Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit[,] das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“ (W. Benjamin [1].)
Helmut Dahmer
Sozialisten und Kommunisten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts waren überzeugt, dass die kapitalistische Produktionsweise ihr Potential erschöpft habe und dass die wachsende Lohnarbeiterschaft eine Gesellschaft nicht länger tolerieren werde, in der Kriege und Krisen einander ablösen, ein Fünftel der Menschheit verelendet und die Destruktion von Menschen, Gütern und Natur sich als profitabler als deren Erhalt erweist. Doch es ist anders gekommen. Antikapitalistische Revolutionen wurden niedergeschlagen oder scheiterten, und Reformen hatten nur im Rahmen der bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse eine Chance.
Die Versuchung ist groß, sich von dieser schon allzu langen Geschichte der Niederlagen und des Scheiterns abzuwenden, sie zu vergessen und „es unbefangen noch einmal zu versuchen“. Doch solche Unbefangenheit wird sich rächen: Je weniger das Scheitern unserer Vorgänger verstanden wird, desto sicherer wird es sich wiederholen.
Darum ist dies die Stunde der Historiker, die den Bedingungen der seltenen Triumphe und vielen Niederlagen der Arbeiterbewegung nachspüren. Zu ihnen gehört Wolfgang Alles, der 1978 in seiner „Pionierarbeit“ (so Hermann Weber in seinem 2010 geschriebenen Vorwort) anhand von Archivdokumenten und Interviews mit damals noch lebenden Zeitzeugen die komplizierte Geschichte der deutschen Anhänger der – von Trotzki 1923 ins Leben gerufenen – sowjetischen „Linken Opposition“ gegen die Stalinisierung von Partei, Staat und Wirtschaft rekonstruierte. In den Jahren 1928 bis 1933 gewann der von Stalin zuerst (nach Alma Ata) verbannte, dann in die Türkei (auf die Insel Prinkipo) abgeschobene Trotzki durch seine in viele Sprachen übersetzten Analysen des sowjetischen „Thermidors“, des Versagens der Komintern in China (1926/27) und in Deutschland (1929 bis 1933) Zehntausende von revolutionären Marxisten in aller Welt für eine neue „Weltpartei der proletarischen Revolution“, die IV. Internationale. Im Unterschied zu anderen, damals existierenden linkssozialistischen Gruppierungen besteht die „trotzkistische“ Internationale bis heute (ja, es gibt gegenwärtig sogar mehrere, miteinander konkurrierende internationale Organisationen, die sich auf Trotzkis Konzept der internationalen Revolution und der revolutionären Organisation berufen). [2]
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Alles schildert die Herausbildung linker (und rechter) kommunistischer Oppositionsgruppen in und neben der moskautreuen KPD („Leninbund“, KPO, SAP, „Rote Kämpfer“ …) und Trotzkis Versuche, mit Hilfe von ein paar Tausend entschlossenen Revolutionären den verhängnisvollen Kurs der Thälmann-KPD (gegen den „Sozialfaschismus“ der SPD) rechtzeitig zu korrigieren und eine kampffähige Einheitsfront der Arbeiterorganisationen gegen die paramilitärischen Kampfformationen der NSDAP zu bilden. [3] Alles verfolgt die Schicksale der „Internationalen Kommunisten Deutschlands“ (IKD) – und ihrer bedeutenden Zeitschrift Unser Wort (1933 bis 1941) – im Untergrund des faschistischen Deutschlands und in den Zufluchtsländern der Emigranten und skizziert abschließend die Versuche, auch im geteilten Nachkriegsdeutschland die rätedemokratisch-internationalistische Tradition wiederzubeleben.
Die jetzt vorliegende Neuauflage seines Buches hat Alles nicht nur durch ein instruktives Nachwort (S. 289–299) erweitert, in dem er auch die seit 1978 zum Thema erschienenen Bücher und Artikel aufführt, sondern auch durch 37 biographische Porträts von LO- und IKD-Mitgliedern. Zudem gibt es ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 255–262), 6 Abbildungen und ein Personenregister.
16.4.2023 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2023 (Juli/August 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz