Während die ukrainische „Frühjahrsoffensive“ bisher eher einem Debakel gleicht, in dem die ukrainische Bevölkerung als Kanonenfutter für westliche Interessen verheizt wird, legt die NATO auf ihrem Gipfel in Vilnius ihre strategischen Interessen offen.
Galia Trépère
„Unser Engagement für die Ukraine wird nicht nachlassen. Wir werden die Freiheit heute, morgen und so lange wie nötig verteidigen“, sagte Biden bei einem Treffen an der Universität von Vilnius nach dem NATO- und dem G7-Gipfel am 11. und 12. Juli. Die Associated Press berichtete, er habe „die Reaktion der USA und ihrer Verbündeten auf die Invasion in Moskau als Modell für die Bewältigung anderer globaler Herausforderungen, vom Klimawandel bis zum Erstarken Chinas, präsentiert und bekräftigt, die Positionen der Nationen seien stärker, wenn sie die breiteste und innigste Koalition errichten“.
Nach Bidens Worten ist der Stellvertreterkrieg, den die USA über das ukrainische Volk gegen Russland führen, Teil ihrer Offensive, um ihre Weltherrschaft aufrechtzuerhalten und weitere Bündnispartner anzubinden. Diese Offensive begann Anfang der 1990er Jahre mit dem Zusammenbruch der UdSSR und führte vom ersten Krieg gegen den Irak 1990/91 an der Spitze einer breiten Koalition, zu der auch die ehemalige UdSSR unter Gorbatschow unter der Schirmherrschaft der UNO gehörte, bis zur aktuellen Neuausrichtung in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum, wobei ihr der der russische Vorstoß, die Ukraine zu besetzen, zugutekam, nachdem die Kriege gegen den Irak und Afghanistan in einem Fiasko geendet waren. Die USA und ihre Verbündeten, die alten imperialistischen Mächte, sind also die Hauptkriegstreiber in der Welt.
Die westliche Propaganda versucht, ihre Politik zu rechtfertigen und ihre wahren Ziele zu verschleiern, indem sie den russischen „Imperialismus“ anprangert und sich auf das Recht der gewaltsam angegriffenen Ukraine auf Unabhängigkeit beruft. Die Entwicklung dieses reaktionären Krieges zeigt einerseits den Wahnsinn von Putins barbarischem Kriegsabenteuer und die blutige Sackgasse, in die er Russland geführt hat, offenbart aber auch die Politik und die militärische Eskalation der USA und ihrer Verbündeten, ihre wahren Ziele und ihre wirtschaftlich und militärisch dominante Machtposition. Der Militärhaushalt der USA beläuft sich inzwischen auf 860 Milliarden US-Dollar, 40 % der weltweiten Militärausgaben und die Zahl ihrer Militärstützpunkte auf 800 in über 70 Ländern.
Sie haben die ukrainische Bevölkerung nicht etwa dabei unterstützt, sich von dem mörderischen Krieg zu befreien, den Putin entfesselt hat, sondern sie vielmehr zum Kanonenfutter eines Krieges gemacht, den sie stellvertretend führen lassen, um ihre eigenen Großmachtinteressen zu verteidigen und ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten, die es ihren multinationalen Konzernen ermöglicht, den Löwenanteil an der Ausplünderung der Völker und der Natur auf der ganzen Welt an sich zu reißen.
Der am meisten beachtete Tagesordnungspunkt des NATO-Gipfels war, ob die Ukraine in absehbarer Zeit in das Bündnis aufgenommen würde, wie von Selenski vehement gefordert. Keines der NATO-Mitglieder war für einen sofortigen Beitritt, insbesondere nicht die USA, die dadurch gezwungen wären, vor Ort direkt in den Krieg einzugreifen. Aber einige Staaten, darunter die meisten Länder des ehemaligen Ostblocks, insbesondere die baltischen Staaten und Polen, forderten eindeutige Zusagen und einen Zeitplan für den Beitrittsprozess. Das Schlusskommuniqué mit den Worten „Die Verbündeten werden im Konsens eine Beitrittseinladung an die Ukraine aussprechen, wenn die Voraussetzungen für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine erfüllt sind“ war äußerst vage. Daher zeigte sich Selenski auch sehr unzufrieden und irritiert, obwohl die Entscheidungen der NATO und später der G7 für ihn sehr vorteilhaft waren. Der Ukraine bleibt der übliche Integrationsprozess erspart, den alle osteuropäischen Staaten durchlaufen müssen, und es wurde ein NATO-Ukraine-Komitee eingerichtet, dessen erste Sitzung am Ende des Gipfels stattfand. Hierbei saß Selenski zwischen dem britischen Premierminister und dem türkischen Diktator Erdogan, nachdem er zuvor an dem Gruppenfoto der G7 zwischen Biden und dem japanischen Premierminister teilnehmen durfte.
Zwischen den G7-Staaten und der Ukraine wurde ein mehrjähriger Vertrag geschlossen, der die stückweise Lieferung von Militärgütern durch feste Verpflichtungen über einen längeren Zeitraum ersetzen und die Ausbildung von Zehntausenden ukrainischen Soldaten – 24 000 wurden bereits in EU-Ländern ausgebildet – vorsehen soll. Zudem bot Biden der Ukraine ein Vorgehen an, das dem, wie er ausdrücklich sagte, mit Israel vereinbarten Modell ähnelt, mit 3,8 Milliarden Dollar Militärhilfe pro Jahr über einen Zeitraum von zehn Jahren. Dieser Vergleich mit dem Staat Israel, dem bewaffneten Arm der USA im Nahen Osten und Henker des palästinensischen Volkes, sagt viel darüber aus, welche Rolle die USA der Ukraine zuweisen wollen: Die Bevölkerung soll als Kanonenfutter in einem grausamen Krieg den Interessen der Großmächte im Namen des Freiheitskampfes geopfert werden.
Dies ist ein „historischer Tag“, sagte NATO-Generalsekretär Stoltenberg, als er die Einigung zwischen Schweden und der Türkei kommentierte, die sich bis kurz vor dem Gipfel gegen die Aufnahme von Schweden in das Bündnis gesträubt hatte. Gemäß den Verpflichtungen, die Schweden auf dem vorherigen NATO-Gipfel in Madrid 2022 eingegangen war, stimmte es der Wiederaufnahme von Waffenexporten in die Türkei zu. Vor allem aber hatte das Land schärfere Antiterrorgesetze erlassen, die sich ausdrücklich gegen die Kurd*innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) richten, und sie sofort in die Tat umgesetzt, indem es einen kurdischstämmigen Türken wegen „Erpressung und versuchter Terrorismusfinanzierung“ zugunsten der PKK verurteilte.
Einige Tage zuvor hatte Erdogan Selenski in Istanbul empfangen. Dieser war von dort mit fünf Kommandeuren des ultranationalistischen Asow-Bataillons zurückgekehrt, die nach dem Fall von Mariupol im Mai 2022 von den Russen gefangen genommen und in die Türkei gebracht worden waren, wo sie gemäß den Bedingungen einer mit Russland bei einem Gefangenenaustausch getroffenen Vereinbarung bis zum Ende des Krieges bleiben sollten. Erdogan, der sich bis dahin von den Sanktionen gegen Russland distanziert hatte, feilschte um seine Unterstützung für den Krieg und schob in letzter Minute die Forderung nach Wiederaufnahme des 2005 begonnenen und seitdem stillgelegten EU-Beitrittsprozesses der Türkei nach. Er erreichte damit die Zusage Schwedens, sich für die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen einzusetzen.
„Ich bin bereit, mit Präsident Erdogan und der Türkei zusammenzuarbeiten, um die Verteidigung und Abschreckung in der euro-atlantischen Zone zu stärken“, sagte Biden anschließend und warf ein grelles Licht auf sein Verständnis“ von „Verteidigung der Freiheit“. Die hat für ihn nichts zu tun mit den demokratischen Rechten der kurdischen Bevölkerung, die vom türkischen Staat gewaltsam unterdrückt wird, und den Tausenden türkischen Journalist*innen, Intellektuellen und Beamt*innen, die Erdogan nach dem Putschversuch gegen sein Regime im Jahr 2016 ins Gefängnis werfen ließ, womit seine Diktatur noch weiter ausbaute. Dieser Kuhhandel zeigt, wie die Großmächte die Rechte der Völker, die sie zynischerweise zu verteidigen vorgeben, verschachern.
NATO NEIN! Euzkara (Baskenland), Foto: Birasuegi |
Mit der Aufnahme in die NATO haben Schweden und Finnland mit ihrer Tradition der Neutralität gebrochen, die sie noch vor dem Krieg hatten, so wie zuvor auf einer anderen Ebene auch Deutschland und Japan, die nun zu den kriegslüsternsten Verbündeten der USA gehören. Die Integration neuer Länder in die diplomatisch-militärische Entourage der USA geht einher mit dem Aufstieg rechtsextremer Kräfte, dem Wiederaufleben alter Strömungen, die aus der Kollaboration mit den Nazis während des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen sind, und der Zunahme bellizistisch-nationalistischer Tendenzen.
Während in Osteuropa die Staaten des ehemaligen Ostblocks, insbesondere die baltischen Staaten, eine Verstärkung ihres militärischen Schutzes vor Russland fordern, legte die NATO „regionale Pläne“ offen, „die sich auf eine Truppenstärke von 300 000 Soldaten mit einer umfangreichen Luft- und Marineunterstützung stützen“. Neben den USA mit einer Truppenstärke von 100 000 Mann spielen Polen und Deutschland sowie der französische Staat eine entscheidende Rolle.
Doch, wie Stoltenberg erklärte, „ist Sicherheit kein regionales, sondern ein globales Thema“. Folgerichtig waren zu dem NATO-Gipfel die Staats- und Regierungschefs von Australien, Japan, Neuseeland, Südkorea und der Europäischen Union eingeladen. „China ist nicht unser Gegner, und die Interaktion mit China sollte fortgesetzt werden“, aber „Pekings zunehmendes Machtstreben hat Auswirkungen auf unsere Sicherheit“. „Wir müssen daher Einigkeit zeigen, wenn wir die auf Regeln basierende internationale Ordnung bewahren wollen“, Regeln, die auf der Dominanz der USA und ihrer Verbündeten beruhen.
Das Schlusskommuniqué des Gipfels bekräftigt unmissverständlich die strategischen Ziele der NATO, die Ausweitung ihres Einflusses und ihrer Herrschaft über die Welt, in Übereinstimmung mit dem Willen der USA, ihre weltweite Hegemonie zu bewahren, die sie durch den Aufstieg und die Konkurrenz auf dem kapitalistischen Markt ehemaliger Kolonien bedroht sehen, die ihre Unabhängigkeit gegen die alten imperialistischen Mächte errungen haben und nun ihre Herrschaft über die Welt in Frage stellen: China, aber auch Brasilien, Indien … Jeder nutzt die Rivalitäten, um im globalisierten Wettbewerb mitzuspielen, wie Modi, der indische Tyrann, Hindu-Fanatiker und Muslimfeind, der am 14. Juli mit großem Pomp von Macron empfangen wurde, der wiederum sein eigenes Spiel betreibt, indem er ihm 26 Rafale (Mehrzweckkampfflugzeuge [Anm. d. Red.]) verkauft hat. Der wird getrieben von der Hoffnung, nicht nur Dassault zu subventionieren, sondern auch eine Rolle in der indopazifischen Zone spielen zu können, die Schauplatz zunehmender internationaler Spannungen zwischen Peking und Washington ist.
Die neue internationale Ordnung des globalisierten Finanzkapitalismus, die von den USA und ihren Verbündeten festgelegt und durchgesetzt wurde, wird vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Instabilität destabilisiert, die durch Krieg und die Verschärfung der internationalen Konkurrenz und Spannungen noch verschärft wird. Dies wiederum führt zum Anstieg von Nationalismus und Militarismus, der die Welt mit einer Globalisierung des Krieges bedroht.
Auch wenn der Krieg formal von Putin und der Invasion der Ukraine durch die russische Armee ausgelöst wurde, ist er im Grunde eine Fortsetzung der verschärften Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Räubern, die sich um die natürlichen Ressourcen und die Früchte menschlicher Arbeit streiten, auf militärischem Gebiet. In der Ukraine und in Russland hat er bereits Hunderttausende von Toten und Verletzten gefordert, die für fremde Interessen zur Schlachtbank geführt werden. Er hat internationale Auswirkungen sowohl durch die Wirtschaftssanktionen als auch durch die galoppierende Militarisierung der Welt.
Wenige Tage vor dem Gipfeltreffen in Vilnius kündigte die US-Regierung an, der ukrainischen Armee hunderttausende Streubomben zu schicken, die jeweils einige Dutzend bis 600 kleinere Bomben enthalten, die sofort oder Jahre später explodieren können und die bereits im ehemaligen Jugoslawien, im Irak, in Laos, Kambodscha und im Libanon verheerende Schäden unter der Zivilbevölkerung angerichtet haben. Über verschiedene Kanäle – Staaten, Europäische Union, NATO, G7, die sogenannte Ramstein-Gruppe, benannt nach der US-Militärbasis in Deutschland, wo sie ihr erstes Treffen abhielt, und die rund 50 Länder umfasst – fließt Militärhilfe in die Ukraine.
Laut einem Artikel von Les Echos vom 11. Juli belaufen sich die „Zusagen für militärische Hilfe an Kiew insgesamt auf über 102 Milliarden Euro, wovon zwei Drittel aus NATO-Ländern stammen“. Bis Ende April 2023 wurden 230 westliche Panzer und 1550 gepanzerte Fahrzeuge geliefert. Vor kurzem gaben die USA grünes Licht für die (Weiter-)Lieferung von F16- und F18-Kampfflugzeugen, die sie an andere Länder geliefert hatten. Zudem ist die Ausbildung ukrainischer Piloten geplant. Daneben wurden auch Lieferungen von Hunderten von Kurz- und Mittelstrecken-Luftabwehrraketen sowie Langstreckenraketen aus Frankreich und Großbritannien angekündigt.
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Die Europäische Union plant die Subventionierung von Waffenherstellern, um die Produktionskapazität ihrer Mitgliedsländer in den nächsten zwölf Monaten auf eine Million Geschosse pro Jahr zu erhöhen, damit die Europäer ihre Bestände auffüllen und die Waffenlieferungen an die Ukraine fortsetzen können, die nach eigenen Angaben derzeit 5000 Geschosse pro Tag verbraucht. Die europäischen Mächte werden immer stärker in den Krieg hineingezogen, zumal die USA angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA ihnen so viel Verantwortung wie möglich übertragen wollen, bis hin zu einer möglichen direkten Intervention von Ländern wie Polen. Der Preis dafür wird für das ukrainische Volk, das den Interessen der Großmächte geopfert wird, für die russische Bevölkerung, die der kriegslüsternen Diktatur Putins unterworfen ist, aber auch für die Menschen in Europa und dem Rest der Welt immer höher werden.
Die von den Großmächten geführten Kriege haben bereits unzählige Menschenleben gefordert und Hunderte von Regionen der Welt verwüstet, oft die ärmsten, über die man nicht spricht. Sie drohen, sich auf den gesamten Planeten auszudehnen. Das Recht der Völker ist unter der Herrschaft des senilen Kapitalismus ein leeres Wort. Die einzige Antwort auf diese Barbarei ist die Verbrüderung, der Aufstand der Arbeiter*innen und der Völker, um ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, den herrschenden Klassen und den Kriegstreibern die Macht aus der Hand zu nehmen und der kapitalistischen Ausbeutung ein Ende zu setzen.
Dafür müssen wir unsere völlige Unabhängigkeit von Militarismus und Burgfrieden, von der offiziellen Kriegspropaganda und unserer eigenen Regierung behaupten, deren Lügen über die Freiheit und Unabhängigkeit der Völker entlarven und bekämpfen, damit wir die Hände frei haben, um unsere eigenen Rechte zu verteidigen und mit einer Macht Schluss zu machen, die gegen uns Krieg führt.
aus Démocratie révolutionnaire vom 16.7.2023
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz