Chile

Wie lässt sich die breite Ablehnung der neuen Verfassung erklären?

Die neue Verfassung allein hätte den Neoliberalismus nicht beseitigt, aber sie hätte zweifel­los bessere Voraussetzungen für die Fortführung der Kämpfe schaffen können. Wie ist es also zu erklären, dass eine große Mehrheit der Chileninnen und Chilenen diesem Verfassungsentwurf, der für zahlreiche soziale Bewegungen und linke Organisationen einen historischen Schritt vorwärts bedeutet hätte, eine Absage erteilt hat?

Franck Gaudichaud und Miguel Urrutia

Am Sonntag, dem 4. September 2022 versammelten sich die Aktivist*innen des Koordinationskomitees der sozialen Bewegungen für ein Ja (apruebo) zur neuen Verfassung (Comando de los movimientos sociales para el Apruebo) am Sitz der Gewerkschaft Bata im Zentrum Santiagos, nur wenige Schritte von der symbolträchtigen Plaza Dignidad entfernt, dem Brennpunkt des großen Volksaufstands vom Oktober 2019. Die ersten Ergebnisse des Referendums über den Text der neuen Verfassung, an dem der Verfassungskonvent, ein im Mai 2021 aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenes Gremium, ein Jahr lang gearbeitet hatte, trafen um 18 Uhr ein.

Es wurde schnell klar, dass sich die Stimmen für die Ablehnung (rechazo) durchsetzen würden, aber niemand hatte das tatsächliche Ausmaß der Niederlage vorhergesehen. Nach monatelangen Mobilisierungen muss man sich nun mit dem Sieg der konservativen Gegner des Verfassungsentwurfs abfinden – einem Entwurf, der nichts weniger anstrebte, als die während der Diktatur Pinochets verabschiedete Verfassung von 1980 durch eine der demo­kratischsten Verfassungen der Welt zu ersetzen.


Eine schallende Ohrfeige


Das Ergebnis war niederschmetternd. Bei einer Wahlbeteiligung von über 13 Millionen Menschen (85,81 % der Wahlberechtigten) stimmten 61,88 % mit einem Nein zum Entwurf (rechazo) und nur 38,12 % mit einem Ja (apruebo). Die Wahlbeteiligung lag um 4,5 Millionen höher als bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl im Dezember 2021. Dieser Anstieg erklärt sich vor allem durch eine Wahlpflicht mit automatischer Registrierung.

In der Region Magallanes im äußersten Süden, wo die Familie des Präsidenten Gabriel Boric lebt, votierten 60 % für rechazo, was eine persönliche Niederlage für den jungen Anführer der Linken bedeutet. Im Norden erreichten die Stimmen für apruebo nicht einmal 35 %, und in der Region Araucanía, wo die meisten Mapuche-Gemeinschaften leben, lag die Ab­lehnung bei 74 %. Selbst in den Großräumen Santiago oder Valparaíso, städtischen Gebieten, die traditionell eher zu Veränderungen neigen und in denen kürzlich mehrere linke (einschließlich kommunistische) Bürgermeister gewählt wurden, gab es keine Mehrheit für die neue Verfassung. Nur in acht von 346 Gemeinden des Landes erzielten die Befürworter eine Mehrheit!

Die Sprachrohre der politischen Rechten und der „Mitte“ (darunter Mitglieder der Christdemo­kraten), allesamt Gegner des Entwurfs, traten umgehend in den Medien auf und feierten ihren Erfolg auf den Straßen und Plätzen in den wohlhabenden Vierteln von Santiago. Auch die extreme Rechte freute sich über das Ergebnis. Mehrere führende Konservative waren über das Ausmaß ihres Siegs erstaunt, denn noch vor zwei Jahren hatte es den Anschein, dass Chile – „Oase“ und „Schaufenster“ des Neoliberalismus – beflügelt durch den Aufstand vom Oktober 2019 einen neuen historischen Weg einschlagen würde.

Die neoliberalen Eliten haben mehrfach versucht, die klaffenden Risse im gesellschaftlichen Gefüge und die tiefe Legitimitätskrise des politischen Systems, die im Oktober beinahe zur Amtsenthebung des milliardenschweren Präsidenten Sebastián Piñera durch die Straßen­proteste geführt hätten, „von oben“ zu kitten. So haben am 15. November 2019 fast alle im Parlament vertretenen Parteien (von der Linken bis zur extremen Rechten) das „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“ unterzeichnet.

Dieses Abkommen spaltete die Frente Amplio (die 2017 gegründete parlamentarische Links­koalition, die teilweise aus der Studentenbewegung hervorgegangen war) in diejenigen, die es unterstützten, um die Kämpfe in geordnete Bahnen zu lenken, und jene, die darin – zu Recht – einen institutionellen Schachzug zur Schwächung des Volksaufstands sahen. Die aktivsten Teile der Bewegung verspotteten das Abkommen daher als Produkt einer neuer­lichen „Packelei“ zwischen den politischen Parteien des Systems, als einen „hinter ver­schlossenen Türen“ vereinbarten Pakt, während der Staat gleichzeitig die Volksbewegung mit beispielloser Gewalt unterdrückte (mit Tausenden Verletzten und Hunderten politischen Gefangenen der sozialen Revolte).

Am 19. Dezember 2021 wurde einer der Mentoren des Abkommens, Gabriel Boric, an der Spitze eines Bündnisses (Apruebo Dignidad), das aus seiner Koalition, der Frente Amplio, und der Kommunistischen Partei bestand, zum Präsidenten von Chile gewählt. Die Wahl des ehemaligen Studentenführers schien somit indirekt und an den Wahlurnen einem starken Wunsch nach gesellschaftlichem Wandel Ausdruck zu verleihen, wenn auch auf der Grund­lage eines ausgesprochen gemäßigten Mitte-Links-Programms und gegen einen ultrarechten Kandidaten, Antonio Kast, der das Bedürfnis eines erheblichen Teils der Bevölkerung nach „Ordnung“ mit rassistischen sowie frauen- und fremden­feindlichen Untertönen anreicherte. Die Alarmglocken läuteten bereits, aber ein Großteil der Linken überhörte sie offensichtlich.

Zuvor hatten die Ergebnisse des Plebiszits von 2020 weitreichende Möglichkeiten für einen sozialen und politischen Wandel aufgezeigt (78 % der Wähler*innen hatten der Idee einer neuen Grundcharta zugestimmt, um die Verfassung von 1980 zu Grabe zu tragen), und das trotz der Grenzen, die einem Verfassungskonvent eigen sind, der teilweise unter dem Ein­fluss der alten Parlamentsparteien steht. (So ist etwa für die Annahme jedes einzelnen neuen Artikels eine Zweidrittelmehrheit erforderlich). Aber bereits damals schrillten die Alarmglocken, denn fast die Hälfte der Chileninnen und Chilenen, insbesondere in den Arbeitervierteln, hatte sich nicht an dieser historischen Abstimmung beteiligt, die ein für alle Mal Schluss mit dem institutionellen Erbe von Pinochet machen sollte.

Doch der Elan vom Oktober war anscheinend noch stark genug, um sich bei der Bildung des Konvents teilweise durchzusetzen: mit allgemeinen direkten Wahlen, einer paritätischen Vertretung, mit Sitzen, die den indigenen Völkern vorbehalten sind, mit (partei)unabhängigen Listen und einer beachtlichen Präsenz von Aktivist*innen aus der Frauen- und Sozialbewegung. Da die konservativsten rechten Gruppierungen als Minderheit im Konvent an den Rand gedrängt waren, konnte ein in vielerlei Hinsicht äußerst fortschrittlicher Ver­fassungstext erzielt werden: So wurde vorgeschlagen, den neoliberalen „schlanken“ Staat durch einen „rechtsstaatlichen, sozialen und demokratischen“ Staat auf der Basis von Solidarität und paritätischer Vertretung zu ersetzen, der eine Reihe von Grund- und Sozial­rechten (Gesundheit, Bildung, Rente) sowie Elemente einer partizipativen Demokratie vorsah und dem öffentlichen Sektor sowie der Bewältigung der Klimakrise viel Platz einräumte.

Neben feministischen Forderungen, etwa der Anerkennung von bezahlter und unbezahlter Haus- und Pflegearbeit, war im Entwurf auch die Einführung eines öffentlichen Sozial­versicherungssystems geplant, sowie die teilweise Entprivatisierung des Wassers, die Abschaffung des Senats zugunsten einer Kammer der Regionen und nicht zuletzt die Schaffung eines plurinationalen Staats, der einen Teil der historischen und territorialen Ansprüche des Mapuche-Volkes, einschließlich ihres Rechtssystems, berücksichtigte. Eine Reihe anderer Forderungen blieb jedoch unerfüllt, insbesondere die Rückführung des Berg­baus (Kupfer, Lithium) in öffentliches Eigentum, was in einem Land wie Chile eine erhebliche Einschränkung für jegliche Reformbestrebungen darstellt.

Auch im Bereich des Arbeitsrechts wurde im Verfassungsentwurf ein bemerkenswerter Fortschritt erzielt: mit branchenspezifischen Tarifverhandlungen, einem durchschlags­kräftigen Streikrecht und einer Stärkung der gewerkschaftlichen Vertretungsorgane. Diese „kopernikanische Wende“ weg von den Regeln des derzeitigen chilenischen Kapitalismus erregte wenig überraschend den Unmut der großen einheimischen und transnationalen Unternehmen. Zwar hätte die neue Verfassung allein den Neoliberalismus nicht beseitigt, sie hätte jedoch bessere Voraussetzungen für die Fortsetzung des Klassenkampfes im Anden­staat geschaffen. Wie ist es also zu erklären, dass eine große Mehrheit der Chileninnen und Chilenen diesem Verfassungsentwurf, der in den Augen zahlreicher sozialer Organisationen einen historischen Durchbruch markiert hätte, eine Absage erteilt hat?


Die Gründe für die Niederlage


Zuallererst muss die Fähigkeit der herrschenden neoliberalen Klassen erwähnt werden, ihre Kräfte genau in dem Bereich zu bündeln, wo die sozialen Kämpfe möglicherweise Fortschritte erzielen könnten: die im Entwurf der neuen Verfassung verankerten sozialen Rechte in Bereichen wie Gesundheit, Wohnen, Zugang zu Wasser, Bildung und Arbeit. Zu diesem Zweck haben die Vertreter des rechazo eine Kommunikationsstrategie entwickelt, die sich durch einen hemmungslosen Einsatz von Fake News auszeichnete.

Durch eine millionenschwere Kampagne in den sozialen Netzwerken und unter Ausnutzung ihres Quasi-Monopols in den Medien haben die Gegner des Entwurfs Absurditäten folgenden Inhalts vorgebracht: Sollte der Text angenommen werden, müssten „die Bürger in einem zugrunde gerichteten öffentlichen Gesundheitssystem zwangsbehandelt werden“, „die Frei­heit der Bildung würde abgeschafft“, „staatliche Subventionen würden die arbeitende Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit anstiften“, „zahlreiche Immobilien würden enteignet und das Privateigentum zurückgedrängt“, „der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz würde durch die Bevorzugung indigener und homosexueller Menschen sowie anderer ,Minderheiten’ aufgehoben“, „die Religionsfreiheit würde abgeschafft und evangelikale Gemeinden würden verfolgt“, „Abtreibung würde in jedem Stadium der Schwangerschaft erlaubt sein“, „alle Einreisekontrollen würden aufgehoben“, „Kriminelle würden vor Gericht auf Kosten der Opfer geschützt“, „die Ersparnisse der arbeitenden Bevölkerung aus den Rentenfonds würden konfisziert und könnten daher nicht vererbt werden“, „der Name des Landes und die nationalen Symbole würden geändert“. Das sind nur einige der Aussagen, die in den für den Wahlkampf vorgesehenen TV-Sendezeiten getätigt wurden.

Noch wichtiger als die Unmenge an Lügen, die während der Kampagne für rechazo verbreitet wurden, ist allerdings das strategische Geschick der Rechten. Deren Führungs­figuren hatten sich taktisch klug dafür entschieden, propagandistisch sehr wohl für eine Verfassungsänderung einzutreten, wenn auch nicht für diese neue Verfassung. So fanden sie Verbündete in der Mitte des politischen Spektrums und unter den Anhänger*innen der ehemaligen Concertación (Sozialliberale, die das Land 20 Jahre lang regiert hatten).

Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zu den politischen Kräften des apruebo: Obwohl die parlamentarische Linke und die anti-neoliberalen sozialen Bewegungen eine Mehrheit an Sitzen im Verfassungskonvent erringen konnten, traten bereits bei der Wahl des Exekutiv­ausschusses ihre Differenzen und ihr Mangel an strategischem Geschick zutage. Einige Mitglieder des Verfassungskonvents machten sich offensichtlich die Sitten und Gebräuche des diskreditierten chilenischen Parlaments zu eigen, was in der öffentlichen Meinung ein verheerendes Bild vermittelte. Die unabhängigen Listen erlitten nicht nur mehrere Rück­schläge, sondern waren auch in einen Skandal verwickelt, der zum Rücktritt eines gewählten Vertreters der „Liste des Volks“ führte.

Gleichzeitig zögerten die Mitte-Links-Kräfte, die innovativen Vorschläge der Abgeordneten, die aus der Protestbewegung hervorgegangen waren, aufzugreifen. Stattdessen pochten sie darauf, die Vereinbarungen mit den Sozialliberalen einzuhalten und die staatliche Stabilität zu garantieren. So hatte sich der Konvent trotz der zahlreichen Konsultations- und Beteiligungsinitiativen ganz weit von den unmittelbaren Sorgen und Interessen der einfachen Menschen entfernt und dieser Trend konnte auch in den letzten Wochen nicht umgekehrt werden.

Die zahlreichen lokalen Versammlungen sowie die Versuche, die Jugendarbeit und die kollektive Nachbarschaftsarbeit (die im Lauf des Oktobers 2019 entstanden waren) zu koordinieren, hatten an Schwung verloren und wurden nach und nach eingestellt – sowohl aus institutionellen und wahlpolitischen Gründen als auch durch die anhaltende staatliche Repression. Danach wurde die Dynamik der Kämpfe durch die Pandemie, die Ausgangs­sperre und die Wirtschaftskrise unter einer bleiernen Decke erstickt.

Darüber hinaus musste sich die Regierung Boric trotz der im Wahlkampf versprochenen fort­schrittlichen Reformen ziemlich bald mit Kritik und Ablehnung seitens der Bevölkerung aus­einandersetzen. Als politische Entschlossenheit gefragt war, um die Verfassungsänderung voranzutreiben, startete die Regierung mit einer zögerlichen, politisch schwachen Mandatsausübung. Im Parlament – wo sich das Regierungslager in der Minderheit befindet – strebte sie ständig eine „pragmatische“ Allianz mit der ehemaligen Concertación an, um regieren zu können. Bei zahlreichen Anlässen war der Einfluss des eigentlichen Kabinettschefs, Finanzminister Mario Marcel (Ex-Präsident der Zentralbank und seinerzeit Vertreter des sozialliberalen Blocks, der das Land seit 1990 regiert hatte), deutlich spürbar.

Innenministerin Izkia Siches stand ebenfalls im Zentrum der Kritik, da sie zwar zu Beginn ihrer Amtszeit kurzzeitig den Dialog mit den aufständischen Mapuche-Gemeinschaften gesucht hatte, aber schließlich der Militarisierung des Gebiets und der Inhaftierung des Anführers der Coordinadora de Comunidades en Conflicto Arauco-Malleco (CAM), Héctor Llaitul, zustimmte. Das gilt auch für die politischen Gefangenen der „Oktoberrevolte“, von denen viele monate- oder sogar jahrelang in Untersuchungshaft blieben, während die Exekutive zu keinem Zeitpunkt den Willen zu einer Generalamnestie erkennen ließ.

Zwar wurden beim Zugang zur öffentlichen Gesundheitsfürsorge konkrete Verbesserungen erzielt, aber da entsprechende Fortschritte bei zentralen wirtschaftlichen Fragen, etwa in Hinblick auf die geplante (ohnehin zaghafte) Steuerreform, auf sich warten ließen, wurde das Image der Exekutive als „Reformregierung“ letztlich beschädigt. Gabriel Boric ist nicht bereit, sich mit denjenigen Kräften anzulegen, die in wirtschaftlichen Fragen seit jeher das Sagen haben, oder seine soziale Basis für diese Zwecke zu aktivieren. So hat sich ein erheblicher Teil seiner Wähler*innen aus einer Klassenposition heraus von ihm abgewendet.

Das rechte Lager konnte also seine gut geölte Medienmaschinerie nutzen, um die wach­sende Unbeliebtheit der Regierung mit dem Text der neuen Verfassung in einen Topf zu werfen. Der extrem lange Text (388 Artikel) wurde übrigens in mehreren Punkten von äußerst unterschiedlichen sozialen Gruppierungen als „maximalistisch“ bezeichnet. So waren die Katholiken gegen die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die Verfassung und „patriotische“ Bürger ließen sich vom Konzept der Plurinationalität abschrecken.

Auch die Zunahme des organisierten Verbrechens und des Drogenhandels, die von der Presse oft mit der besorgniserregenden Situation der Migrant*innen im Norden des Landes in Verbindung gebracht wird, sowie eine galoppierende Inflation und der dramatische Anstieg des informellen Sektors haben ein Klima der Angst geschürt und die Reaktion gestärkt. Die neu eingeführte Wahlpflicht hatte über vier Millionen (vor allem ältere) Menschen an die Urnen gebracht. Aber diese neue Wählerschaft schloss sich [bei der Abstimmung, Anm. d. Übers.] unverzüglich jenen Bevölkerungsgruppen an, die enttäuscht waren oder ihrem Ärger Ausdruck verleihen wollten, was den triumphalen Sieg des rechazo ermöglichte. Dennoch lässt sich die politische Bedeutung dieses Plebiszits nicht automatisch und unein­geschränkt als Zustimmung zur politischen Rechten deuten, sondern vielmehr als Votum gegen soziale und politische Verschlechterungen.

Der Historiker Igor Goicovich hat die Ergebnisse vom 4. September analysiert und weist auf die offensichtliche Kluft zwischen der Welt der einfachen Menschen und der Regierung bzw. dem Verfassungsprozess hin. Die zahlreichen Fragen, die während des Konvents von den sozialen Bewegungen zu Feminismus, Umweltschutz oder Plurinationalität aufgeworfen wurden, stießen bei der Wählerschaft aus dem einfachen Volk auf wenig Zustimmung, um nicht zu sagen auf Unverständnis:

„In allen Gemeinden, die von den Umweltschützern als ,Opferzonen’ bezeichnet werden, haben sich die Befürworter von rechazo weitgehend durchgesetzt […]. Nicht viel anders verhielt es sich in den Gemeinden der Region Bio Bío und La Araucanía (Makrozone Süd). In diesen Regionen, die vorzugsweise auf forstwirtschaftliche Nutzung setzen, haben die Konflikte zwischen der Holz verarbeitenden Industrie und den indigenen Gemeinden immer dramatischere Ausmaße angenommen. [...] Betrachtet man das Wahlverhalten der Gemeinden im Umfeld der Hauptstadt, so zeigt sich ein historischer Trend: Die Gemeinden mit den höchsten Einkommen (Las Condes, Lo Barnechea und Vitacura) votierten massenweise mit rechazo. Auch die Gemeinden, wo mehrheitlich Personen mit mittlerem Einkommen leben, wie La Reina, Providencia, Macul, Peñalolén und La Florida, stimmten für diese Option, mit Ausnahme der Gemeinden Maipú und Ñuñoa. Und praktisch alle Arbeiterviertel, darunter Recoleta, El Bosque, La Pintana, La Granja, Lo Espejo, Cerro Navia, Renca und Independencia, einst historische Hochburgen der Linken, entschieden sich ebenfalls für rechazo.“

Die Ablehnung der neuen Verfassung durch die arbeitenden Klassen ist also beträchtlich. Sie sollte Anlass zu Demut und Selbstkritik für die soziale und politische Linke sein – sowohl für die reformistische als auch für die revolutionäre.


Wie geht es weiter?


Jener Teil der Welt der kleinen Leute, der trotz allem sowohl bei der Volksabstimmung am vergangenen Sonntag als auch bereits 2020 mit apruebo gestimmt hat, kämpft heute mit einem Gefühl des Versagens und der Ausweglosigkeit. Das könnte sich in ein verstärktes Engagement gegen das neoliberale Modell Chiles verwandeln, sollten konkrete politische Alternativen auftauchen, die imstande sind, unabhängig von der parlamentarischen Linken Antworten auf die seit Oktober 2019 ungelösten sozialen Fragen zu bieten. Denn es ist klar, dass ein solches Projekt nicht auf die Unterstützung der aktuellen Regierung zählen kann.

      
Mehr dazu
Ein Gespräch mit Amy Goodman und Nerrmeen Shaikh: Eine neue politische Ära in Chile, die internationale Nr. 5/2022 (September/Oktober 2022)
Interview mit Franck Gaudichaud: Die Linke in der Sackgasse?, die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021)
Büro der Vierten Internationale: Solidarität mit dem Volksaufstand in Chile, die internationale Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020)
Interview mit Karina Nohales: „Die Arbeiterklasse wird zum politischen Akteur“, die internationale Nr. 1/2020 (Januar/Februar 2020)
Frank Gaudichaud: Ende einer Ära in Südamerika?, Inprekorr Nr. 1/2016 (Januar/Februar 2016)
 

In seiner Rede am Tag der Abstimmung rief Gabriel Boric zur „nationalen Einheit“ und zur Abkehr von „Maximalismus, Gewalt und Intoleranz“ auf und kündigte eine rasche Kabinetts­umbildung an. Der umgehend in die Wege geleitete Austausch von Ministern bestätigte den sozialliberalen Kurs der Regierung „hin zur Mitte“ und öffnete den Palast La Moneda [Amtssitz des chilenischen Präsidenten, Anm. d. Übers.] noch weiter für die Kräfte der ehe­maligen Concertación, was den Regierungspartner, die Kommunistische Partei, zunehmend unter Druck setzen könnte. Vorrangige Aufgabe des neuen Kabinetts ist der Beschluss der Steuerreform in Form eines Pakts mit der politischen Rechten, um den Fortbestand der Regierung zu sichern – eine wenig überraschende Priorität. So hofft man, durch die Ansiedlung unmittelbar profitabler Unternehmen Kapital anzulocken. In diesem Zusammen­hang werden auch Vorschüsse zur Deckung der Staatsausgaben verlangt, um neuerliche Proteste, insbesondere unter der Jugend, die sich bereits abzeichnen, einzudämmen.

In Bezug auf die Verfassung bekräftigten der Präsident und sämtliche Parteien ihre Absicht, weiterhin an einem neuen verfassungsgebenden Fahrplan zu arbeiten, allerdings von nun an unter Federführung des Parlaments, was eine Rückkehr zu der „Konsenspolitik“, die 2019 verworfen wurde, andeutet und den innovativen Charakter der neuen Verfassung zu Grabe trägt. Ein Entscheidungsprozess ohne Ecken und Kanten, bei dem die politische Rechte und die Mitte das Sagen haben, könnte zwar einen Schlussstrich unter die Verfassung von Pinochet ziehen, aber gleichzeitig im Interesse der herrschenden Klassen eine Kontinuität im Sinne des Neoliberalismus garantieren. Doch das Spiel bleibt offen, solange die unter der Oberfläche brodelnde Kraft des Volksaufstands sich ihren Weg durch den Untergrund der chilenischen Gesellschaft bahnt.

Angesichts des Ergebnisses der Volksabstimmung schloss das Koordinationskomitee der sozialen Bewegungen für ein Ja seine Erklärung wie folgt ab:

„Es ist zwingend notwendig, dass die Aktivist*innen, die durch ihren Zusammenschluss diesen Prozess ermöglicht haben, auch die aktuellen Herausforderungen annehmen. Es gibt kein Zurück mehr. Unser Volk hat eine unanfechtbare Entscheidung getroffen, aber die Aufgabe, die Verfassung aus der Ära Pinochet und das neoliberale Modell zu stürzen, steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Dabei werden die Lehren, die wir aus dem aktuellen Prozess gezogen haben, von entscheidender Bedeutung sein, denn wir, die sozialen Bewegungen, sind nicht mehr die gleichen, die wir waren, bevor diese Verfassung geschrieben wurde.“

10. September 2022
Franck Gaudichaud ist Professor für lateinamerikanische Studien an der Universität Toulouse-Jean Jaurès und Mitglied der Redaktion von ContreTemps. Miguel Urrutia ist Soziologe an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität von Chile und Aktivist der chilenischen libertären Linken (Izquierda Libertaria).
Dieser Artikel wurde in Santiago verfasst und am 6. September 2022 von der Zeitschrift Jacobin América Latina veröffentlicht. Die von den Autoren ins Französische übersetzte und aktualisierte Fassung erschien am 10. September 2022 in ContreTemps.
Aus dem Französischen von E. F.



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz