Auszüge aus: Pierre Frank: Geschichte der Kommunistischen Internationale (1919–43). Band 1. Frankfurt/Main 1981, S. 251ff. Teil III, 2. Kapitel: Die deutsche Revolution 1918–1923.
Pierre Frank
Der 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag hatte Deutschland beträchtliche Reparationszahlungen auferlegt, die absolut nicht zu leisten waren, selbst wenn die deutsche Regierung beabsichtigt hätte, die finanziellen Vertragsklauseln zu respektieren.
Unter Berufung auf die Vertragsklauseln, die für eine eventuelle Nichtbezahlung der Reparationen vorgesehen waren, ließ die französische Regierung, mit Unterstützung der belgischen, am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet militärisch besetzen, um durch Aneignung des Arbeitsprodukts dieser Region, einer der industrialisiertesten und reichsten Deutschlands, die vereinbarten Reparationen zu erlangen. Von dieser Region jedoch hing sehr weitgehend das Funktionieren der gesamten deutschen Wirtschaft ab.
Die deutsche Regierung und die deutschen Kapitalisten handelten so, als wenn sie in den Kriegszustand versetzt wären, bei dem nur der bewaffnete Konflikt fehlte, zu dessen Austragung ein weitgehend entwaffnetes Deutschland nicht imstande war.
Der Reichspräsident (Ebert) und die vom Reichstag unterstützte Regierung Cuno riefen die Bevölkerung des Ruhrgebietes zum „passiven“ Widerstand auf. Das bedeutete die Weigerung, die Anordnungen der Besatzungsmacht zu befolgen; die Lokalbehörden und die Unternehmer sollten sich allein nach den Anweisungen der deutschen Regierung richten. Daraus ergaben sich hohe Strafen für die Städte, die Verhaftung und Verurteilung von Großindustriellen durch die französischen Behörden.
Die nationalistischen Formationen verübten im Ruhrgebiet Sabotageakte und Attentate, während die französische Regierung, die den Belagerungszustand verhängt hatte, autonomistische Gruppen darin bestärkte, eine unabhängige rheinische Republik zu gründen.
Für die Arbeiter bedeutete „passiver Widerstand“ meistens den Streik, einen Streik, bei dem sie Regierungsunterstützung erhielten …
Französische Patrouille in Essen 13.1.1923, Foto: Agence Rol |
(Die KPD) mußte augenscheinlich sich der französischen Besetzung widersetzen und sich mit den Arbeitern an der Ruhr am Streik beteiligen, aber sie mußte das tun, ohne die Regierung und die deutschen Kapitalisten zu unterstützen. Ganz zu Beginn schloß sie sich nicht den offiziellen Verlautbarungen an und erklärte, man müsse zugleich „Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree“ bekämpfen.
Bei dieser Verlängerung des Weltkrieges, den die Ruhrbesetzung – ohne bewaffneten Kampf – darstellte, mußte die K(ommunistische) I(nternationale) konkret aufzeigen, wie die kommunistischen Parteien, im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, einen Kampf gegen den imperialistischen Krieg führten. Sowie das Ruhrgebiet besetzt wurde, organisierten die Führungen der beiden kommunistischen Parteien, der französischen und der deutschen, mit Unterstützung der französischen CGTU, eine französisch-deutsche Konferenz in Essen, an der Delegationen der kommunistischen Parteien Belgiens, Großbritanniens, Italiens, der Tschechoslowakei und Hollands teilnahmen. Diese Konferenz nahm eine mutige Entschließung an: als Erwiderung ließ die französische Regierung die französischen Delegierten als „Verschwörer“ ins Gefängnis werfen, darunter Marcel Cachin, Generalsekretär der Partei Albert Treint, Generalsekretär der CGTU Gaston Monmousseau sowie 15 weitere führende Genossen, die wegen Hochverrats vor den Obersten Gerichtshof gebracht wurden. […]
Weiterhin trieb die Kommunistische Jugend Frankreichs eine intensive Propaganda bei den französischen Besatzungstruppen; sie verteilte Flugblätter und Zeitungen in französischer und deutscher Sprache, die sich für die Verbrüderung zwischen französischen Soldaten und deutschen Arbeitern einsetzten. [2] Die Wirkung dieser Propaganda und einige Weigerungen, auf die Arbeiter zu schießen, erschreckten die französischen Behörden und veranlaßten sie zu zahlreichen Verhaftungen von Soldaten. Diese wurden vor ein Kriegsgericht gestellt. […]
Auf Anregung der KPD richtete eine Kommission der Betriebsräte des Ruhrgebiets einen Appell – da die deutschen von Sozialdemokraten geleiteten Gewerkschaftsorganisationen nichts unternahmen – an die verschiedenen politischen Internationalen, an die gewerkschaftlichen Zentralen und an die sozialdemokratischen Parteien, mit der Aufforderung, eine Konferenz einzuberufen, auf deren Tagesordnung die Frage der Ruhrbesetzung stand. Diese Konferenz trat am 17. März in Frankfurt zusammen, aber sie fand keinen großen Widerhall: die reformistischen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen waren nicht gekommen.
Grenze des besetzten Gebiets Feb. 1923, Foto: Agence Rol |
Als die Besetzung weiter ging, ereigneten sich Zusammenstöße zwischen den französischen Besatzungstruppen und deutschen nationalistischen Elementen, die nicht alle aus dem Ruhrgebiet stammten; an ihnen nahmen ehemalige Freikorpsmitglieder, die 1918, 1919 und 1920 eine konterrevolutionäre Rolle gespielt hatten, teil. Der Zwischenfall, der das größte Aufsehen erregte, war ein Sabotageakt, der unter Leitung eines Leutnants dieser Freikorps mit Namen Leo Schlageter verübt wurde. Er wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und von einem französischen Erschießungskommando am 26. Mai hingerichtet. Diese Erschießung rief in ganz Deutschland ungeheure Erregung hervor. Zur gleichen Zeit, wo sich die Arbeiter im Ruhrgebiet im Kampf mit den Schwierigkeiten befanden, denen sie ausgesetzt waren, sahen sie sich sowohl seitens der Repression der französischen Besatzungsmächte wie auch der deutschen Polizei gegenüber, die darüber wachte, daß der „passive Widerstand“ nicht die Einrichtungen und das Eigentum der Kapitalisten in Frage stellte. […]
Innerhalb der Leitung der KI war Radek mit den deutschen Problemen und der Politik der KPD befaßt. … Während der vergangenen Monate waren in Deutschland und in der KI Diskussionen über die Haltung geführt worden, die man gegenüber den vom Nationalismus befallenen Massen einnehmen sollte. … Die kommunistische Führung durfte nicht vernachlässigen, was sich bei der Kleinbourgeoisie tat, denn bei dem Kräfteverhältnis zwischen dem Kapital und der Arbeiterklasse stellte die Stimmung der verschiedenen kleinbürgerlichen Schichten ein wichtiges, manchmal sogar entscheidendes Element dar. Das Problem, das sich hier auftat, wurde für einen kurzen Zeitraum unglücklicherweise durch den „Schlageter-Kurs“ gelöst.
„… wir glauben, daß die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört. Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen für die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern für die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker …“
Die KPD konnte offensichtlich nicht die weitverbreiteten nationalistischen Stimmungen in einer sich radikalisierenden Kleinbourgeoisie wie auch bei einem Teil der Arbeiterklasse ignorieren. Wollte man den Zorn der Massen benutzen, so mußte man ihnen zeigen, wo die wahren Feinde waren, welches die Lösung war. Aber zwischen der „Schlageter-Rede“ und ihrer Richtigstellung hatte die KPD diese Orientierung in gewissem Umfang „angewandt“. Zusammenkünfte hatten stattgefunden, Auseinandersetzungen zwischen der KPD und nationalistischen Führern, wie der Graf Reventlow, waren geführt worden. Von einer legitimen Besorgnis bis zu einer falschen Linie war nur ein kurzer Weg gewesen. Die Folgen dieser plötzlichen Schwenkung sollten nicht unterschätzt werden … Dies geschah in einem Moment, wo die deutsche Situation auf den Höhepunkt einer Krise zusteuerte; sie trug dazu bei, wenn auch vielleicht nur eine Zeitlang, die Parteimitglieder zu verwirren, und, mehr noch, ihre Aufmerksamkeit von der eigentlichen Orientierung abzulenken, der sie unter diesen Umständen hätten folgen müssen, von dem Ziel, auf das sie ihre Kräfte konzentrieren mußten, nämlich auf die Einheitsfront der Arbeiterklasse(,) um sie zum Kampf um die Macht zu führen. Denn die Ereignisse überstürzten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Die Besetzung des Ruhrgebiets, dieses Bollwerks der deutschen Industrie, zog eine Art Grenze innerhalb Deutschlands; diese Tatsache und der „passive Widerstand“ brachten die Wirtschaft in beträchtliche Unordnung. Sie riefen in Deutschland eine Inflation hervor, die sich in einer in der Vergangenheit nie erlebten Weise entwickelte und seitdem in einem Land mit fortgeschrittener kapitalistischer Wirtschaft nicht wieder aufgetreten ist. Im April 1922 war der Dollar ungefähr 1000 Mark wert. Im Verlauf des Jahres 1923 erhielt man für einen Dollar:
Mitte Februar | 18 000 bis 20 000 Mark |
im Mai | 48 000 Mark |
im Juni | 110 000 Mark |
im Juli | 349 000 Mark |
im August | 4 600 000 Mark. |
Die Preise hatten keinerlei Bedeutung mehr. Außer Spekulanten und Wucherern, die wahnsinnige Zinsen forderten, außer Industriellen, die ihre Waren im Austausch gegen Dollars oder andere stabile Devisen exportierten, wurde die gesamte Bevölkerung gegen Ende des Frühlings und zum Sommerbeginn in immer tieferes Elend und allgemeine Unsicherheit gestürzt.
Am schwersten wurden von der Inflation die getroffen, die nur über feste Einkommen verfügten: die Rentner, Pensionäre usw. Dies galt auch für Kleineigentümer, die von den Mieten einiger Mieter lebten: entweder waren die Mieten entwertet, oder der Verkauf ihres Eigentums brachte Papiergeld, dessen Wert rapide sank. Die Arbeiter hatten eine Zeitlang Widerstand leisten können, jedoch nicht für lange, da die Löhne solchen Preiserhöhungen nicht folgen konnten. Die Arbeiterorganisationen waren ebenfalls trotz der politischen Möglichkeiten der Situation in ihrer Tätigkeit behindert; die Beiträge verloren jede Bedeutung und die Gehälter der Hauptamtlichen erlitten das gleiche Schicksal wie die Löhne in den Unternehmen. […]
Diese Situation führte zu einer erheblichen Radikalisierung. Der Klassenkampf dehnte sich immer weiter aus. Die arbeitenden Massen, die sich einer dauernden Verschlechterung ihrer Bedingungen gegenüber sahen, gingen zu Aktionen über, die nicht im Rahmen der bürgerlichen Legalität bleiben konnten; sie wandten sich gegen ihre Unternehmer, gegen den Staat und gegen alle Autoritäten. Mit jeder Woche nahmen Streiks, Demonstrationen und Zwischenfälle auf den Straßen zu. Andererseits wuchs die Stärke der Faschisten, besonders in Regionen wie in Bayern, und sie gingen mit Unterstützung von Militärkräften zur Aktion über. Eine allgemeine Unruhe breitete sich aus. In dieser Situation voller Ungewißheit ergriff die KPD die Initiative und organisierte für den 29. Juli einen „antifaschistischen Tag“. Außer in Sachsen und Thüringen verboten die Länderregierungen – angefangen in Preußen, dessen Innenminister der Sozialdemokrat Severing war – die Demonstrationen. Die KPF-Führung war geteilter Meinung, wie man auf dies Verbot antworten sollte, denn es war nicht möglich, sich über es hinwegzusetzen, ohne sich im klaren zu sein, wie man bewaffneten Aktionen von oben begegnen würde. Schließlich beschloß sie, dort Versammlungen in Sälen zu veranstalten, wo die Demonstrationen verboten waren.
Anhang 2Die Rote Fahne, 9.1.1923; Humanité, 10.1.1923 [7]: „Euer Feind ist nicht der französische Soldat, auch nicht der französische Arbeiter noch der französische Kleinbauer, die gleich Euch Ausgebeutete und Opfer der Bourgeoisie sind. Euer gemeinsamer Feind ist der deutsche und der französische Kapitalist. (…) Solange der Versailler Vertrag nicht durch den gewonnenen Kampf des internationalen Proletariats zerrissen sein wird, zwingt Eure Bourgeoisie, die Lasten des Krieges auf sich zu nehmen, die sie bis jetzt auf Euch abgewälzt hat.“ |
Einige Tage später nahm die Situation plötzlich eine scharfe Wendung, die auch für die KPD-Führung unerwartet kam. Der Reichstag war für den 8. August einberufen worden; die Regierung Cuno, die am Jahresanfang zum „passiven Widerstand“ aufgerufen hatte, verlangte ein Vertrauensvotum. Das wirkte wie ein Signal: Streiks und Demonstrationen vervielfachten sich. Am 10. August wurde bei der Berliner Untergrundbahn und den anderen Verkehrsbetrieben gestreikt, wie auch bei den Druckern, vor allem bei der Reichsbankdruckerei, die das Papiergeld produzierte. Zusammen mit dem Steigen der Preise und dem Sturz der Mark ergab sich daraus eine undurchschaubare Lage. Der Streik verallgemeinerte sich in Berlin und im ganzen Lande. Die Demonstrationen breiteten sich aus, fast überall gab es im Lande ein völliges Durcheinander, und in zahlreichen Orten begannen die Polizeikräfte mit Schießereien, die Tote und Verwundete forderten. Am 11. August stellte eine Versammlung der Fabrikkomitees von Berlin und Umgebung folgendes Forderungsprogramm auf:
Sofortiger Rücktritt der Cuno-Regierung,
Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung,
Beschlagnahme der Lebensmittel und ihre gerechte Verteilung unter Kontrolle der Arbeiterorganisationen,
Sofortige offizielle Wideranerkennung der Arbeiter-Kontrollkommissionen,
Aufhebung des Verbots der proletarischen Hundertschaften,
Sofortige Festsetzung eines Stunden-Mindestlohnes von 60 Goldpfennigen,
Beschäftigung aller Arbeitslosen in der Produktion,
Aufhebung des Ausnahmezustandes und des Demonstrationsverbotes,
Sofortige Freilassung der verhafteten politischen Arbeiter.
Dieses Programm legte für den gewachsenen Einfluß der KPD in den Betrieben Zeugnis ab. Besprechungen fanden zwischen den Gewerkschaften, der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei statt, wie man vorgehen sollte, aber sie führten zu nichts, weil am gleichen 11. August die Regierung Cuno zurücktrat, da sie sich nicht imstande sah, in dieser Situation eine Lösung zu finden; und am 12. August wurde in aller Eile eine Regierung unter der Leitung Stresemanns gebildet. Dies war eine Regierung der Großen Koalition, von der schon seit geraumer Zeit die Rede gewesen war – eine Regierung, die die Rechtsradikalen und klar ersichtlich die KPD ausschloß. Die Sozialdemokraten kehrten in die Regierung zurück, in der sie seit dem Sturz des Ministeriums Wirth und der Bildung der Regierung Cuno im November 1922 nicht mehr gewesen waren. Stresemann war der Führer der Volkspartei, einer Partei der Industriellen.
Arthur Rosenberg [4] erklärt kategorisch: „Ohne Zweifel hatte im Sommer 1923 die KPD die Majorität des deutschen Proletariats hinter sich.“ Stimmt Ossip Flechtheim [5] dem auch nur in geringerem Maße zu, so führt er viele Fakten an, die in diese Richtung weisen: „… Man kann also wohl abschließend feststellen, daß 1923 die KPD zumindest eine starke Minderheit der gewerkschaftlich organisierten und vielleicht sogar die Mehrheit der unorganisierten Arbeiter hinter sich hatte.“
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Die Auffassungen Flechtheims und Rosenbergs … werden ebenfalls vom Sozialisten (Julius) Braunthal [6] gestützt, der lange Zeit zwischen den beiden Kriegen mit Fritz Adler im Sekretariat der Sozialistischen Internationale zusammenarbeitete:
„Die Inflation hatte das finanzielle Rückgrat der Gewerkschaften gebrochen; die Mitgliedsbeiträge waren wertlos geworden, die gewerkschaftlichen Beamten konnten nicht bezahlt werden, die Streikfonds waren in Nichts zerronnen. Die Arbeiter fielen zu Hunderttausenden von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ab, die ihnen nicht zu helfen wußten, und strömten den Kommunisten zu, deren radikale Sprache zumindest ihrer Verbitterung Ausdruck gab …
Der Generalstreik war weder von der sozialdemokratischen Parteileitung noch von der kommunistischen geplant gewesen. Er war ein elementarer Ausdruck der Verzweiflung und Erbitterung der Arbeiter über unerträgliche Not. Er stand unter der Führung kommunistischer Betriebsräte, die erwarteten, ihre Parteileitung würde den Generalstreik zur Revolution weitertreiben …“
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz