Wie Unternehmen in der Ukraine versuchen, die Kriegssituation für die Schwächung von Arbeitsschutzbestimmungen zu nutzen, erfuhr eine Delegation von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die die Ukraine im Oktober dieses Jahres besuchte.
Torsten Neumann
Nachdem Ungarn Anfang Februar 2024 seine Blockade gegen die Finanzhilfen an die Ukraine aufgegeben hatte, gab es eine Einigung von Europaparlament und EU-Staaten. Bis zum Jahr 2027 soll die Ukraine 50 Milliarden Euro bekommen. 33 Milliarden Euro werden als Darlehen vergeben, der Rest als Zuschüsse. Damit solle die Wirtschaft gestärkt werden, kündigte Selenskyj an. Was das konkret heißt, erleben die Gewerkschaften und die Beschäftigten in der Ukraine nicht erst seit dem Angriff Russlands im Februar 2022. Schon 2019 verfolgte die Regierung eine Politik, die die Gewerkschaften schwächen sollte. Damals liefen die Gewerkschaften Sturm und die Gesetzesvorlage wurde zurückgezogen.
Da nun aber Kriegsrecht gilt und Proteste und Streiks verboten sind, versucht die Selenskyj-Regierung erneut, Arbeitsrechte abzubauen. Die Gewerkschaften konnten bisher erwirken, dass einige der Maßnahmen auf die Kriegszeit beschränkt bleiben. Jetzt, wo sich der Krieg in die Länge zieht, werden aber auch diese befristeten Maßnahmen zum neuen Normalzustand. Überdies scheint die Regierungspartei noch weiter gehen zu wollen.
Die Regierung hat jetzt einen Entwurf für ein neues Arbeitsgesetz mit 264 Paragraphen veröffentlicht, der als größter Angriff auf die Rechte der Arbeitnehmer:innen während der Zeit des Kriegsrechts angesehen werden kann. Würde das Gesetz wie geplant in Kraft treten, liefen Millionen von Menschen Gefahr, ihren Kündigungsschutz zu verlieren. Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf Bestimmungen, wonach bei der Weitergabe von Geschäftsgeheimnissen leichter gekündigt, die Arbeitszeit auf zwölf Stunden verlängert werden kann, so wie das Recht der Unternehmer, Urlaub unterbrechen zu können. Die Zahl der Gewerkschaften in einem Unternehmen soll auf zwei begrenzt und die für die Gründung einer Gewerkschaft erforderliche Mindestanzahl von Mitgliedern erhöht werden. Sofern das Gesetz beschlossen wird, soll es zum 1. Januar 2025 in Kraft treten. Der Entwurf für das Gesetz wurde in aller Eile von einem kleinen Kreis unter der Leitung von Wirtschaftsministerin Julija Swyrydenko und der Abgeordneten Halyna Tretjakowa ohne die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern erarbeitet.
Ein gemeinsames Vertretungsorgan der ukrainischen Gewerkschaften, dem die beiden Dachverbände FPSU und KVPU so wie die FPU (Föderation der Transportarbeiter:innen) und mehrere andere Gewerkschaften angehören, haben zum Gesetzentwurf eine gemeinsame Stellungnahme erarbeitet. Sie fordern von der Regierung, das Gesetz nicht zu beschließen. Der Gesetzentwurf gewährleiste nicht die in der ukrainischen Verfassung festgelegten Arbeitsrechte und -garantien für Beschäftigte. Darüber hinaus berücksichtige der Entwurf auch nicht in vollem Umfang die Normen und Standards der internationalen Rechtsakte der IAO und der EU.
Seit ihrer Unabhängigkeit im Dezember 1991 wurde die Ukraine einer Schocktherapie unterzogen. Dennoch hat sie sich den geforderten Maßnahmen teilweise widersetzt. Dazu gehört beispielsweise das Verbot, Ackerland an ausländische Investoren zu verkaufen, oder die Weigerung öffentliche Infrastrukturen und Dienstleistungen massiv zu privatisieren. Den Erfahrungen in Griechenland folgend, will das internationale Kapital, unterstützt von Regierungen und der EU sowie von IWF und Weltbank dies jetzt unter dem Zwang der Schuldenknute nachholen. Die ukrainische Regierung hat den Auflagen der EU zugestimmt und ist dabei, das Arbeitsrecht schrittweise zu verschlechtern.
Ein weiterer Schritt das Land unter Ausnutzung der Kriegssituation für ausländisches Kapital noch attraktiver zu machen, ist die für Juni 2024 in Berlin geplante Ukraine Recovery Conference. Hier wird es um weitere Privatisierungen von öffentlichen Betrieben, Infrastrukturen und fruchtbaren Ländereien, weitere Deregulierung und Abbau des Arbeitsrechts und Abbau öffentlicher Dienstleistungen gehen. Eines der deutlichsten Zeichen, in welche Richtung der sogenannte Wiederaufbau der Ukraine durch die Westmächte gehen soll, ist der Umstand, dass bei der Londoner Ukraine Recovery Conference 2023 BlackRock und JP Morgan mit der Koordination des Wiederaufbaus beauftragt wurden.
Wie Unternehmen in der Ukraine versuchen, die Kriegssituation für die Schwächung von Arbeitsschutzbestimmungen zu nutzen, erfuhr eine Delegation von Gewerkschafter:innen, die die Ukraine im Oktober dieses Jahres besuchte. Die Vorsitzende der Gewerkschaft, Natalja Marynjuk, bei ArcelorMittal, einem der größten Stahlwerke in Krywyj Rih, berichtete, dass das örtliche Management einen seit 2007 bestehenden Kollektivvertrag, der alle wesentlichen Arbeitsbeziehungen regelt, in 26 Punkten verändern will. Der Kollektivvertrag läuft formal am 31.12.2023 aus.
Bisher war es üblich, den Kollektivvertrag einfach zu verlängern. Genau dies hatte die Gewerkschaft auch vorgeschlagen. Jetzt soll alles anders sein. Natalja ist der Meinung, dass das Management die Kriegssituation ausnutzt, um beispielsweise Sicherheitsstandards zu senken. Es gab mit allen elf im Werk vertretenen Gewerkschaften ein Treffen, um zu beraten, wie man gemeinsam gegen das Vorhaben des Managements vorgehen kann. Die Handlungsmöglichkeiten sind durch die Kriegssituation formal beschränkt. Trotzdem will man eine Streikoption nicht ausschließen.
An den Vorstandschef von AcelorMittal wurde der Appell gerichtet, er möge doch bitte nach Krywyj Rih kommen und sich ein Bild von der Arbeitssituation machen. Die Sicherheit für die Beschäftigten sei jetzt schon katastrophal, da könne man die Standards nicht noch absenken. Man habe nicht vergessen, wie alle ausländischen Mitglieder der Geschäftsleitung eine Woche vor Kriegsausbruch die Ukraine verlassen haben. 3000 Beschäftigte kämpfen an der Front und sorgten für die Sicherheit der Stadt und für die Sicherheit des Werks. Jetzt den Kollektivvertrag zu kündigen, wäre einfach eine Schweinerei.
IndustriALL Global Union hat Ende 2023 ein Treffen mit den Topmanagern von ArcelorMittal organisiert. Natalja Marynjuk forderte bei dem Treffen, die Laufzeit des Tarifvertrags zu verlängern. Die Unternehmensmanager erklärten sich bereit, die Normen des bestehenden Tarifvertrags während des Verhandlungszeitraums einzuhalten – mehr nicht. Es kommt jetzt darauf an, die Gewerkschaften in Krywyj Rih dabei zu unterstützen, einen neuen Tarifvertrag abzuschließen, bei dem die Arbeitsrechte der Beschäftigten gewahrt bleiben.
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Die Delegation bereiste die Ukraine in der Zeit vom 9. bis zum 13. Oktober 2023 im Rahmen der Initiative „Gewerkschaftliche Solidarität – Humanitäre Hilfe für ukrainische Gewerkschaften“. Ziel war es, sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen, vor welchen Herausforderungen die Gewerkschaften und soziale Initiativen in der Ukraine angesichts von Krieg und neoliberalem Umbau der ukrainischen Gesellschaft stehen. Während der Reise, die nach Kiew und Krywyj Rih führte, konnten viele Gespräche mit Aktivist:innen geführt werden. Dazu gehörten Gespräche mit Gewerkschaften des Dachverbands FPU und ein Gespräch mit Ärzten, die sich für die bessere Krankenversorgung einsetzen und dafür eine unabhängige Gewerkschaft gegründet haben. Der Initiative „Be like Nina“ ist es gelungen, eine landesweite Kampagne zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern auf den Weg zu bringen. Auch mit den Gründerinnen gab es ein Treffen. Der Verein #BeLikeNina zählt jetzt 80 000 Mitglieder. Ziel ist es, eine allukrainische Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter:innen zu gründen.
Durch die Delegationsreise konnten viele persönliche Kontakte vor Ort geknüpft werden, die jetzt für konkrete Solidaritätsarbeit genutzt werden können. Nähere Informationen sind zu erhalten über:
Initiative „Gewerkschaftliche Solidarität - Humanitäre Hilfe für ukrainische Gewerkschaften“ |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2024 (März/April 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz