Politische Resolution über unsere Aufgaben im imperialistischen Europa

(Our tasks in imperialist Europe, Resolution des XIV. Weltkongresses der IV. Internationale, 1995)

1.

Unsere allgemeinen Aufgaben in der kommenden Periode sind:

  1. uns an den Kämpfen, Mobilisierungen und dem Widerstand gegen die kapitalistisch-imperialistische Offensive auf allen Ebenen im nationalen wie internationalen Kontext zu beteiligen und eine maßgebende Rolle in den Massenorganisationen zu spielen
  2. den Kampf für eine Abkehr von der katastrophalen neoliberalen Orientierung, die heute in der Arbeiterbewegung unter der Ägide der Sozialdemokratie vorherrscht, zu führen und in der weiteren Ausarbeitung eines linken Programms und einer linken politischen Perspektive mitzuwirken
  3. aktiv in die historische Krise einzugreifen, in der die traditionelle Arbeiterbewegung steckt, um einer neuen -- antikapitalistischen und sozialistischen -- politischen Kraft näherzukommen, die eine Antwort auf diese Krise und auf die Aufgaben der objektiv neuen Lage gibt.

2.

Wir lehnen die Politik des kapitalistischen Wettbewerbs ab, die die Arbeiterinnen und Arbeiter der EU gegeneinander ausspielt und sie ihren Kolleginnen und Kollegen in der restlichen Welt gegenüberstellt. Dem halten wir Antworten entgegen, die auf internationale Solidarität und Zusammenarbeit setzen.

Wir bekämpfen insbesondere die Politik der Haushaltskürzungen, der Privatisierung, der zunehmend ungeschützten Arbeitsverhältnisse, des Wettlaufs um Flexibilisierung und Reduktion der Lohnkosten (direkte und indirekte Löhne). Diese Politik ist es, die in allen EU-Ländern im Rahmen des Vertrags von Maastricht und des Weißbuches von Jacques Delors praktiziert wird.

Im Kontext äußerst defensiver Klassenkämpfe legen wir besonderes Gewicht darauf, die negativen Auswirkungen dieser Politik in sozialer, politischer, ideologischer, budgetärer und kultureller Hinsicht aufzuzeigen. Insbesondere weisen wir darauf hin, daß mit der Politik der Lohnkürzungen die Arbeitslosigkeit nicht verringert, sondern (durch den rückläufigen Binnenkonsum) verschärft wird, während die Sozialversicherungssysteme (durch geringere Steuereinnahmen und ein schwindendes Beitragsvolumen) destablilisiert werden.

Gleichzeitig legen wir großes Gewicht darauf, diese Politik von einem demokratischen Gesichtspunkt aus zurückzuweisen, und nutzen jede Gelegenheit, um aufzuzeigen, daß sie sich auf Organe stützt, die weder gewählt noch kontrolliert sind, und ohne vorherige politische Diskussion beschlossen wird.

Diese beiden Faktoren -- negative konkrete Auswirkungen auf die Gesellschaft und undemokratische Entscheidungsfindung -- erlauben am besten, die Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch alle Ausgegrenzten zum Kampf für ihre eigenen Rechte zu ermutigen. Ausgehend von einem solchen Ansatz können wir auch versuchen, den Charakter dieser Kämpfe zu beeinflussen, damit sie nicht mehr nur als sektorielle oder sogar "korporatistische" Kämpfe ohne politisches Gewicht erscheinen, sondern wieder eine breitere gesellschaftlichen Legitimität genießen.

Auf einer allgemeineren politischen Ebene konzentrieren wir uns auf den Widerspruch zwischen massiver Dauerarbeitslosigkeit einerseits und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Werktätigen andererseits. Diese Verschlechterung ist ein Ergebnis der neuen flexiblen Arbeitsorganisation und der damit einhergehenden Ausweitung ungeschützter Arbeitsverhältnisse (Prekarisierung). Sie hängt in einem weiteren Sinn auch mit der Zukunftsangst zusammen, die eine Folge der massiven Arbeitslosigkeit ist und durch die unsicheren Arbeitsverhältnisse zusätzlich gefördert wird.

Es ist zu erwarten, daß sich in dieser Situation massiver Arbeitslosigkeit, verbunden mit der fehlenden Befriedigung [sozialer] Bedürfnisse und der verschärften Ausbeutung am Arbeitsplatz, wieder die soziale Frage stellen wird, von der ausgehend wir der Perspektive einer radikalen Veränderung der Gesellschaft auf nichtkapitalistischer Grundlage neue Glaubwürdigkeit verleihen können.

In ideologischer Hinsicht müssen aufmerksam die unklaren Gefühle verfolgt werden, aus denen heraus die Logik des Wettbewerbs und der Konkurrenz in Frage gestellt wird. Diese Gefühle, die immer wieder in Streiks oder auch in den Kämpfen von Ausgegrenzten zum Ausdruck kommen, erlauben es, an die unmittelbarsten Forderungen anknüpfend, eine radikale Ablehnung des Kapitalismus' als System zu propagieren.

3.

Die Massenarbeitslosigkeit ist zu einem dauerhaften Merkmal der imperialistischen Länder Europas geworden. Sie hat in sozialer, politischer und moralischer Hinsicht katastrophale Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und insbesondere auf die Jugend. Die Bourgeoisie ist weder fähig noch willens, dieses brennende Problem zu lösen.

Die Überwindung der Arbeitslosigkeit ist folglich ein zentraler Punkt jeder Alternativstrategie. Im Wissen um das aktuelle Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit in der Gesellschaft allgemein, aber auch in den einzelnen Betrieben, können wir uns nicht mit Standardantworten begnügen. Betroffen sind nicht nur die Arbeiterinnen bzw. Arbeiter und Arbeitslosen. Die Überwindung dieser Massenarbeitslosigkeit muß zu einem Anliegen für die gesamte Gesellschaft werden. Sie muß alle Widerstandskräfte, die gesamte Energie und Kreativität mobilisieren. Sie muß sich auf die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung stützen, darüber hinaus aber auch alle sozialen Bewegungen einbeziehen. Die vorgeschlagenen Antworten können keine Standardlösungen sein. Das Recht auf einen Arbeitsplatz für jeden und jede ist eine zugleich soziale und demokratische Forderung, denn es ist der Weg zu einem akzeptablen Einkommen, einem nützlichen Platz in der Gesellschaft, der Anerkennung als vollwertige Bürgerinnen bzw. Bürger. Als revolutionäre Marxisten und Marxistinnen sehen wir das subversive Potential, das angesichts der gegenwärtigen Vorherrschaft der Marktwirtschaft in dieser Frage steckt: Sie erfordert eine weltweite Umkehr der politischen Prioritäten und damit eine soziale Revolution.

Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung verlangt zwei Arten von programmatischer Antwort: die Bildung von Arbeitsplätzen durch Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse einerseits, die Verkürzung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnverlust, verbunden mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze andererseits.

Der rückläufige Binnenverbrauch in den verschiedenen EU-Ländern und der relative Rückgang an öffentlichen Investitionen führten dazu, daß zahlreiche soziale, kulturelle und ökologische Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Diese Situation lastet in politischer, budgetärer und sozialer Hinsicht auf der gesamten Gesellschaft. Sie bietet eine Grundlage dafür, unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation der einzelnen Länder und Regierungen Vorschläge zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich von Gesundheit, Wohnbau, Erziehung, öffentlichem Verkehr, Kinderbetreuung u.ä. zu propagieren. Angesichts des Versagens des Marktes erlauben solche Vorschläge nicht nur die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern stellen auch einen Ansatz dar, um dem öffentlichen Dienst neue Legitimität zu verleihen, ja sogar politische Eingriffe in den Bereich des Privatbesitzes zu rechtfertigen (z.B. Beschlagnahme leerstehender Wohnungen, Abfallentsorgung ...). Die entsprechenden Vorschläge sind um so wirkungsvoller, je besser sie auf die jeweilige lokale Situation abgestimmt und je eher sie auch finanziell konkret verwirklichbar scheinen. Das führt nicht zuletzt zur Frage der Nutzung der Arbeitslosengelder.

Generell nimmt der Kampf für Arbeitszeitverkürzung einen zentralen Stellenwert in unseren politischen Aufgaben ein. Die Arbeitszeitverkürzung ist noch keine Lösung für Arbeitslosigkeit, doch sie ist die unmittelbar wirkungsvollste Antwort auf Betriebsschließungen und Kündigungen. Dieser Kampf umfaßt verschiedene Ebenen: In erster Linie die Forderung nach "Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust bei gleichzeitiger Schaffung neuer Arbeitsplätze". Diese Forderung läßt sich in verschiedener Weise konkretisieren: von Fall zu Fall als Antwort auf eine durch die Unternehmer oder die neoliberale Politik der "Teilung der Arbeit" erzwungene Arbeitszeitverkürzung oder als Teil des gewerkschaftlichen Forderungspakets in Tarifvertragsverhandlungen.

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bietet zweitens in gewissen Situationen die Möglichkeit, um die vereinheitlichende Losung "35 Stunden ohne Lohnverlust durch gesetzliche Verankerung" herum breite Einheitsfronten zu bilden, die selbst die reformistischen Führungen einschließen. Die soziale Tragweite einer solchen Losung wäre begrenzter, doch könnte sie zum Ausgangspunkt einer neuerlichen Offensive werden, um alle Sektoren der Arbeiterklasse jenseits der jeweiligen unterschiedlichen Stellung zu vereinigen und das globale Kräfteverhältnis zu ihrem Gunsten zu verschieben.

Doch diese beiden Formen von "Arbeitszeitverkürzung" können die gesamtgesellschaftliche Arbeitslosigkeit noch nicht wirklich beheben. Daraus ergibt sich als dritte Ebene der Kampf um eine wesentlich weitreichendere Arbeitszeitverkürzung (z.B. 32 oder 30 Stunden) ohne Lohnverlust bei gleichzeitiger Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dabei handelt es sich um eine starke, wirkungsvolle und zukunftsweisende Forderung, die jedoch im gegebenen Kräfteverhältnis nicht realisierbar scheint. Sie kann nur dann überzeugen, wenn von vornherein die gesellschaftlichen und technischen Voraussetzungen der Umsetzung umfassend mit einbezogen werden: also die Arbeiterkontrolle (und gesellschaftliche Kontrolle) der Unternehmen in bezug auf Arbeitsintensität, Umweltschutz und ökonomische Zweckbestimmung; die Frage der Neuorganisation der Arbeit, um in ökonomisch-technischer Hinsicht und im Hinblick auf die Lebensgewohnheiten der Arbeiter und Arbeiterinnen die Arbeitszeitverkürzung umsetzen zu können; finanzielle Aspekte angesichts ungleicher Konkurrenzbedingungen (Ausgleichsfonds); die Finanzierung des Vorhabens (und somit die Steuerfrage) ... Ein solcher gleichermaßen radikaler wie umfassender Plan kann nur auf gesamteuropäischer Ebene sinnvoll angegangen werden; zum einen, weil er angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedingungen nicht in einem Land allein umsetzbar ist, zum anderen, weil er einen Wiederaufschwung und eine umfassende wirtschaftliche Reorganisierung im Hinblick auf die sozialen Bedürfnisse auf internationaler Ebene voraussetzt, mit dem in Gesamteuropa begonnen werden muß.

Daneben werden mit einer solchen Forderung viel weitreichendere gesellschaftliche Fragen aufgeworfen: nach dem Sinn der Arbeit an sich, nach dem bestehenden Lohnniveau im Verhältnis zu den Lebensbedingungen des Proletariats weltweit, nach der Konsumtionsweise und ihrem Zusammenhang mit der Entfremdung in der Freizeit einerseits, mit den begrenzten Ressourcen der Erde andererseits, nach dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen im allgemeinen und in der Hausarbeit im besonderen oder nach der Rolle der öffentlichen Dienstleistungen (insbesondere der Gemeinschaftseinrichtungen). Dahinter zeichnet sich die Frage nach der politischen und wirtschaftlichen Macht in der Gesellschaft und nach der Notwendigkeit einer sozialen Revolution ab.

Im gleichen Sinn müssen auch andere Fragen von gesellschaftlicher Bedeutung aufgriffen werden: die Fragen von Sozialversicherung, Schule und Weiterbildung, Wohnung, Gesundheit, Stadtleben. Diese Fragen lassen sich gleichzeitig mit verschiedenen Aspekten der weltweiten ökologischen Krise verbinden.

4.

Der Kampf der Frauen gegen ihre Unterdrückung und patriarchale Strukturen wird ebenfalls ein wichtiges Element im Kampf gegen den Kapitalismus und für die Wiederbelebung einer emanzipatorischen Perspektive für die Menschheit sein. Der Zyklus der feministischen Bewegung der Jahre 1965-1990 ist mit einigen wichtigen Errungenschaften in verschiedenen Bereichen an sein Ende gelangt: die Ungleichheit auf gesetzlicher Ebene wurde beseitigt, die Frauen sind massiv in das öffentliche Leben und insbesondere auf den Arbeitsmarkt getreten, ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit wurde erreicht, die patriarchalen Strukturen in eine Krise gestürzt und, insbesondere innerhalb der Familien, zurückgedrängt. Während dessen ist jedoch die Frauenbewegung als solche auseinandergefallen, nicht zuletzt, weil sich ein Teil der Feministinnen dank einer Reihe von Reformen "von oben" in das Getriebe des bürgerlichen Staates einbinden ließ und sich integrierte. So ist nur ein kleiner aktiver Kern von sozialistischen und von radikalen Feministinnen übriggeblieben, die Widerstand gegen die Angriffe auf einzelne Errungenschaften der Frauenbewegung leisten.

Die Frauenunterdrückung gibt es nach wie vor, doch hat eine gewisse Verlagerung stattgefunden: Durch die gesetzliche Gleichstellung wurde die in allen Gesellschaftsbereichen einschließlich der sozialen Bewegungen faktisch bestehende Ungleichheit nicht aufgehoben und auch die ungleichen Löhne für vergleichbare/gleichwertige Arbeit bestehen weiter. Daneben tragen die Frauen durch die anhaltende Krise eine zunehmend schwere Last auf ihren Schultern, und durch die bürgerliche Politik werden gewisse Errungenschaften der vorausgehenden Periode in Frage gestellt. Daneben besteht ein gravierender Widerspruch zwischen der zunehmenden Besserstellung der Frauen auf gesetzlicher und z.T. auch auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene einerseits und ihrer Randstellung, wenn nicht sogar Ausgrenzung aus politischen Prozessen und Führungsgremien andererseits.

Neben der Frage der Arbeit (insbesondere der Nacht- und Hausarbeit) sowie der körperlichen und sexuellen Gewalt (Belästigung am Arbeitsplatz, Vergewaltigung von Kindern und Frauen in der Familie) stellt die politisch-demokratische Frage einen zentrale Faktor zukünftiger Diskussionen dar (Quoten, Parität). Die internationale Solidarität äußerte sich durch ein neues Bewußtsein über die Rolle der Frauen, die von Krieg und Unterdrückung betroffen sind (ehemaliges Jugoslawien, Ruanda, Tschetschenien, Argentinien, Guatemala, ...). Diese vielfältigen Äußerungen von Widerstand haben noch nicht zur Herausbildung einer neuen organisierten und umfassenden Frauenbewegung geführt. Doch diese steht zweifellos an, und wir müssen uns mit all unseren Kräften daran beteiligen. Das bedeutet, daß wir dringend unsere eigenen Organisationen erneuern müssen, damit die Frauen darin ihren Platz einnehmen können.

5.

Im Verlauf der 80er und 90er Jahre ist es immer wieder zu Jugendmobilisierungen gekommen. In diesen Mobilisierungen ging es meist um weitreichende moralische Fragestellungen wie die Gefahr von Kriegen (Raketenstationierungen), Antirassismus und Antifaschismus, Hilfe für die Dritte Welt, oder eingeschränkter um Schulfragen. Die ökologische Frage ist zu einem Grundanliegen der beiden jüngsten Generationen geworden und führte zur Entstehung eines globalen politischen Bewußtseins.

All diese Aktivitäten fanden vor dem Hintergrund eines vollständigen Bruches mit dem ideologischen Klima der 68er Jahre statt. Die "Marktatmosphäre" und das "post-sozialistische" Klima zusammen mit einem augenfälligen Verlust an historischen, sozialen und politischen Bezügen beeinträchtigten stark das Radikalisierungsniveau und die Art der Politisierung der Jugendlichen. So besteht -- ausgenommen bei einem sehr kleinen Kern -- eine beträchtliche Diskrepanz zwischen dem Grad an politischem Bewußtsein bzw. Engagement und dem revolutionär-marxistischen Programm. Durch die nach einer kurzen Phase der Euphorie erneute Diskreditierung der Markwirtschaft eröffnet sich wieder ein breiterer ideologischer Spielraum für linke und namentlich marxistische Erklärungen.

Die insgesamt eher ungünstige Entwicklung steht in Widerspruch zu der Tatsache, daß die junge Generation sozial an die Grenzen des real existierenden Kapitalismus stößt. Erstmals seit Jahrzehnten sind die Zukunftsperspektiven der heutigen Jugend im Vergleich zu denen früherer Generationen und insbesondere zu ihren eigenen Eltern eingeschränkter. Dazu kommt noch, daß sich die Jugendlichen zwar frühzeitig aus der Obhut der Eltern "emanzipieren", aber mangels stabiler Vollzeitstellen weniger in der Lage sind, sich wirtschaftlich selbständig zu machen.

Dieser Widerspruch schafft beträchtliche soziale Spannungen, die bereits zu umfassenden Kämpfen geführt haben, und ist andererseits für zahlreiche, gegenüber der Nachkriegszeit beispiellose Verzweiflungstaten verantwortlich (Drogenkonsum, Selbstmorde, Ausbruch aus Schule und Familie oder völlige soziale Ausgrenzung).

Unsere Beteiligung an der Jugendbewegung, wie sie ist und kämpft, ist von entscheidender Bedeutung, um eine revolutionär-sozialistische Organisation aufbauen zu können. Diese Arbeit muß von den tatsächlich bestehenden Jugendbewegungen -- ihrer sozialen Grundlage, ihrem kulturellen Verhalten, ihren Organisations- und Ausdrucksformen, ihrem jeweiligen Radikalisierungsgrad -- ausgehen, und sie muß losgelöst sein von den oft komplizierten taktischen Überlegungen, die unsere Parteien brauchen, um in der heutigen Arbeiterbewegung bestehen zu können.

Die Organisierung des internationalen Jugendcamps ist ein ausgesprochener Erfolg hinsichtlich der Zahl der TeilnehmerInnen und ihrer internationalistischen, enthusiastischen Einstellung. Sie ermöglichen aber auch, daß eine neue Schicht an Kadern entsteht, die von dieser Erfahrung geprägt sind.

6.

Die linke Intelligenz hat im Verlauf der 80er und 90er Jahre reihenweise ihr politisches Engagement aufgegeben und vor dem Neoliberalismus kapituliert. Das bedeutete für die Arbeiterklasse und ihren antikapitalistischen Flügel eine Verschlechterung des Kräfteverhältnisses. Um so wichtiger ist es, mit allen verbliebenen Teilen und Personen sowie mit den Kräften, die in ihrem eigenen Berufsalltag die zerstörerischen Auswirkungen der fortschreitenden "Vermarktung" zu spüren bekommen, von einer ethischen Ablehnung ausgehend zu einem umfassenderen sozialen Verständnis kommen und sich potentiell auf seiten der antikapitalistischen sozialen Bewegung engagieren könnten, ins Gespräch zu kommen.

7.

Wir haben eine besondere politische Aufgabe gegenüber der Dritten Welt.

Neben Solidaritätsaktionen gegen Repression und der Unterstützung wichtiger Kämpfe und Mobilisierungen gegen den Imperialismus, um die Unterdrückung und Erstickung (teil-) revolutionärer Durchbrüche zu verhindern, müssen wir die öffentliche Meinung aufrütteln, unsere Regierungen unter Druck setzen, die Arbeiter- und Sozialbewegung mobilisieren, um unverzüglich das fürchterliche Elend lindern, von dem immer mehr ehemalige Kolonien betroffen sind. Der Kampf für Schuldenstreichung und gegen den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank stellt ein Ziel dar, das den betroffenen Ländern konkret nützt, wirft aber gleichzeitig die Frage ihrer Abhängigkeit bzw. erneuten Kolonialisierung insgesamt auf und eröffnet einen Weg zu einer neuen Form des antikapitalistischen Kampfes.

8.

Unsere Organisationen beteiligen sich intensiv an antirassistischen und antifaschistischen Kämpfen und Bewegungen. Unser Ziel sollte es sein, diesen Kampf auf ein europäisches Niveau zu heben.

Das gilt insbesondere für den Kampf gegen das Schengener Abkommen, das selbst ein vereinheitlichendes Ziel vorgibt. Wenn auch in den verschiedenen Ländern ein durchaus repräsentatives und auf EU-Ebene koordiniertes Netz besteht, waren diese Kräfte doch nicht in der Lage, eine gemeinsam geplante kämpferische Aktion zu organisieren. Und das war und ist unser Ziel.

Was die aktive antifaschistische Bewegung betrifft, setzt sich diese im wesentlichen aus radikalen Kernen zusammen, die in allen Ländern regelmäßig tätig sind und dank der hohen Sensibilisierung und Bereitschaft "demokratischer" und "linker" Bewegungen und Organisationen in dieser Frage punktuell "breitere" Mobilisierungen ermöglichen. Auch hier gibt es auf europäischer Ebene Koordinierungsversuche. Insgesamt besteht eine gewisse Wachsamkeit, auf die man sich stützen muß, um gemeinsam und auf internationaler Ebene auf konkrete Ereignisse zu reagieren. Angesichts des Fortbestandes faschistischer und extrem rechter Parteien und ihrer Verankerung in der Gesellschaft und im Staatsapparat finden wichtige Diskussion über die politische Ausrichtung statt, in die wir eingreifen müssen.

9.

Die Aktivitäten der Antikriegsbewegung waren in der Frage der militärischen Konflikte in Zentral- und Osteuropa (ehemalige UdSSR, ehemaliges Jugoslawien), insbesondere verglichen mit der Reaktion auf den "Golfkrieg", äußerst schwach. Die völlige Unfähigkeit der reformistisch geführten Arbeiterbewegung ist nicht weiter verwunderlich. Daneben hat sich jedoch auch die zwei Jahrzehnte lang aktive, radikale und breite "Friedensbewegung" verflüchtigt. So sind nur äußerst minoritäre Kräfte wie wir übriggeblieben, die versucht haben, gegenüber einer zwar empörten, aber passiven öffentlichen Meinung zu reagieren. Um so wichtiger ist die Weiterführung der Kampagne International Workers Aid: zum einen aufgrund ihres exemplarischen Charakters (hier wie dort) und als Basis für neue Beziehungen zu den bestehenden Widerstandskräften im ehemaligen Jugoslawien. Analoge Aktivitäten sollten auch gegen den brutalen Krieg entfaltet werden, den die Jelzin-Regierung gegen das tschetschenische Volk führt.

10.

Auf europäischer Ebene muß das fast vollständige Fehlen einer aktiven Arbeiterbewegung festgestellt werden. Das hat nicht technische Gründe (fehlende materielle Ressourcen), sondern politische: Die Unterordnung unter den jeweiligen Nationalstaat und unter die EU, wie sie der traditionellen Arbeiterbewegung von der Sozialdemokratie und den Christdemokraten bzw. ihrem Gewerkschaftsflügel aufgezwungen wird, lähmt jegliche Mobilisierung größeren Maßstabes um grundlegende Forderungen (etwa eine Ausdehnung des Kampfes der IG-Metall für die 35-Stunden-Woche), jegliche europaweite Solidarität mit Einzelkämpfen (wie Betriebsverlagerungen innerhalb der EU, vgl. das Musterbeispiel Hoover) und jegliche EU-weite gesellschaftliche Alternative.

Wir müssen alles in Bewegung setzen, um uns durch Solidaritätsaktionen mit Streikenden, die Verbreitung von Informationen über stattfindende Kämpfe, Forderungen und gewerkschaftliche Plattformen aus diesem Korsett zu befreien. Dabei sind drei Faktoren besonders hervorzuheben:

  1. die Entstehung immer zahlreicherer europäischer Betriebskomitees, die es trotz ihrer Begrenztheit zu nützen gilt, um Treffen zwischen (kämpferischen) GewerkschaftsaktivistInnen zu ermöglichen;
  2. der Versuch, die Gewerkschaften dafür zu gewinnen, daß sie auf europäischer Ebene die Initiative ergreifen, um ihre Branchen zu koordinieren (vgl. das Treffen in der Telekommunikationsbranche in Brüssel Anfang 1995)
  3. die Vorbereitung einer Demonstration und eines Treffens der europäischen Linken im Sinn einer sozialen und internationalistischen Alternative zur 1996 vorgesehenen Regierungskonferenz.

Der Wiederaufbau einer aktiven Arbeiterbewegung in Europa läuft in bescheidenem Maßstab an. Von unserer Seite bedarf es dafür erstens der Ausarbeitung programmatischer und politischer Grundlagen, die über unsere bisher ziemlich allgemeine Position hinausgeht (vgl. die Resolution "Zur Europäischen Union" für diesen Weltkongreß), um Einfluß auf die traditionelle Arbeiterbewegung nehmen zu können, und zweitens den Versuch einer politischen und praktischen Annäherung an die Strömungen der Linken, die sich gegen die Maastricht-Politik der EU bzw. der Regierungen der Mitgliedsländer aussprechen.

11.

Diese vielfältigen und per definitionem breit gefächerten Aktivitäten unserer Organisationen müssen im politischen Kampf zur Überwindung der politisch-programmatischen Zwangsjacke des Neoliberalismus (und des "Europaismus") der sozial- und christdemokratischen Parteiapparate ihre Einheit und Kraft finden. Die neoliberale Politik bezieht ihre Glaubwürdigkeit nicht aus der inhaltlichen Stärke oder der aktivistisch-organisatorischen Stärke der Sozialdemokraten, sondern aus der Schwäche des aktiven und radikalen Flügels der Arbeiter- und Sozialbewegung. Diese äußert sich im Gefühl der politischen Wirkungslosigkeit von Mobilisierungen und Kämpfen und damit von alternativen programmatischen Vorschlägen; ferner in dem allgemein schwindenden "sozialistischen" Bewußtsein der Bevölkerung, dem rückläufigen organisatorischen Engagement der praktischen Avantgarde und der ideologischen Schwächung der radikalen Linken. Gleichzeitig ist jedoch der Aktivitätsgrad der Arbeiterklasse, der Frauen und der Jugend auf einem angesichts der anhaltend schlechten sozioökonomischen Bedingungen außerordentlich hohen Niveau.

Im Rahmen dieser Grundtendenzen müssen wir unseren Beitrag leisten, damit die Arbeiter- und Sozialbewegung programmatisch wieder gestärkt wird. Das soll eine der zentralen Aufgaben für die Zeit nach dem Weltkongreß werden.

12.

Diese Aufgabe kann nicht losgelöst von den Umwälzungen gesehen werden, von denen die traditionelle Arbeiterbewegung erfaßt ist. Sie zeichnen sich durch folgende Grundzüge aus:

Angesichts der tiefen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, einer historisch für die traditionelle Arbeiterbewegung einmaligen Situation und der Möglichkeit neuer bedeutender Auseinandersetzungen darf sich die revolutionäre Linke, die selbst als politischer Faktor in der Arbeiterbewegung und in der Gesellschaft um ihr Überleben kämpft, nicht darauf beschränken, den Aufbau (kleiner Kerne) einer revolutionären Partei und das revolutionäre Programm zu propagieren, das der restlichen traditionellen Arbeiterbewegung inklusive ihrer reformistischen Spielarten gegenübersteht, oder Kampagnen durchzuführen, in denen zwar zur Einheitsfront aufgerufen wird, die aber in Wirklichkeit nichts anderes als ein Mittel der ideologischen und organisatorischen Selbstbestätigung sind.

Angesichts der Unwahrscheinlichkeit eines kurzfristig zu erwartenden Bruches mit der Sozialdemokratie und ihrer in den letzten 15 Jahren praktizierten neoliberalen, proeuropäischen Linie, angesichts der rückkehrenden Polarisierung zwischen der Führung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung, die noch fähig und entschlossen ist, für wichtige Sofortforderungen zu kämpfen, gibt es einen unmittelbarem tiefgehenden politischen Riß, der tief, umfassend und praktisch auf das tägliche Schicksal der Masse der ArbeiterInnen, der Frauen und der Jugendlichen einwirkt: die Alternative zwischen der heutigen neoliberalen Politik der Sozialdemokratie und einer Politik, die sich weigert, den Kampf für Sofortforderungen und radikale Reformen den neoliberalen Anmaßungen unterzuordnen und die sich den Grundlagen der Marktwirtschaft und ihren Institutionen entgegenstellt.

Zwischen der Sozialdemokratie und der revolutionären Linken hat sich eine breite, von ihrer Ideologie her reformistische Bewegung gebildet, die strategische Fragestellungen ablehnt oder ausklammert; das betrifft Themen wie die revolutionäre Krise, den Sturz der Bourgeoisie und die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse sowie die Organisierung der ArbeiterInnen-Avantgarde in einer revolutionären Partei auf der Grundlage eines entsprechenden Programmes. Diese Bewegung ist ein Ergebnis des Zerfalls der Sozialdemokratie und des Stalinismus, ist politisch heterogen und instabil, aber oft sehr repräsentativ für die aktuelle soziale Bewegung. In dem Maß, wie sich Teile dieser Bewegung der sozialdemokratischen Politik entgegenstellen und bereit sind, für radikale Reformen zu kämpfen, stellen sie ein äußerst wichtiges Element für den sozialen und politischen Kampf, für Wahlen, für die schrittweise Entstehung eines neuen antikapitalistischen und sozialistischen Programmes sowie für das Zusammenlaufen der Aktivitäten dar, mit denen die noch sehr unzusammenhängenden politischen Strömungen und sozialen Kräfte vereint werden können. Damit eröffnet sich nicht nur die Möglichkeit von Einheitsaktionen, sondern auch von einer Gesamtdiskussion im Zusammenhang mit der politischen Orientierung und die Notwendigkeit einer neuen politischen Formation der Arbeiterklasse.

Es ist für unsere Organisationen -- also revolutionär-marxistische Kerne -- von entscheidender, vitaler Bedeutung, uns in einer je nach Land geeigneten Form an diesem Prozeß der Umgruppierung der Arbeiter- und Sozialbewegungen zu beteiligen bzw. einen solchen zu initiieren.

13.

Unsere Organisationen und unser Funktionieren als Vierte Internationale in Europa müssen sich dieser neuen politischen Situation anpassen. Das bedeutet vor allem, in den kommenden Monaten an der Stärkung der Bindungen zwischen unseren Organisationen in Europa zu arbeiten. Angesichts der Schwäche des Potentials an AktivistInnen und materiellen Ressourcen der nationalen Organisationen und der schwächeren Beziehungen zwischen letzteren müssen wir unsere Analysen, unsere politischen und programmatischen Vorschläge, unsere politisch-intellektuellen Ressourcen auf elementarer Ebene zusammenführen, regelmäßig die finanziellen und materiellen Beiträge der nationalen Sektionen an das Zentrum der Internationale bezahlen und Informationen weitergeben, die Aktivitäten im Rahmen bereits bestehender Kampagnen ausweiten (insbesondere Bilanzen zu deren Schwächen ziehen) sowie alle Gelegenheiten ergreifen, die der Klassenkampf für gemeinsames Handeln bietet. Diese Stärkung auf elementarer Ebene ist in der aktuellen Situation gleichsam zu einer Grundbedingung geworden, ohne die alle Vorschläge zu Kampagnen für Aktionen auf europäischer Ebene nichts als Rhetorik sind. In organisatorischer Hinsicht muß den jährlichen Sitzungen der europäischen Politbüros und den Treffen des Europäischen Sekretariats (zweimal jährlich) Priorität eingeräumt und ein regelmäßiges Informationsnetz zwischen den Sektionen und der Führung der Internationale aufgebaut werden.

(Mit 65,5% Jastimmen auf dem Weltkongreß angenommen; Gegenstimmen: 15,5%, Enthaltungen: 14,0%, Nichtteilnahmen: 5,0%)

Veröffentlicht durch Inprekorr (Internationale Pressekorrespondenz).
Siehe auch die Resolution Zur Europäischen Union sowie die übrigen Resolutionen des Weltkongresses.


[1], Auf Einzelinteressen gerichtet.