Gewerkschaften

GDL-Tarifrunde 2023/2024

Verlauf und Ausgang der GDL-Tarifrunde haben Auswirkungen weit über den Bahnbereich hinaus. Es lassen sich einige gewerkschaftspolitische Schlussfolgerungen ziehen.

Jakob Schäfer

Aus mehreren Gründen kam der GDL-Tarifrunde 2023/2024 eine besondere Bedeutung zu:

Erstens: Ausbau und größere Verlässlichkeit sind wesentliche Elemente für die Steigerung der Attraktivität der Bahn und damit auch für die Realisierung der Verkehrswende. Dafür aber müssen mehr Menschen für diese Jobs (nicht zuletzt für die verantwortungsvolle Aufgabe der Lokführer*innen) gewonnen werden, was bei den heutigen schlechten Arbeitsbedingungen und der bescheidenen Bezahlung sehr schwer ist. Daher rührt das vergleichsweise große Verständnis der Bahnkund*innen, die zwar von dem Streik betroffen waren, aber gar nicht in dem von Bahn und Medien gewünschten Maß in das GDL-Bashing einschwenkten.

Zweitens: Die GDL hat im Gegensatz zu allen anderen Gewerkschaften nicht nur eine qualitative Forderung – eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Entgeltausgleich – aufgestellt, sondern auch dafür wirklich gekämpft und – mit Abstrichen – auch durchgesetzt.

Drittens: Die GDL ist aufgrund ihrer vergleichsweise kämpferischeren Haltung in den vergangenen Jahren die besondere Zielscheibe der Herrschenden und ihrer Medien. Hinzu kommt, dass sie – als Nicht-DGB-Gewerkschaft und Konkurrentin der EVG – auch von Gewerkschaftsseite aus recht isoliert ist. Hier spielt das Tarifeinheitsgesetz (TEG) eine Rolle, das schließlich von den meisten DGB-Gewerkschaften (außer ver.di) aktiv gefordert und gepusht worden war.

 

Personalnotstand der DB

„Die Bahn hat 325 000 Mitarbeiter und ist nicht in der Lage, genügend Lokführer anzustellen? Das ist ein eklatantes Versagen dieses Personalvorstands. Wenn die Bahn ihr Personal ordentlich bezahlen würde, hätte sie genügend Mitarbeiter. Fakt ist: Mehr als 100 von der Deutschen Bahn ausgebildete Lokführer arbeiten in der Schweiz. Und warum?

Weil es dort bessere Verträge gibt, geregelte Ruhezeiten, weil die Schweizer Staatsbahnen mit ihren Angestellten nicht so umspringen wie die Deutsche Bahn mit ihrem Personal. Es gibt hierzulande Lokführer, die schieben pro Jahr 400 bis 600 Überstunden vor sich her. Da ist kein richtiges Familienleben möglich – und das, nochmals, bei einem Staatsbetrieb.“ [2]

Die Bahn hat einen besonders schlechten Ruf, nicht nur bei den Kund*innen. Die Pünktlichkeit und selbst die Verlässlichkeit bestimmter Zugfahrten geht seit Jahren nach unten. Das liegt daran, dass die Bahn seit 30 Jahren auf Verschleiß fährt. Mit der Bahnreform wollte man sie ja an die Börse bringen und deshalb Gewinne ausweisen, was immer schlecht für die Instandhaltung der Infrastruktur ist. So wurden ganze Strecken stillgelegt, seit 1994 gingen die Industrieanschlüsse von 12 000 auf 2000 zurück usw. Um auf die gleiche Streckendichte wie in der Schweiz zu kommen, müsste bei uns das Streckennetz um 25 000 km erweitert werden.

