen, es ist natürlich wichtig zu wachsen, aber das Wichtigste ist, dass wir uns organisieren.“ Daher – so sehe ich es – hat diese Konferenz betont, wie wichtig es ist, sowohl politische Intervention als auch organisatorischen Aufbau zu betreiben, wobei der Aufbau nie als abgeschlossen betrachtet werden darf und über die Interventionen, die in den jeweiligen aktuellen Situationen erforderlich sind, dauerhaft gemacht werden muss – und natürlich in Massenkämpfen.
Wie ist die Konferenz deiner Meinung nach verlaufen? |
Ich persönlich fand sie ausgesprochen begeisternd. Zunächst einmal sorgte die Tatsache, dass sie zu einer Zeit stattfand, in denen es nacheinander eine ganze Reihe von Widerstandsaktivitäten und Streiks gab, auf der Konferenz für eine enthusiastische Atmosphäre. Für mich war vor allem wirklich überraschend, wie jung die Teilnehmer*innen waren. Obwohl Interventionen in Arbeiterkämpfe mit Recht eines der Markenzeichen der TIP sind, waren die Reden der jungen Feministinnen, LGBTI+, Behindertenrechtler*innen und veganen Aktivist*innen auf dem Podium und ihr Wille, die Forderungen ihres Kampfes in die Agenda der Partei aufzunehmen, beeindruckend. Bemerkenswert war auch die Begeisterung im Saal, als ein Genosse aus der kurdischen Region, ein Angestellter eines Stromversorgungsunternehmens, am Ende seiner Rede Grüße an politische Gefangene und an Selahattin Demirtaş richtete (den ehemaligen Sprecher der HDP, der seit über fünf Jahren im Gefängnis sitzt).
Ich hatte vor etwa 15 Jahren zum letzten Mal an einem großen Kongress teilgenommen, dem der ÖDP, einer Partei, die man (nach unseren eigenen Maßstäben) als recht groß bezeichnen könnte. Es war der Parteitag einer Partei, die dabei war, ihren Pluralismus zu verlieren oder sogar zu amputieren, einer Partei, die sich lieber auf der Grundlage einer einzigen politischen Zugehörigkeit konsolidieren wollte. Es war eine Partei, für die wir viele Jahre lang hart gearbeitet hatten, die wir kritisiert haben, während wir sie weiter aufgebaut haben. Das war eine wirklich schmerzhafte Erfahrung. Jetzt, Jahre später, habe ich gerade an einer Konferenz teilgenommen, auf der eine völlig andere Sprache, ja sogar mehrere Sprachen gesprochen wurden; einige Kämpfe, die damals noch sehr schwach waren, äußerten sich selbstbewusst entsprechend der Stärke, die sie erlangt haben, und es hat nicht an Kritik und Selbstkritik gefehlt. Es war für mich auch wichtig, dass ich hier in der Arbeiterpartei der Türkei eine Reihe von Bekannten aus meiner Generation angetroffen habe, aus der Studentenbewegung der 1990er Jahre oder aus verschiedenen politischen Kämpfen und Milieus.
Was bedeuten die auf der Konferenz gefassten Beschlüsse für dich? |
Es gibt einige Punkte, die hervorstechen oder die ich unterstreichen möchte. Erstens gibt es in den Resolutionen ein Gefühl von „Selbstvertrauen im Aufbau“, und das ist eine gute Sache. Insbesondere in der Passage, in der es heißt: „Die Türen unserer Partei stehen allen unseren Mitbürger*innen offen, die ihre Stimme mit unserer Stimme vereinen und das Regime des Sarays und die kapitalistische Ordnung, die es geschaffen hat, bekämpfen wollen, unabhängig von ihrer politischen Tradition und davon, für welche Parteien, sie gestimmt haben. Wir werden mit euch lernen, wir werden mit euch wachsen, wir werden mit euch zur Macht schreiten. Euer Platz in der Arbeiterpartei der Türkei steht bereit. Wir laden euch ein, diesen Platz einzunehmen.“
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Natürlich ist da der Willen, dieses Regime zu stürzen, und auch mit der Ordnung des Kapitals abzurechnen. Wie es aber aussieht, wird dieser Wille dadurch verstärkt, dass die Partei auf weit mehr Interesse gestoßen ist, als bei ihrer Gründung erhofft worden war. Angesichts der Unterstützung, die sie nicht nur von einzelnen bereits revolutionären Menschen erhält, die aus verschiedenen Strömungen der sozialistischen Bewegung kommen, sondern auch von Menschen aus anderen Teilen des politischen Spektrums, von Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen, öffnet sie ihre Reihen noch weiter zur Partizipation. So habe ich es zumindest verstanden. Das schafft natürlich einen fruchtbaren Boden für den Ausbau einer pluralistischen politischen Kultur.
Die Leitung der TIP spricht seit einiger Zeit davon, dass sie für ein drittes Bündnis ist, gegen die Bündnisse der beiden bürgerlichen Lager, dem von Erdoğan und dem der Opposition. Die Rede ist von einem Volksbündnis, das mit der HDP und, wenn möglich, mit anderen Parteien der radikalen Linken mit Blick auf die für 2023 geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gebildet werden soll. Diese Einladung ist hier erneuert worden, sie richtet sich im weiteren Sinne an alle sozialen Bewegungen. Ich denke, dass unsere ins Parlament abgeordneten Genossinnen und Genossen natürlich zusammen mit den Bemühungen aller Aktivist*innen, die die Last der Partei tragen, eine gute Verbindung zwischen dem Parlament und der Straße hergestellt haben. Und ich bin der Meinung, dass das Bestreben, die Aktivist*innen der verschiedenen sozialen Kämpfe ‒ über ihre eigenen Kandidatenlisten ‒ ins Parlament zu bringen, natürlich eine sehr kohärente Perspektive ist, solange die organische Verbindung zur Basis erhalten bleibt und die Kämpfe auf der Straße gefördert werden.
Es wird oft wiederholt, dass Politik mit Stärke gemacht wird. Das ist auch richtig. Aber revolutionäre Politik, Klassenpolitik, wird auch mit Glauben gemacht. Ich spreche natürlich von einem säkularen Glauben. Den Glauben an etwas zu haben, das größer ist als wir, das über das Individuum hinausgeht, den Glauben an ein kollektives Ziel, an eine Reihe von Werten, ist der geistige Treibstoff für den revolutionären Kampf. Marxisten wie Lucien Goldmann oder Daniel Bensaïd haben sich mit dieser Frage ganz besonders beschäftigt. Obwohl die Idee des Sozialismus heute wegen einer Reihe von Niederlagen hart mitgenommen erscheint, ist es ein unverzichtbarer Bestandteil der revolutionären Strategie, ihn als libertäre, egalitäre und demokratische Alternative wieder glaubwürdig zu machen; eine Vision einer emanzipierten Zukunft zu entwerfen, in der die Menschen sich selbst regieren; eine Gesellschaft wünschenswert zu machen, in der alle weniger arbeiten und mehr Zeit für Selbstverwirklichung haben. So gesehen ist die Orientierung der Konferenz, Wahlen als Instrument zu nutzen und den Sozialismus zu etwas zu machen, was Millionen von Menschen haben wollen, für mich wichtig.
Uraz Aydın ist jetzt Mitglied der „Parteiversammlung“, des Leitungsgremiums der TIP, das auf der Nationalen Konferenz vom 29./30. Januar 2022 gewählt wurde. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz