Ukraine/Nikaragua

Zwei Konflikte zwischen Recht und Politik

US-Krieg gegen Nicaragua, Russlands Überfall auf die Ukraine

„Bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen, gibt es in Bezug auf Nicaragua und die Ukraine doch einige Fragestellungen, die strukturell miteinander vergleichbar sind. Möglicherweise können wir daher aus den Erfahrungen Nicaraguas auch Lehren ziehen, die für die Beurteilung der heutigen Situation in der Ukraine hilfreich sind“, schreibt der Autor zur Einleitung seiner zehn Thesen (s. u.).

Matthias Schindler

Am Ende unzähliger Demonstrationen im sandinistischen Nicaragua der 1980er Jahre wurde von der Tribüne der Ruf skandiert „Nationale Leitung“ und die tausendstimmige Antwort der Menge lautete „Befiehl!“ Das nicaraguanische Volk war bereit und entschlossen, seine nationale Souveränität gegen die illegale US-Aggression zu verteidigen. Aktuell zeigt auch das Volk der Ukraine eine beeindruckende Bereitschaft, sein Land gegen den kriminellen Angriffskrieg Russlands zu verteidigen. Nicaragua und die Ukraine sind zwei unterschiedliche Fälle zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen geopolitischen Situationen. Aber es gibt auch strukturelle Gemeinsamkeiten. In beiden Fällen handelt es sich um den Krieg einer hoch überlegenen imperialen Macht gegen einen souveränen Staat, der jedes Recht hat, sich gegen diese militärische Aggression zu verteidigen. Es geht in beiden Fällen auch um das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Mitteln, um ethnische Minderheiten und auch um die internationale Solidarität. Nicaragua ist ein Referenzpunkt, über den in der Linken möglicherweise eine größere Einigkeit herrscht als in Bezug auf den aktuellen Krieg in der Ukraine. Daher möchte ich hier am Fall Nicaragua einige Aspekte verdeutlichen, die auch im aktuell stattfindenden Ukrainekrieg eine große Bedeutung haben.


US-Angriff auf Nicaragua


Während der fast elf Jahre dauernden Sandinistischen Revolution (1979–1990) endeten alle Veranstaltungen und Kundgebungen mit dem gleichen Ritual. Der letzte Redner – Rednerinnen gab es nahezu keine – rief in die Menge: „Sandino [1] lebt …“ und die Anwesenden gaben mit geballten Fäusten zurück: „Der Kampf geht weiter!“ Dann folgten im gleichen Wechselspiel zwischen der Tribüne und dem Volk die Parolen: „Nationale Leitung …“ – „Befiehl!“ und „Freies Vaterland …“ – „oder Tod!“ und zum Schluss: „Vaterland oder Tod …“ – „Wir werden siegen!“ Als die letzte Parole verhallt war, kam es für einen Moment zu einer ergreifenden totalen Stille, bevor über die großen Lautsprecheranlagen die Hymne der FSLN intoniert wurde. Sie beginnt mit den Worten „Vorwärts Genossen, marschieren wir der Revolution entgegen …“ und wurde von den Anwesenden voller Inbrunst mitgesungen. In der Menge Tausende begeisterter Jugendlicher, viele in ihren Uniformen der Miliz oder der Armee, auf der Tribüne die Kommandanten mit ihren olivgrünen Anzügen und neben ihnen die Mütter der im Krieg gegen die ContrasContrarrevolucionarios (Gegner der Revolution), eine von den USA organisierte, ausgerüstete und befehligte Armee, die sich hauptsächlich aus der ländlichen Bevölkerung und vormaligen Angehörigen der Nationalgarde des Diktators Somoza rekrutierte. gefallenen „Helden und Märtyrer“.

Für uns Internationalisten waren das beeindruckende Momente. Wir waren in Nicaragua, um unsere Solidarität mit der Sandinistischen Revolution zum Ausdruck zu bringen. [3] Doch was war unsere Rolle in Nicaragua? Was konnten wir dort tun? Was sollten wir dort tun? Und was sollten wir nicht tun?

