Buchbesprechung

Gemeinsamkeiten zwischen Gesellschafts- und Psychoanalyse

Dahmer, ein ausgewiesener Geist auf beiden Feldern, vermittelt uns in seinem neuesten Buch die Gemeinsamkeiten in Zielsetzung und Methodik von Sozialanalyse und Seelen- bzw. Kulturanalyse.

Jakob Schäfer

 

Zu Helmut Dahmers Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalischen Regime. – Münster: Westfälisches Dampfboot 2022. (277 Seiten, 30 €)

Dahmer erklärt die Gemeinsamkeiten entlang der Analysen und politischen wie literarischen Aktivitäten Leo Trotzkis und bettet sie in die historischen Zusammenhänge ein. Diese Kontextualisierung ist bisweilen ausschweifend, aber für die Leser*innen von Gewinn, für die weitere wissenschaftliche Arbeit zu diesen Themen in jedem Fall äußerst hilfreich. Dass Dahmer für seine Ausarbeitung Leben und Werk Trotzkis heranzieht, ist kein Zufall. „Unter den marxistisch orientierten Revolutionären seiner Generation, also der ersten vier Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts, nimmt er [Trotzki, Anm. d. Rez.] eine Sonderstellung ein. [1] Unter den Revolutionsführern war er auch der einzige Freudo-Marxist, freilich einer der besonderen Art.“ (S. 7) Schon in den Jahren 1923–26 machte sich Trotzki – unter explizitem Verweis auf Freud ‒ für die Anerkennung der Psychoanalyse als anerkannte wissenschaftliche Disziplin stark.

„Um den nonkonformen Gebrauch, den Trotzki (wie Breton) von der Marxschen wie von der Freudschen Theorie gemacht hat, einschätzen zu können, bedarf es aber des Rückgangs auf das Original des Marxschen und des Freudschen Projekts.“ (S. 14) Dahmer geht deswegen zunächst auf wesentliche Erkenntnisse und methodische Klärungen seitens Marx’ und Freuds ein, die die Entzifferung der „Hieroglyphen“ Ware und Traum zu ihren Lebensaufgaben gemacht haben. „Marx wie Freud waren Rätsellöser und wurden zu Institutionen-Kritikern. Was ihnen Rätsel aufgab, waren Gebilde wie ‚Waren‘ – dingliche Träger von Tauschwert (‚geronnener Arbeitszeit‘), also ‚sinnlich-übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge‘ – oder hysterische ‚Symptome‘ (Organversagen ohne somatischen Befund, also ‚soziale‘ Leiden oder Leiden an der Verzicht-‚Kultur‘). Marx hat solche rätselhaften Gebilde (mit einem ethnologischen Begriff) als Fetische bezeichnet; sie imponieren als ‚Natur‘ (also als Vorgefundenes, nicht Produziertes), ohne es zu sein. Diese ‚mystische‘ Maskerade immunisiert sie gegen Erkenntnis (die Lösung der Rätsel); der Naturschein verhindert die Entzauberung der Fetische und entzieht sie praktischer Revision. Ihre Herrschaft, die Übermacht der überkommenen Institutionen über ihre widerstrebenden Träger, beruht darauf, dass diese sie nicht als Produkte menschlicher Praxis erkennen (sondern mit Natur-Bedingungen verwechseln), dass sie ihres historischen, also transitorischen Charakters nicht bewusst sind.“ (S. 24)

Leo Trotzki mit seiner Frau Natalia, 1937

Foto: unbekannt

 

Dahmer zeigt auf, wie sich Trotzki auf verschiedenen Ebenen genau um solche Aufhellungen bemüht, sei es bei seiner Analyse der russischen Revolution (wie auch der eigenen Rolle, die er als Redner auf Massenversammlungen spielte), sei es bei seinen ca. 200 Literaturkritiken, sei es bei der Analyse des Thermidors, also der stalinistischen Konterrevolution. Trotzki machte sich also schon früh für die Verbreitung der Freud’schen Erkenntnisse und des psychoanalytischen Ansatzes stark, “… während doch alle drei Strömungen der Arbeiterbewegung sich irgendwie auf ‚den‘ Marxismus beriefen, wurde ‚die‘ Psychoanalyse von Ideologen im Bannkreis der II. und der III. Internationale zumeist ignoriert oder bekämpft, während einzelne Intellektuelle anarchistischer, surrealistischer und antistalinistischer Orientierung in Freud einen Bundesgenossen sahen.“ (S. 103)