Vor diesem Hintergrund stand die Abwehr der GDL-Forderungen im krassen Gegensatz zu den Boni, die sich die Bahn-Vorstände genehmigten. Für die neun Vorstandsmitglieder wurden 9 Mio. Euro ausgeschüttet (Bahnvorstand „Personal und Recht“ Seiler 1,3 Mio.). Für neue Mitglieder des Vorstands steigt allein das Gehalt in der ersten Amtsperiode von aktuell 1,15 Millionen Euro auf 1,4 Millionen, ein Sprung um 22 Prozent. Auch der Anteil des festen Grundgehalts an der Gesamtvergütung soll steigen, von bislang 36 auf künftig 50 Prozent. In Verbindung mit den schlechten Arbeitsbedingungen hat all dies nicht unerheblich zur Mobilisierung der Lokführer*innen beigetragen.


Die Ziele der GDL


Die GDL wollte einen realen Anstieg der Gehälter, größere Ruhepausen für Schichtarbeitende und vor allem eine Arbeitszeitverkürzung (AZV) von 38 auf 35 Stunden ohne Gehaltseinbußen. Darüber hinaus ging es ihr um eine Ausdehnung des Geltungsbereichs ihres Tarifvertrags auf Beschäftigte in den Netzbetrieben, der Netzinstandhaltung und den Werkstätten. Dies ist für die GDL nicht zuletzt wegen der weiterhin drohenden Anwendung des TEG von Bedeutung, denn trotz eines Mitgliederzuwachses ist sie immer noch mit Abstand die kleinere der beiden Bahngewerkschaften. Das Unternehmen DB besteht heute aus 300 Betrieben und nur in 70 von ihnen gilt der GDL-Tarifvertag. Wenn sich nun (etwa durch neue Regierungsmaßnahmen oder eine Umorganisierung des Unternehmens) die politischen Bedingungen für den Bahnvorstand verbessern sollten, könnte es ihm gelingen, das TEG anzuwenden, was ja besagt, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft gilt. Und hier fährt die Bahn mit einem EVG-Tarifvertrag natürlich materiell und politisch deutlich besser.

Der Kampf war stellenweise vorbildlich, vor allem aufgrund der hohen Streikbeteiligung, aber auch weil man sich von den Pressevertretern nicht provozieren ließ. Im Unterschied zu den Jubelmeldungen, die die anderen Gewerkschaften üblicherweise nach einem Tarifabschluss abgeben, fällt auf, dass der GDL-Vorstand nichts schönrechnet oder verschweigt. Er benennt klar die nicht erreichten Ziele und macht deutlich, dass man weiter dafür kämpfen werde. Auch die Tatsache, dass der GDL-Vorstand auch nach dem Abschluss schlecht auf den Bahnvorstand zu sprechen ist, steht im krassen Gegensatz zu dem Gesülze der anderen, so extrem sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften.


Bewertung des Ergebnisses


Bahnvorstand und Regierung wollten unbedingt verhindern, dass ein beispielhaft geführter Kampf um eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zum Erfolg führt und andere zur Nachahmung ermuntert. Außerdem ist man weiterhin bestrebt, die widerspenstige GDL kleinzukriegen und für künftige Tarifauseinandersetzungen auszuschalten. Nur so ist die monatelange beinharte Verweigerungshaltung des Bahnvorstands zu erklären. Würde die GDL niedergemacht und würde in der Folge das Tarifeinheitsgesetz ohne Zögern zur Anwendung kommen, würden auch andere Gewerkschaften darunter zu leiden haben, etwa ver.di, die beispielsweise in nicht wenigen Krankenhäusern gegenüber dem Marburger Bund in der Minderheit ist.

Ergebnis der GDL-Tarifrunde

Auszug aus der Zusammenfassung des Abschlusses durch die GDL:

  • „Allgemeine Erhöhung der Monatsentgelttabellen um einen Festbetrag in Höhe von 210 Euro zum 1. August 2024 und um weitere 210 Euro zum April 2025;
  • Erhöhung der dynamisierten Zulagen um jeweils vier Prozent zum 1. August 2024 und zum 1. April 2025
  • Gewährung einer Inflationsausgleichsprämie (IAP) in Höhe von 2850 Euro (Teilzeitarbeitnehmer anteilig) und in Höhe von 1425 Euro für Auszubildende und Dual-Studierende
  • Fünf-Tage-Woche
  • Begrenzung der maximalen Länge von Arbeitsphasen von bisher 144 Stunden auf 120 Stunden ab 1. Januar 2025
  • Schrittweise Absenkung der jeweils maßgeblichen Referenzarbeitszeit um drei Stunden von 2026 bis 2029 für Schichtarbeiter ohne anteilige Entgeltkürzung
  • Keine Ausweitung des Geltungsbereiches der GDL-Tarifverträge auf InfraGO AG und RegioNetz Infrastruktur GmbH
    Die GDL konnte sich mit der Forderung, die bestehenden Tarifverträge für Netzbetrieb- und Netzinstandhaltung zu übernehmen, noch nicht durchsetzen. Sie wird dies in der kommenden Tarifrunde erneut auf die Agenda setzen.
Abwehr von Gegenforderungen

Die GDL konnte alle Gegenforderungen des Arbeitgebers abwehren. Dies betrifft unter anderem Arbeit in Arbeitszyklen (DB Cargo), Multifunktionales Transportpersonal (DB Cargo), Abwertung der Wochenendruhen, Erhöhung des Dispoanteils in der Monatsplanung, Anpassungen zum Jahresschichtrasterplan, Verrechnung von Minder- und Überstunden, Abfluss von Zeitguthaben aus dem Ausgleichskonto, Liquidation des FairnessPlan e. V.“

 

Aus diesen Gründen sind die gewerkschaftspolitischen Ergebnisse dieses Tarifabschlusses noch wichtiger als die materiellen, aber auch die sind nicht schlecht. Das Wichtigste: Die Arbeitszeitverkürzung ohne Entgelteinbußen kommt (wenn auch verzögert) und der Reallohn ist für die nächsten zwei Jahre gesichert (jedenfalls dann, wenn die Inflation nicht wieder über 4 % steigt). Dennoch dürfen die Kröten nicht übersehen werden, die die GDL geschluckt hat:

Mit der Wahlmöglichkeit, sich individuell für eine Arbeitszeit zwischen 35 und 40 Stunden zu entscheiden, gibt es jetzt für die betroffenen Berufsgruppen keine einheitliche Arbeitszeit mehr. So könnte in Zukunft (wenn Reallohnsteigerungen ausbleiben) so mancher Kollege/manche Kollegin die Arbeitszeit sogar verlängern statt sie zu verkürzen. Die zweite Kröte betrifft die lange Laufzeit (26 Monate). Keiner weiß, wie sich die Inflation entwickeln wird. Aber selbst bei einer Preissteigerungsrate von 2 bis 4 Prozent wird mit diesem Abkommen gerade mal der Reallohn gesichert. Verluste der vergangenen Jahre mit hohen Preissteigerungen werden damit nicht ausgeglichen. Im Unterschied zur Frage der Arbeitszeit hat die Gehaltserhöhung also noch nicht nennenswert zur Steigerung der Attraktivität des Berufs des Lokführers/der Lokführerin beigetragen. Die dritte Kröte betrifft die Nichtausweitung der betroffenen Beschäftigtengruppen, obwohl doch so manche Kolleg*innen aus diesen Bereichen mitgestreikt haben, aber jetzt nicht bessergestellt werden als alle anderen, die nur vom EVG-Tarifvertrag erfasst sind.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Nichtanwendung des TEG vornehmlich darauf beruht, dass die GDL in den von ihr bestreikten Betrieben (vor allem beim fahrenden Personal) darlegen konnte, dass sie dort die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Kolleg*innen vertritt. Eine Überprüfung fand nicht statt, nicht zuletzt, weil die vom Gesetz dafür vorgesehene Maßnahme praktische Umsetzungsprobleme hat. Mit anderen Worten: Die GDL wirkt im Moment im Graubereich des TEG. Es in der Praxis wirklich zu kippen, ist noch nicht erreicht. Vor dieser Illusion sollte man sich bewahren.

Die Abstriche, die die GDL hinnehmen musste (oder die der GDL-Vorstand meinte hinnehmen zu müssen), sind vor allem dem öffentlichen Druck geschuldet, wozu in skandalöser Weise die anderen Gewerkschaften durch ihre fehlende Solidarität einen erheblichen Beitrag leisteten. Vor allem die neue IGM-Vorsitzende, Christiane Benner, tat sich unrühmlich hervor. Am 19. November warf sie der „sehr lauten Lokführergesellschaft GDL“ Provokation vor. Und beim Sonntagsstammtisch des BR am 10. März forderte sie die GDL auf, den Vorschlag der CDU-Politiker Günther und de Maizière anzunehmen. Einer kämpfenden Gewerkschaft in den Rücken zu fallen, ist schon eine starke Nummer.


Streikrecht unter Beschuss


      
Mehr dazu
H.S.: GDL erstreikt 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich, intersoz.org (2.4.2024)
vb: GDL-Abschluss: 35 Stunden - ab 2029, Sozialistische Zeitung (1.4.2024)
Helmut Born: Bahnvorstand provoziert neue Streiks, intersoz.org (6.3.2024)
Danny Grosshans (Interview): Nur wer kämpft, kann gewinnen, intersoz.org (2.2.2024)
Uwe Krug (Interview): Die GDL ist durch und durch sozialpartnerschaftlich orientiert, Sozialistische Zeitung (1.2.2024)
 

Die GDL ist glücklicherweise nicht die einzige Gewerkschaft, die in letzter Zeit für bessere Arbeitsbedingungen und für mehr Lohn wirklich gekämpft hat. Auch das Bodenpersonal der Lufthansa und die Beschäftigten der Sicherheitsdienste an den Flughäfen haben für einen Ausgleich der Verluste in den vergangenen Jahren gekämpft und auch wirklich was rausgeholt. Sehr gemischt sieht es allerdings bei den Beschäftigten im Nahverkehr aus. Hier haben die Kolleg*innen ebenfalls für eine Arbeitszeitverkürzung gekämpft, aber die ver.di-Führung ist hier – u. E. ohne wirkliche Not – viel zu schnell eingeknickt und hat außer einer Reallohnsicherung (mit stellenweise leichten Erhöhungen) und geringen Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen vor allem in der Frage der Arbeitszeit so gut wie nichts rausgeholt. Nennenswert ist die AZV nur in Schleswig-Holstein und auch das nur mit einem Einstieg erst ab 2026). [1]

So sehr aber ver.di und alle anderen DGB-Gewerkschaftsvorstände doch auf Sozialpartnerschaft eingenordet sind: Auch außerhalb des Bahnbereichs sind Streiks den Herrschenden grundsätzlich ein Dorn im Auge. So führte der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai aus: „Streiks im Bereich der kritischen Infrastruktur dürfen nicht unverhältnismäßig und maßlos sein. Hier sollte eine gesetzliche Anpassung erfolgen.“ Natürlich sind vor allem die strengen Antistreikgesetze in Großbritannien ein Vorbild. Fratzscher, Chef des DIW, meinte, nun müssten Politik und Tarifparteien das Streikrecht so anpassen, „dass es eine schnellere Einigung gibt und der wirtschaftliche Schaden begrenzt bleibt.“

Immerhin haben sich daraufhin (vor allem nach dem Vorstoß der FDP) mehrere Landesverbände des DGB in teils scharfen Erklärungen gegen eine Einschränkung des Streikrechts gewandt. Nach unseren Infos haben sich hier vor allem die ver.di-Vertreter*innen engagiert.


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2024 (Mai/Juni 2024). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Detailliertere Infos über den jeweils neuesten Stand des jeweiligen TV Nah finden sich hier.

[2] „Wer die Bahn so ruiniert, kann sie nicht retten“ Interview mit Arno Luik Frankfurter Rundschau vom 05.03.2024; siehe auch Arno Luik: Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn. Frankfurt (Westend Verlag) 2021, 302 S., 12 Euro