Ich habe an unzähligen solcher Veranstaltungen teilgenommen und war tief davon überzeugt, die richtige Sache zu unterstützen. Aber als die Kommandanten von der Tribüne skandierten „Nationale Leitung“, habe ich nicht ein einziges Mal „Befiehl!“ gerufen. Trotz all meiner Begeisterung und meines Engagements, nicht ein einziges Mal! Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens handelte es sich um die Revolution der Menschen Nicaraguas. Die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) war die Führung Nicaraguas, nicht meine. Zweitens war ich solidarisch und wollte die Revolution unterstützen, aber ich wollte nicht mit der Waffe in der Hand kämpfen. Denn dazu fehlte mir nicht nur die dazu nötige Ausbildung, sondern ich hatte auch Angst davor, in den Krieg zu ziehen. Drittens standen wir Internationalisten dennoch allein schon durch unsere bloße Anwesenheit im Lande auch als Zivilisten unter Bedrohung der Contra. [4] Aber dieses Risiko sind wir bewusst eingegangen, weil wir von der Angemessenheit und Richtigkeit unseres dortigen zivilen Arbeitseinsatzes überzeugt waren.

Unsere politische Unabhängigkeit von der FSLN ging so weit, dass wir deren Regierungspolitik offen kritisierten, als sie zu Beginn der 1980er Jahre dazu überging, die ethnischen Minderheiten an der nicaraguanischen Karibikküste militärisch zu unterdrücken. Wir haben auch wiederholt öffentlich auf demokratische Mängel im politischen System der Sandinisten hingewiesen. Darin sahen wir keinen Widerspruch zu unserer Solidarität mit Nicaragua gegenüber der imperialistischen Aggression der USA.


Ethnische Minderheiten im angegriffenen Land


Nicaragua ist – genauso, wie die Ukraine – ein Vielvölkerstaat. An der atlantischen Küste Nicaraguas leben verschiedene ethnische Minderheiten, die sehr unterschiedliche sprachliche und kulturelle Ausprägungen gegenüber der im pazifischen Raum lebenden Menschen aufweisen. In den ersten Jahren der Sandinistischen Revolution forderten sie – mit starker propagandistischer Unterstützung der USA – eine Abtrennung von Nicaragua und den Aufbau eines eigenen Staates. Nach der anfänglichen militärischen Unterdrückung dieser Bestrebungen ging die Regierung der FSLN jedoch dazu über, die Waffen ruhen zu lassen und mit den Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen ethnischen Gruppen über deren Forderungen zu verhandeln. Dies führte schließlich dazu, dass sehr weitgehende Autonomierechte für die Bevölkerung der Karibikküste vereinbart wurden. In der Folge wurde 1986 sogar in einem verfassunggebenden Prozess ein Autonomiestatut verabschiedet, das in Bezug auf die Autonomierechte ethnischer Minderheiten einen weltweiten Vorbildcharakter hatte. Die Befriedung dieses Konfliktes innerhalb Nicaraguas gelang also über den Weg, die berechtigten Interessen der minderheitlichen Volksgruppen anzuerkennen und eine gemeinsame Lösung innerhalb der bestehenden nationalstaatlichen Grenzen zu finden.


Die Kosten des Krieges


Es gab nicht irgendeinen Zweifel daran, dass die USA und die von ihnen ausgerüsteten und befehligten Contras einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Nicaragua führten. Daher hatte Nicaragua auch das Recht, sich zu verteidigen. Das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen ist das einzige Recht, das Staaten erlaubt, militärische Mittel anzuwenden. Aber aus dem Recht auf Selbstverteidigung folgt nicht automatisch, dass es auch am besten für das angegriffene Land und seine Bevölkerung ist, zu den Waffen zu greifen.

Die verantwortliche Führung muss sich immer auch der Frage stellen, ob die potentiellen materiellen und menschlichen Verluste eines Verteidigungskrieges in einem angemessenen Verhältnis zu den möglichen Ergebnissen einer solchen Konfrontation stehen. In diesem Krieg sind – auf beiden Seiten und die Zivilisten miteingeschlossen – über 30 000 überwiegend junge Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner zu Tode gekommen. Das würde, auf das heutige Deutschland übertragen, den Tod von 800 000 Menschen bedeuten!

Ich habe in den letzten Jahren in Nicaragua mit vielen Menschen gesprochen, die zu jener Jugendgeneration gehörten. Einer von ihnen musste beispielsweise als Verantwortlicher der Sandinistischen Jugend zu den Familien gehen, um ihnen die Todesnachricht über ihre gefallenen Söhne zu überbringen. Eine andere war in der nationalen Leitung der Sandinistischen Jugend und leidet heute noch darunter, dass sie ihre Altersgenossinnen und -genossen dazu aufgerufen hat, in den Krieg zu ziehen, aus dem viele von ihnen nicht mehr lebend oder nur verstümmelt zurückgekommen sind. Selbst einer der Kommandanten der FSLN hat inzwischen öffentlich die Frage gestellt, ob der Blutpreis, der zur Verteidigung der Revolution bezahlt werden musste, nicht zu hoch gewesen sei. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, die Legitimität einer solchen Verteidigung in Zweifel zu ziehen. Aber es bedeutet, dass diese Frage überhaupt gestellt werden muss.


Zivile Solidarität im bewaffneten Kampf


Die Sandinisten haben vielfach versucht, die materiellen und menschlichen Kosten der Verteidigung so gering wie möglich zu halten. Sie unternahmen auf den verschiedensten Ebenen politische Initiativen, um die kriegerische Dimension dieser Auseinandersetzung soweit es ging zu minimieren. Dazu gehörten auch regionale Friedensverhandlungen, internationale Friedensinitiativen und vor allem auch Vermittlungsversuche mit den USA. Damals ließ der Westen das tausendfach unterlegene Nicaragua am langen Arm verhungern.

Es gab auch keinerlei Zweifel daran, dass Nicaragua das Recht hatte, andere Länder um wirtschaftliche und militärische Unterstützung zu bitten. Aber die viel beschworene „internationale Gemeinschaft“ zeigte – mit Ausnahme der Sowjetunion und Kubas – Nicaragua die kalte Schulter. [5] Wir Internationalisten hätten jedes Recht gehabt, am bewaffneten Kampf zur Verteidigung der nationalen Souveränität Nicaraguas teilzunehmen. [6] Aber das Recht zum bewaffneten (Verteidigungs-) Kampf bedeutet nicht automatisch, dass es auch die sinnvollste und klügste Wahl ist, daran teilzunehmen.

In jener Situation sind wir zu Tausenden aus aller Welt nach Nicaragua gereist, um dort den Aufbau des Landes mit unserem zivilen Arbeitseinsatz zu unterstützen. Wir wollten international auf die Situation in Nicaragua hinweisen. Und wir verfolgten auch das Ziel, durch unsere Anwesenheit im Land – als menschliche Schutzschilder – die militärische Aggression der USA politisch maximal zu erschweren. Das Konzept dieser Arbeitseinsätze war seitens der sandinistischen Führung und auch seitens der ausländischen Internationalisten ausdrücklich, politisch auf die USA Druck auszuüben, um ihre militärischen Aktivitäten einzustellen.

Die sandinistische Regierung zog gleichzeitig – als politische Komponente ihrer Verteidigung – vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag [7] und klagte die USA an, mit ihrem Krieg gegen Nicaragua das Völkerrecht zu brechen. Der Klage Nicaraguas wurde 1986 in einem aufsehenerregenden Urteil des IGH in allen Punkten recht gegeben. Die USA wurden wegen der von ihnen angerichteten Zerstörungen zu Reparationszahlungen in Milliardenhöhe verurteilt. [8] Dieses Urteil hat mit dazu beigetragen, dass der US-Kongress die Geldmittel für die Contras deutlich reduziert und auf „humanitäre“ Hilfe beschränkt hat.


Das Problem der doppelten Standards


Die Ukraine könnte natürlich ohne weiteres ebenfalls vor den IGH ziehen und eine Klage gegen Russland einreichen. Ein solcher Prozess würde auch mit Sicherheit zu dem gleichen Urteil führen, das der IGH in den 1980er Jahren im Fall Nicaragua vs. USA gefällt hat: Der IGH würde die sofortige Einstellung der Aggression und den sofortigen und vollständigen Rückzug der russischen Truppen verlangen, er würde Russland für schuldig befinden, einen schweren Bruch des Internationalen Rechts begangen zu haben, und er würde Russland dazu verurteilen, umfassende Reparationen an die Ukraine zu zahlen. Das Problem dabei ist jedoch, dass die USA – ebenso wie Russland – die Zuständigkeit des IGH für die internationale Rechtsprechung nicht anerkennen. Als in dem Verfahren Nicaragua vs. USA deutlich wurde, dass der IGH diesen Fall überhaupt annehmen und dann auch noch ein Urteil gegen die USA fällen würde, trat Washington sofort aus diesem Rechtssystem aus und ist ihm bis heute auch nicht wieder beigetreten.

Putin ist spätestens mit seinem Befehl zum Angriffskrieg gegen die Ukraine und zusätzlich auch noch mit vielen weiteren militärischen Aktionen, die in schwerster Weise gegen die Genfer Konventionen [9] verstoßen, zu einem Kriegsverbrecher geworden. Im öffentlichen Diskurs wurde vielfach darüber spekuliert, ob diese Bezeichnung angemessen sei und wer sie verwenden dürfe. Dabei gibt es auch hierfür eine Institution, die dafür zuständig ist, solche Fälle zu untersuchen und über sie Recht zu sprechen. Das ist der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) [10] in Den Haag, der bereits in vielen afrikanischen Fällen aktiv geworden ist. Angesichts der bisher vom IStGH gefällten Urteile kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass er in einem Verfahren auch Putin als Kriegsverbrecher verurteilen würde. Aber auch hier gibt es wieder das Problem, dass neben diversen anderen Staaten weder die USA noch Russland die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes anerkennen. Der Grund dafür besteht darin, dass im Falle seiner Anerkennung auch Verfahren gegen ehemalige US-Präsidenten, z. B. Bush jr., Carter oder Obama, wegen der von ihnen angeordneten Kriegsverbrechen im Irak und anderen Ländern drohen würden.

Die „westliche Staatengemeinschaft“ hat also das Problem, dass sie einerseits zwar den Überfall Russlands auf die Ukraine verurteilt, dass sie andererseits aber nicht auf die Institutionen zurückgreifen kann (oder will), die eigentlich dafür geschaffen wurden, um den internationalen Frieden zu sichern oder wieder herzustellen. China stellt sich nicht gegen Putin, weil es ansonsten selbst die Legitimität seiner potenziell militärischen Optionen gegen Taiwan in Zweifel ziehen würde. Der Westen schreckt davor zurück, den IGH oder den IStGH anzurufen, weil er ansonsten fürchten müsste, dass nicht nur der Überfall auf die Ukraine, sondern auch die Kriege in Vietnam, im Irak, in Afghanistan, in Syrien u.a.m. als Verstöße gegen das Völkerrecht verurteilt würden (so, wie es im Falle Nicaragua ja auch tatsächlich passiert ist).

Hier spielt das von allen Seiten – den USA, Europa, Russland, China u.a. – für sich in Anspruch genommene Prinzip der doppelten Standards eine zentrale Rolle. Das Internationale Recht wird immer nur dann respektiert, wenn es dem eigenen Land nützt. Wenn es nicht mit den aktuellen Interessen einer Regierung übereinstimmt, wird es für ungültig erklärt. Doppelte Standards haben unter anderem zwei äußerst negative Konsequenzen. Einerseits unterminieren sie jegliche Glaubwürdigkeit gegenüber einem Rechtssystem. Andererseits sind auf ihrer Grundlage keine friedlichen Lösungen für kriegerische Konflikte möglich. Daher besteht eine der wichtigsten Herausforderungen der aktuellen Politik darin, dieses System der doppelten Standards zu überwinden.


Revolution – Krieg – Frieden – Diktatur


Nachdem Nicaragua 1986 seinen Prozess gegen die USA vor dem IGH gewonnen hatte, hat die nicaraguanische Regierung neben der militärischen Verteidigung ihre politischen Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Konfliktes intensiviert. Denn es wurde immer deutlicher, dass die US-geführten Contras zwar keine Chance hatten, das Land zu erobern, dass es der Regierung aber auch nicht gelingen würde, sie militärisch vollständig zu besiegen. Es kam zu einem zermürbenden Bürgerkrieg mit immer mehr Opfern, der nur politisch beendet werden konnte. So wurde schließlich 1988 ein Friedensvertrag [11] zwischen Regierung und Contra unterzeichnet, der unter anderem auch demokratische Wahlen versprach, obwohl Nicaragua nach wie vor von der Contra und den USA wirtschaftlich und militärisch bedroht wurde. Die FSLN hat sich an diese Vereinbarung gehalten und die dann von ihr organisierten Wahlen im Jahr 1990 verloren. Letztlich haben die Sandinisten – obwohl das nicht ihre Absicht gewesen ist – das Blutvergießen beendet und dies mit der Niederlage ihrer Revolution bezahlt.

War es damals falsch gewesen, dass die FSLN sich nach einem jahrelangen und opferreichen Bürgerkrieg für den Frieden und für das Leben entschieden hat? Hätte sie weiterkämpfen sollen? Hätte die FSLN die Jugend des Landes weiterhin in den Tod schicken und das Land weiter zerstören lassen sollen? Das Recht wäre auf ihrer Seite gewesen. Aber auch die politische Klugheit? Die menschliche Ethik?

Die FSLN hatte 17 Jahre als Oppositionspartei zu überstehen, bis sie im Jahr 2007 durch Wahlen erneut die Präsidentschaft in Nicaragua übernahm. Aber leider trug die FSLN auf Grund ihrer Erfahrungen mit den „westlichen Werten“ eine politische Erblast mit sich herum, die mit einem tiefen Misstrauen gegenüber politischen Freiheiten und demokratischen Methoden verbunden war. In den dann folgenden Jahren verfestigte sich unter dem Präsidenten Ortega nach und nach eine Diktatur, die schließlich im Jahr 2018 zu einer äußerst gewaltsamen Niederschlagung friedlicher Massenproteste mit über 300 Todesopfern führte. Der Kommandant, wie er heute noch genannt wird, hat sich zum Herren über Leben und Tod erhoben. Die demokratischen und freiheitlichen Elemente der Sandinistischen Revolution der 1980er Jahre hat er mit den Füßen zertreten und deren autoritären Elemente zu einem perversen Exzess seines absoluten Herrschertums zugespitzt.

Der gnadenlose und illegale Krieg der USA gegen Nicaragua war einer der wichtigsten Gründe dafür, dass sich die autoritären Züge der FSLN bereits in den 1980er Jahren verstärkten und dass ihr Vertrauen in demokratische Strukturen innerhalb ihrer eigenen Partei wie auch innerhalb der Gesellschaft ständig schwand. Eine weitere Ursache für den diktatorischen Niedergang der FSLN ist jedoch auch schon in ihrer Programmatik zu finden, die ein mangelndes Verständnis für die fundamentale Bedeutung demokratischer Strukturen in politischen Prozessen aufweist. Diese Analyse rechtfertigt die politische Degeneration der FSLN in keiner Weise. Aber sie kann dazu beitragen, diesen Prozess zu erklären.


Solidarität mit den Opfern internationaler Aggression


Der Sandinismus erschien einer ganzen politischen Generation als eine offene, pluralistische, demokratische und humane Bewegung. Dennoch ist aus ihm eine der brutalsten Diktaturen hervorgegangen, die es gegenwärtig auf der Welt gibt. Eine kritische Analyse der nicaraguanischen Erfahrung ist vor allem deswegen von großer Bedeutung, um vergleichbare politische Katastrophen nicht erneut zu wiederholen.

Das Parolenritual der Sandinistischen Revolution lautete: „Nationale Führung …“ – „Befiehl!“ und endete mit: „Vaterland oder Tod!“ – „Wir werden siegen!“ Sicherlich waren diese Parolen, die unter dem Eindruck der brutalen US-Aggression entstanden waren, Ausdruck einer tief verankerten revolutionären Stimmung im Nicaragua der 1980er Jahre. Aber dennoch zeigte sich in ihnen auch schon damals ein autoritärer Vertikalismus und eine geradezu messianische Bereitschaft der FSLN-Führung, das eigene Volk – vor allem die eigene Jugend – für das Vaterland und die Revolution in den Tod zu schicken. Innerhalb der Reste der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua wird heute immer wieder die Frage aufgeworfen, was hätten wir anders machen sollen? Waren wir zu unkritisch? Hätten wir mehr Distanz zur FSLN und ihrer Basis wahren sollen? Bisher haben wir darauf keine klare Antwort gefunden.

Aber wir müssen uns dieser Frage stellen. Insbesondere auch dann, wenn wir heute über die Situation in der Ukraine sprechen und darüber nachdenken, wohin dieser Krieg einmal führen könnte. Hören wir aktuell nicht auch aus der Ukraine martialische Aufrufe, für die Nation den Heldentod zu sterben? Könnte es sein, dass viele Leute, die die Ukraine unterstützen wollen, durch den vorherrschenden westlichen Diskurs in eine zu enge politische Nähe zur ukrainischen Führung geraten sind, die sie in einigen Jahren tief bereuen werden?

Bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen, gibt es in Bezug auf Nicaragua und die Ukraine doch einige Fragestellungen, die strukturell miteinander vergleichbar sind. Möglicherweise können wir daher aus den Erfahrungen Nicaraguas auch Lehren ziehen, die für die Beurteilung der heutigen Situation in der Ukraine hilfreich sind.

Erstens: Eine differenzierte und kritische Analyse eines gesellschaftlichen Konfliktes bedeutet in keiner Weise, ein politisches Verbrechen gutzuheißen. Zu verstehen, wie es zu einer militärischen Aggression kommt, heißt nicht, diese zu entschuldigen. Sie zu kontextualisieren, bedeutet nicht, sie zu relativieren. Die Erklärung einer Situation ist nicht das gleiche, wie ihre Rechtfertigung.

Zweitens: Nach dem Völkerrecht hat kein Staat – nicht die USA oder Russland, und auch nicht China, Saudi-Arabien, Marokko oder sonst wer – das Recht, einen anderen Staat militärisch anzugreifen oder zu besetzen.

Drittens: Eine kriegerische Aggression muss, wann und wo auch immer sie stattfinden sollte, sofort und kategorisch verurteilt werden. Eine solche Verurteilung darf nicht irgendwelchen anderen wirtschaftlichen, politischen oder geostrategischen Erwägungen untergeordnet werden. Das Interventionsverbot des Völkerrechts muss ohne Ausnahme von allen Staaten respektiert werden.

Viertens: Ein angegriffener Staat besitzt das ebenfalls im Völkerrecht verankerte Recht auf militärische Selbstverteidigung. Dieses Recht hat jeder Staat, völlig unabhängig davon, ob er gerade den Sozialismus aufbauen will oder ob er von Oligarchen beherrscht wird und einen Präsidenten besitzt, dessen Steuerflucht in den Pandora-Papers dokumentiert ist.

Fünftens: Aus diesem Recht folgt jedoch nicht automatisch auch die Pflicht zur militärischen Verteidigung. Eine Regierung muss sich auch immer der Frage stellen, ob sie einen Verteidigungskrieg und die mit ihm verbundenen materiellen Zerstörungen und menschlichen Tragödien für angemessen hält, und ob sie diese Opfer auch tatsächlich politisch und moralisch verantworten kann und will.

Sechstens: Ein angegriffenes Land hat jegliches Recht, das Ausland um Hilfe für die eigene Verteidigung zu bitten. Aber auch hier folgt daraus nicht automatisch die Pflicht, militärische Hilfe zu leisten. Auf jeden Fall muss vorher geprüft werden, ob es nicht andere und bessere, zivile Optionen gibt, um das angegriffene Land zu unterstützen, ohne damit gleichzeitig eine weitere Eskalation des Krieges zu provozieren.

Siebtens: Diejenigen staatlichen oder auch zivilen Institutionen, die einem anderen Land bei seiner Selbstverteidigung helfen, sollten immer darauf achten, dass sie ihre politische Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bewahren. Solidarität bei der Selbstverteidigung muss nicht unbedingt heißen, sich gleichzeitig auch mit den politischen Orientierungen der angegriffenen Regierung zu identifizieren. So, wie die Solidaritätsbewegung mit Nicaragua die sandinistische Regierung einst offen kritisiert hat, wäre es aktuell genauso wichtig, auch auf die Mängel der Demokratie in der Ukraine hinzuweisen. Nicaragua befand sich damals nicht weniger in einem Verteidigungskrieg als die Ukraine heute.

      
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Erklärung des VS der IV. Internationale: Für die Verteidigung der nicaraguanischen Revolution, Inprekorr Nr. 226 (April 1990)
 

Achtens: Es müssen immer wieder – von einzelnen direkten Kontakten bis hin zu Aktivitäten der UNO – politische und diplomatische Initiativen ergriffen werden, um einen Krieg zu beenden. Es darf kein Versuch unterlassen werden, einen Konflikt von der militärischen Ebene auf eine politische zu verschieben. Wenn es keinen eindeutigen Sieger oder Verlierer gibt, enden alle Kriege am Verhandlungstisch. Je früher, desto besser.

Neuntens: Es ist – leider – eine Tatsache, dass die Kriegsparteien bei Verhandlungslösungen immer auch Zugeständnisse und Kompromisse machen müssen, vor allem jedoch die schwächere Partei oder diejenige, die ein größeres Interesse daran hat, einen Krieg zu beenden. Dies ist natürlich nicht gerecht. Aber es ist die einzige gangbare Alternative zu einer immer weiteren Ausweitung oder Verlängerung des Krieges mit immer schlimmeren Folgen für alle Beteiligten und sogar für die ganze Welt.

Zehntens: Die internationalen Rechtsinstitutionen – vor allem der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag – müssen nachhaltig gestärkt werden. Der Grundsatz Gleiches Recht für alle muss endlich allgemein anerkannt und durchgesetzt werden. Ohne eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist das jedoch nicht möglich. Es ist schwer vorstellbar, wie in der Ukraine – und auch in allen anderen Teilen der Welt! – ein dauerhafter Frieden hergestellt werden könnte, ohne die dafür zuständigen internationalen Institutionen mit deutlich mehr Durchsetzungskraft auszustatten.

Elftens: Der Krieg in der Ukraine ist eine erneute Bestätigung dafür, dass das kapitalistische Streben nach Bereicherung und Macht – egal, ob in der nordamerikanischen, westeuropäischen, russischen oder chinesischen Variante – immer auch die Gefahr neuer Kriege in sich birgt. Aus dieser Perspektive heraus kann eine dauerhafte Friedenslösung nur unter der Bedingung hergestellt werden, dass es gelingt, eine kosmopolitische, freiheitliche Solidargemeinschaft der gesamten Menschheit zu schaffen. Dieses Ziel eines demokratischen Sozialismus mit immer weniger Staat und Gewalt hat durch die jüngsten Ereignisse erneut eine hohe Aktualität erhalten.

Zwölftens: Dieses Ziel ist leider in weite Ferne gerückt. Daher ist es jedoch umso wichtiger, dass jede in den aktuell weltweit stattfindenden Kriegen direkt oder auch indirekt beteiligte Seite darstellen muss, wie ihr Handeln dazu beiträgt, die kriegerische Auseinandersetzung zu vermindern und zu stoppen. Denn dies ist der einzige Weg, auf dem eine Friedenslösung erreicht werden kann. Und dies gilt nicht nur für Russland, sondern auch für Westeuropa, für die USA, für Israel, Saudi-Arabien, China, Marokko, die Türkei, es gilt aber auch für das Volk der Sahrauis, für die PLO, für die kurdischen Organisationen, es galt auch für die Sandinisten … und es gilt eben auch für die Ukraine.

04.08.2022



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[1] Nicaraguanischer Freiheitskämpfer, der 1934 auf Geheiß der USA ermordet wurde.

[2] Contrarrevolucionarios (Gegner der Revolution), eine von den USA organisierte, ausgerüstete und befehligte Armee, die sich hauptsächlich aus der ländlichen Bevölkerung und vormaligen Angehörigen der Nationalgarde des Diktators Somoza rekrutierte.

[3] Offensichtlich herrschte im Nicaragua der 1980er Jahre politisch und gesellschaftlich eine völlig andere Situation, als sie heute in der Ukraine besteht. Aber dies ist nicht das Thema dieses Essays.

[4] Die beiden Deutschen Berndt Koberstein und „Tonio“ Pflaum waren in Nicaragua als zivile Helfer tätig und wurden, neben mehreren Aufbauhelfern aus anderen Ländern, von der Contra ermordet.

[5] Selbst die sozial-liberale Bundesregierung jener Zeit hatte nach dem Sieg der Revolution 1979 alle Projekte der Entwicklungshilfe eingefroren.

[6] Einige Internationalisten haben diesen Weg gewählt, aber das waren vereinzelte Ausnahmen.

[7] Der IGH behandelt das Internationale Recht zwischen den Staaten.

[8] Die USA haben bis heute noch keinen einzigen Cent an Nicaragua gezahlt.

[9] Die Genfer Konventionen sind ein Rechtssystem, das im Falle eines Krieges ein Mindestmaß an Schutz für nicht an den Kampfhandlungen beteiligten Personen sichern soll.

[10] Der IStGH verhandelt Fälle, in denen Anklagen gegen einzelne Personen verhandelt werden.

[11] Friedensvertrag von Sapoá.