Dahmer arbeitet auch heraus, welche psychischen Folgen es hatte, wenn Intellektuelle im Westen an Stalin festhielten, auch als seine Verbrechen längst bekannt waren. „Der Anschluss an Stalins Parteien- und Agentennetz bedeutete für zahllose Individuen die Selbstaufgabe zugunsten der Teilhabe an einer Macht, die sich unversehens auch gegen sie kehren konnte, und der Preis den (auch schriftstellernde Agenten wie Sudoplatow und Sborowski) dafür zu zahlen hatten, war die ‚loyale Denkhemmung‘ (Freud), die ihnen auferlegte und von ihnen verinnerlichte Unfähigkeit, politisch-theoretische Argumentationen aufzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen, also ihre Verwandlung in (der Übermacht blind ergebene) ‚closed minds‘.“ (S. 107 f.)

      
Mehr dazu
Jakob Schäfer: Dahmers Wiederherstellung der Freud’schen Psychoanalyse, die internationale Nr. 4/2019 (Juli/August 2019). Bei intersoz.org
Helmut Dahmer: Zum Verhältnis von Marx und Freud, die internationale Nr. 5/2018 (September/Oktober 2018)
Helmut Dahmer: Psychoanalyse und Politik, intersoz.org (1.10.2010)
Helmut Dahmer: Freud und Marx – Korrespondenzpartner?, intersoz.org (1.7.2010)
Helmut Dahmer: Divergenzen. Holocaust – Psychoanalyse – Utopia, Inprekorr Nr. 454/455 (September/Oktober 2009)
Helmut Dahmer: Wilhelm Reich – vom Freudo­marxismus zur Orgonomie, intersoz.org (1.1.2008)
Helmut Dahmer: Sigmund Freud: Von der Objekt- zur Subjektwissenschaft, intersoz.org (1.9.2006)
 

Dahmers Pionierleistung, die Gemeinsamkeiten und das sich Ergänzende von marxistischer Gesellschaftsanalyse und Freudscher Psychoanalyse herausgearbeitet zu haben, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Wichtige Beiträge dazu hatte er schon in seinen Büchern „Divergenzen“ (2009), „Interventionen“ (2012), „Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart“ (2013) sowie „Freud, Trotzki und der Horkheimer Kreis“ (2019) geliefert [2]. Nun liegt eine umfassendere Studie vor, die für die einschlägige künftige Forschung unumgänglich sein wird. Die Texte zur Beleuchtung des historischen Zusammenhangs hatte er fast ausnahmslos schon an anderer Stelle veröffentlicht, aber es ist tatsächlich passend, sie hier in den zweiten Teil des Buches einzufügen.

Man kann dem Autor vorhalten, dass er uns hier ein Zwei-Etagen-Buch vorgelegt hat: Man springt ständig zwischen Text und Fußnote, was die Lektüre erschwert, aber für die weitere wissenschaftliche Arbeit sind die Anmerkungen und Belege von großem Wert. Man hätte sich auch wünschen können, dass Dahmer die Texte im zweiten Teil des Buches so umschreibt und zusammenfasst, dass die an manchen Stellen damit zwangsläufig auftretenden Wiederholungen in den Fußnoten überflüssig geworden wären), aber das ist vielleicht Geschmackssache. Man kann jedenfalls nur hoffen, dass dieses Buch in psychoanalytischen wie auch in gesellschaftspolitisch engagierten Kreisen eine weite Verbreitung findet.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Dahmer begründet dies näher mit Trotzkis Rolle in den Revolutionen von 1905 und 1917 sowie seiner Kritik an der „thermidorianischen Entartung“ der Revolution (Anm. d. Rez).

[2] alle im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen