Theorie

Antizionismus = Antisemitismus?

Was steckt hinter dieser Gleichung?

Kritik an der israelischen Staatsführung und dem geschlossenen Marsch nach rechts aller staatstragenden Parteien und an deren Annexions- und Unterdrückungspolitik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung wird nahezu unisono unter den Generalverdacht des Antisemitismus gestellt und mundtot gemacht. Daher veröffentlichen wir einen Vortrag des Autors bei der Sommeruniversität der französischen NPA, in dem diese Entwicklung in Frankreich scharf kritisiert wird. Die Parallelen zu anderen Ländern wie England oder Deutschland sind unübersehbar.

Dominique Vidal

Mein neuestes Buch mit dem Titel Antizionismus = Antisemitismus? trägt den Untertitel Antwort auf Emmanuel Macron. Es geht dabei keineswegs um eine stilistische Frage. Ich beschloss, es am 16. Juli zu schreiben, nachdem ich die Rede des Präsidenten der Republik zum Gedenken an den 75. Jahrestag des Überfalls auf Vel d‘Hiv gehört hatte. Nicht nur hat er erstmals den israelischen Premierminister zu dieser Zeremonie eingeladen und ihn seinen „lieben Bibi“ genannt, sondern am Ende seiner (ausgezeichneten) Rede geäußert: „Wir werden dem Antizionismus nicht nachgeben, denn er ist die moderne Form des Antisemitismus.“

Noch nie zuvor hat ein französischer Präsident, nicht einmal Nicolas Sarkozy oder François Hollande, diese befremdliche Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus aufgegriffen. Befremdlich insofern als er alles in einen Topf wirft: ein Verbrechen – den judenfeindlichen Rassismus, der vom Gesetz wie alle anderen Formen des Rassismus unter Strafe steht – und eine Meinung, die in Abrede stellt, dass eine Assimilation der Juden unmöglich und folglich ein Staat notwendig sei, in dem sie [die in der Welt verstreuten Juden, (Anm. d. Red.)] sich alle wiederfinden könnten, und die darüber hinaus die Politik dieses Staates infrage stellt.


Ein rückläufiges Phänomen …


Der Antijudaismus und später der Antisemitismus sind Teil der europäischen Geschichte, notabene mehr noch als in der arabischen Welt. Jahrhunderte lang führten sie zu Diskriminierungen, Vertreibungen und Massakern, etwa während der Kreuzzüge, aber auch – vor allem im 19. Jahrhundert – während der „Pogrome“ des Zarenreichs. Diese Verfolgungen erreichten ihren Höhepunkt mit dem nationalsozialistischen Völkermord, der sicherlich auch andere Gruppen (Zigeuner, psychisch Kranke, Slawen etc.) betraf, in dem die Juden jedoch die einzige Gruppe bildeten, die bis zurletzten Person getötet werden sollte: Die Hälfte der Juden Europas, ein Drittel der jüdischen Bevölkerung der Welt, wurde dabei vernichtet.

In Frankreich, wo das Vichy-Regime und seine Polizei aktiv an der Deportation von 75 000 Juden mitgewirkt haben (von insgesamt 330 000 französischen und ausländischen Juden, was immerhin für die Solidarität spricht, die ihnen dennoch zuteilwurde), ist der Antisemitismus seit dem Krieg stetig zurückgegangen. Nach allen Umfragen stellt er heute eine randständige Ideologie dar, während die Islamophobie nahezu Konsens ist.

Der beste Beweis dafür ist zunächst die Antwort unserer Landsleute auf die Frage „Sind Juden ‚Franzosen wie alle anderen‘?“. 1946 antwortete nur ein Drittel mit Ja. Siebzig Jahre später – laut einer IPSOS-Umfrage – liegt der Anteil tatsächlich bei 92 Prozent! Darüber hinaus glauben 93 %, dass „es keine Entschuldigung für eine antisemitische Handlung oder Äußerung geben kann“. Diese Befragungsergebnisse sind umso wichtiger, als zugleich die Ablehnung der Muslime wächst. Nicht nur, dass 36 % der Befragten (+12 in einem Jahr) sie für „schlecht integriert“ halten, sondern 83 % geben ihnen die Schuld dafür, weil sie „sich zurückzögen“ und sich weigerten, „sich gegenüber der Gesellschaft zu öffnen“. Dem gegenüber sind es bloß 17 %, die auf die Verantwortung der Gesellschaft dafür verweisen.

Andererseits – und dies ist die zweite Feststellung – beobachten die Forscher, dass sich bestimmte Vorurteile gegenüber den Juden halten, auch wenn sie rückläufig sind: 52 % der Franzosen denken, dass „die Juden Israel mehr verbunden sind als Frankreich“, 52 %, dass „die Juden viel Macht haben“, 51 %, dass „die Juden reicher sind als durchschnittliche Franzosen“, und 38 %, dass „die Juden in den Medien ein wenig zu stark vertreten sind“. Aber es gibt auch Vorurteile – und wie viele! – gegen Korsen, Bretonen oder Auvergnaten: Sprechen wir deshalb von korsen-, bretonen- oder auvergnatenfeindlichem Rassismus?

Drittens kam es in Frankreich jedoch Anfang der 2000er Jahre zu einem regelrechten Ausbruch judenfeindlicher Gewalt. Die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) veröffentlicht jedes Jahr einen Bericht unter dem Titel Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, der die Entwicklung rassistischer Handlungen und Bedrohungen verfolgt. Diese Kategorie der „Bedrohung“ umfasst sowohl eine beleidigende E-Mail als auch einen anonymen Brief oder ein Graffiti auf öffentlichen Wegen. Daher beziehen wir uns lieber auf die „Handlungen“. Im Jahr 2002 hat sich die Zahl der letzteren im Vergleich zu 2001 vervierfacht, und die Zahl der antisemitischen Handlungen sogar versechsfacht. Seit 2003 ist jedoch ein starker Rückgang der antisemitischen Gewalttaten (-36 %) und anderer rassistischer Gewalttaten (-23 %) zu verzeichnen.

Dieser Rückgang setzte sich – unterschiedlich stark – in den Folgejahren fort, was Gewalttaten gegen Juden anlangt. Andererseits halten sich rassistische Gewalttaten und besonders solche gegen Muslime auf hohem Niveau und sind 2015 im Zusammenhang mit den Terroranschlägen regelrecht explodiert (+ 200 %). Im Jahr 2016 sind sie wiederum um fast 60 % gesunken und auch 2017 erneut rückläufig gewesen: 121 islamophobe Vorfälle (-34,5 %), 311 judenfeindliche Vorfälle (–7,2 %) und 518 andere rassistische Vorfälle (–14,8 %). Allerdings haben die Gewalttaten im eigentlichen Sinn zugenommen: 72 gegen Muslime (67 im Jahr 2016) und 97 gegen Juden (77 im Jahr 2016).


… dem dennoch weiterhin Aufmerksamkeit gebührt


Manche Intellektuelle sprechen seit etwa fünfzehn Jahren gar von einem „muslimischen Antisemitismus“. Diese These war sogar Gegenstand eines Prozesses, wobei der Historiker Georges Bensoussan in der Sendung „Répliques“ von Alain Finkielkraut den Soziologen Smaïn Laacher falsch zitiert hatte, nämlich dass dieser behauptet habe, dass „in arabischen Familien [....] Antisemitismus mit der Muttermilch aufgesogen wird“. Obwohl er von der Anklage wegen „Aufstachelung zum Rassenhass“ freigesprochen wurde, hat der Direktor der Schoah-Gedenkstätte Bensoussan dennoch vom Hohen Rat für audiovisuelle Medien (CSA, eine Art von Aufsichtsbehörde) eine Verwarnung erhalten, da dieser der Ansicht war, dass „bestimmte Bemerkungen von Herrn Bensoussan […] diskriminierendes Verhalten fördern könnten“.

Abgesehen von solchen Entgleisungen wurde diese Debatte durch eine Umfrage der Stiftung für politische Innovation aus dem Jahr 2014 angeheizt, die heftige Reaktionen hervorgerufen hat. So forderte die Soziologin und Politologin Nonna Mayer in Le Monde dazu auf, „rigoros gegen den Antisemitismus die Stimme zu erheben“. Neben ihrer strengen methodischen Kritik mahnte die Forscherin an, dass „der Begriff des ‚neuen Antisemitismus‘ viel allgemeiner gefasst werden müsste“, nämlich so, wie er insbesondere durch „die Arbeiten von Pierre-André Taguieff“ definiert ist. Denn letzterer, so Nonna Mayer, „sieht einen Antisemitismus, der hinter der Kritik an Israel und dem Zionismus im Namen des Antirassismus und der Menschenrechte verborgen ist und sowohl vom radikalen Islamismus als auch von den linksextremen Ideologien über die Befreiung der Dritten Welt getragen wird“.

Alle diese oben genannten Zahlen geben jedoch nicht die ganze Realität wieder, nämlich das, was die Betroffenen erlebt haben. Zumal zum ersten Mal seit 1945 wieder Anfang dieses Jahrhunderts Juden als solche ermordet wurden: die vier jüdischen Opfer von Mohammed Merah, die vier Märtyrer des Koscher-Supermarkts, aber auch Ilan Halimi, Lucie Attal-Halimi und Mireille Knoll. Auch wenn die Motive der Mörder komplexer waren – abscheuliche Morde oder gar Taten von Wahnsinnigen – werden sie zuvörderst als antisemitisch wahrgenommen.

Das bedeutet, dass der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus notwendiger denn je ist. Und dass er dauernde Wachsamkeit erfordert. Jede Aufstachelung zum Rassenhass und jede Leugnung der Verbrechen des Nationalsozialismus müssen bekämpft und bestraft werden. Unter diesem Aspekt liefern die Antirassismusgesetze von 1881 und 1972, das Gayssot-Gesetz von 1990 und das Strafgesetzbuch ein wirksames juristisches Arsenal.

Dieses muss jedoch auch angewendet werden. Jahrelang konnten Leute wie Dieudonné oder Soral mit ihrem Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus ungestraft kokettieren. Außer den Provokationen dieser ehemaligen Linken, die stramm nach rechts marschiert sind, gab es freilich auch verbale Entgleisungen, die seitens bestimmter selbsternannter Vertreter der palästinensischen Sache begangen oder hingenommen wurden. Hier zur Klarheit: Gegenüber solchen Anschuldigungen müssen Aktivist*innen, die sich als antizionistisch verstehen, größte Wachsamkeit walten lassen. Jeder „Ausrutscher“ wird ihnen teuer zu stehen kommen und, abgesehen von ihrer Person, auch dem Anliegen, für das sie eintreten.

Soviel zum ersten Begriff von Macrons Gleichung.


Zionismus und Antizionismus in der Geschichte


Kommen wir auf den zweiten zu sprechen. Historisch gesehen führte der wachsende Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts auch zur Geburt des Zionismus. Angesichts der Pogrome von 1881/82 in Russland und später als unmittelbarer Augenzeuge der Affäre um Hauptmann Dreyfus 1895 in Paris, kam Theodor Herzl zu dem Schluss, dass Juden immer Fremdkörper bleiben (nicht assimilierbar sind) – selbst in dem Land, das sie als erstes emanzipiert hat – und dass sie deshalb über einen eigenen Staat verfügen müssen. 1896 veröffentlichte er den Judenstaat und berief im Folgejahr den Ersten Weltzionistenkongress ein: „Der Zionismus oder vielmehr sein Programm erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“ Der Gründer der Bewegung übersieht dabei, dass in diesem Land ein indigenes arabisches Volk lebt, das damals 90 % der dortigen Bevölkerung ausmachte, und dass der Zionismus ihnen nach und nach alle ihre Rechte nehmen würde.

Zwanzig Jahre nach dem Basler Kongress erklärte sich das Vereinigte Königreich in der Balfour-Deklaration mit dem Ziel einverstanden, eine jüdische „nationale Heimstätte“ in Palästina, das ihm ab 1922 als Mandatarmacht unterstand, zu schaffen. Aber bis zum Zweiten Weltkrieg und trotz der britischen Bemühungen stießen die Erben von Herzl bei den Juden kaum auf Resonanz: Die meisten jüdischen politischen Bewegungen waren gegen diese Pläne. Für die jüdischen Kommunisten lag die Lösung der jüdischen Frage in der sozialistischen Revolution. Lenin prangerte bereits 1903 den jüdischen Nationalismus an: „Die wissenschaftlich völlig unhaltbare Idee eines besonderen jüdischen Volkes ist ihrer politischen Bedeutung nach reaktionär.“ Für den bolschewistischen Führer ist „in ganz Europa […] der Verfall des Mittelalters und die Entwicklung der politischen Freiheit Hand in Hand gegangen mit der politischen Emanzipation der Juden, mit ihrem Übergang vom Jiddischen zur Sprache desjenigen Volkes, in dessen Mitte sie leben, und überhaupt mit einem zweifellosen Fortschreiten ihrer Assimilierung an die sie umgebende Bevölkerung.“ [1]

Deshalb polemisierte Lenin damals auch gegen den Bund, den Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, obwohl der auch gegen die Gründung eines jüdischen Staates war. Die Lösung der „Judenfrage“ lag für diese sozialdemokratische Bewegung darin, dass die Juden in den Ländern, in denen sie lebten, eine kulturelle Autonomie erlangten. Die Bundisten glaubten, dass die Kultur den Juden als Zement dienen müsse und nicht ein Staat oder ein Territorium. Sie betrachteten den Zionismus „als eine Reaktion der bürgerlichen Klasse gegen den Antisemitismus und die abnormale Situation des jüdischen Volkes. Der politische Zionismus, der darauf abzielt, ein Territorium für das jüdische Volk zu schaffen, kann nicht für sich beanspruchen, die jüdische Frage damit zu lösen […] oder das Volk als Ganzes zufrieden zu stellen.“

Die Jüdisch-Orthodoxen wiederum sind strikt gegen den Zionismus. Sich einen jüdischen Staat vor der Ankunft des Messias vorzustellen, ist für sie schlicht und ergreifend Blasphemie. Nur die religiöse Bewegung Mizrachi sieht keinen Widerspruch zwischen dem Glauben und der Vision von Herzl. Erst 1949 verständigte sich ein nennenswerter Teil der Orthodoxen auf einen Kompromiss mit dem jungen Staat Israel – für sie ein sogenannter „Status quo“, der die gegenseitigen Verpflichtungen von Staat und Religion definierte. Durch erzwungene Konzessionen würde der Staat der Religion immer mehr Raum zugestehen. Mittlerweile stellt nur noch eine Minderheit der Ultraorthodoxen die Existenz des Staates Israel in Frage.

Umgekehrt sparten auch Herzl und seine Nachfolger nicht an Kritik gegenüber den Orthodoxen: Für sie hat die Religion das jüdische Volk in eine passive Herde verwandelt, die ihre Erlösung und Emanzipation bloß in der Ankunft des Messias sieht, die dann dem jüdischen Volk die Rückkehr in seine historische Heimat ermöglichen würde – also infolge einer göttlichen Fügung und nicht eines von den Menschen gefassten politischen Ziels.


Der jüdische Genozid


Die Zahlen sprechen für sich: Die überwiegende Mehrheit der Juden, die Mittel- und Osteuropa verließen, ging nach Westeuropa und mehr noch in die USA – etwa 3,5 Millionen von 1881 bis 1924. Im Gegensatz dazu lebten in dem britisch verwalteten Palästina zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nur 460 000 Juden, was damals 2,9 % der jüdischen Weltbevölkerung entsprach.

Ein großer Teil der Eingewanderten kam aus Deutschland. Der Aufstieg des Nationalsozialismus forcierte die jüdische Auswanderung nach Palästina: Von 1932 bis 1939 stieg sie auf 247 000 oder 30 000 pro Jahr, viermal mehr als seit dem Ende des Ersten Weltkriegs! Ursächlich dafür war weniger eine „bewusste Entscheidung für den Zionismus“ als eine Flucht vor der Verfolgung, die durch das so genannte Transfer-Abkommen ermöglicht wurde, das die Zionistische Weltorganisation am 25. August 1933 mit der NS-Regierung abgeschlossen hat: Im Gegensatz zu anderen, die keine Mark in der Tasche hatten, konnten deutsche Juden, die nach Palästina gingen, dort einen Teil ihres Vermögens in Form von Waren zurückbekommen, die aus dem Deutschen Reich exportiert wurden. Mehrere zehntausend deutsche Juden konnten so ihr Leben retten. Für einen jedoch sollte dieses Abkommen seinen ganz besonderen Preis haben, nämlich für den zionistischen Verhandlungsführer Haïm Arlosoroff, der am 16. Juni 1933 am Strand von Tel Aviv ermordet wurde.

Nicht etwa, dass Hitler zum Zionismus konvertiert wäre. Das NS-Regime hatte sich lediglich in seinen Anfangsjahren noch nicht auf die „Endlösung der Judenfrage“ festgelegt. Zunächst einmal ging es ihm darum, die Juden aus der deutschen Gesellschaft auszuschließen und sie zur Auswanderung zu bewegen. Im zweiten Schritt kamen die Massendeportationen dran: zuerst nach Madagaskar, dann nach Polen und schließlich nach Sibirien. Der eigentliche Völkermord wurde erst nach der Invasion der UdSSR am 22. Juni 1941 forciert.

Der Nazi-Genozid stellte alles auf den Kopf. Sechs Millionen Juden wurden vernichtet und Hunderttausende von Überlebenden konnten nicht nach Hause zurückkehren. Washington verweigert ihnen jedes Visum. Viele wanderten nach Palästina und dann nach Israel aus, während durch den Krieg 1947–1949 von dort 800 000 Araber vertrieben wurden. Wie in der Zwischenkriegszeit taten die Juden, die dorthin gingen, dies weniger infolge einer „bewussten Entscheidung für den Zionismus“, sondern weil sie sich dazu verpflichtet hatten oder aus Berechnung, egal ob es sich um arabische Juden oder solche aus der Sowjetunion handelte.

In beiden Fällen ist die jüdische Einwanderung (Alija) durch besondere Umstände bedingt. Bei den arabischen Juden sind die Gründe für die Auswanderung von Land zu Land unterschiedlich. Einige wurden vertrieben, wie in Ägypten. Andere wurden von den israelischen Behörden „importiert“, aus Marokko, Jemen, Äthiopien und größtenteils dem Irak. Von Algerien aus gingen die meisten Juden nach Frankreich, dessen Staatsbürger sie waren. Nur wenige all dieser Einwanderer aus den 1940er bis 1970er Jahren gingen aus ideologischen Gründen nach Israel. Das Gleiche gilt für die sowjetischen Juden, von denen ein großer Teil übrigens gar keine Juden waren, denn das Verbot der jüdischen Glaubensausübung machte es schwierig, Juden als solche zu identifizieren. Die meisten dieser Ankömmlinge nutzten die Vereinbarung zwischen Michail Gorbatschow und Jitzchak Schamir, aus der UdSSR auszureisen, ohne freilich zu wissen, dass der israelische Premierminister dafür gesorgt hatte, dass sie gar nicht nach Europa oder in die USA weiterreisen konnten, wie es viele eigentlich geplant hatten.

Siebzig Jahre nach seiner Gründung und nach mehreren Einwanderungswellen hat Israel 6,5 Millionen jüdische Einwohner und mit den besetzten Gebieten die gleiche Zahl von Palästinensern. Das bedeutet, dass die Mehrheit der weltweit 16 Millionen Juden immer noch anderswo lebt. Darüber hinaus assimilieren sich diese in den westlichen Ländern dadurch, dass sie mehrheitlich Nichtjuden heiraten. Und Hunderttausende Israelis haben ihr Land verlassen, wo sie nicht mehr leben – allein in Berlin gibt es mehr als 100 000 von ihnen. Selbst unter den Juden in unserem Land, die in den letzten Jahren infolge der antisemitischen Umtriebe nach Israel gegangen sind, ist ein großer Teil nach Frankreich zurückgekehrt.


Ein Imageschaden


Müssen etwa all die Juden, die generationenlang dem Ruf des Zionismus nach Israel widerstanden, als Antisemiten gelten? Oder vielmehr bloß als Bürger, die es vorgezogen haben, ihr Leben weiter in ihrer langjährigen oder angenommenen Heimat zu führen? Historisch gesehen ist die Redewendung des Präsidenten der Republik daher absurd.

In Frankreich herrscht ein durchaus realistisches Bild von Israel. Laut der jüngsten Meinungsumfrage haben 57 % ein „schlechtes Bild von Israel“ (68 % bei den unter 35-Jährigen), 69 % ein „schlechtes Bild vom Zionismus“ (74 % bei den unter 35-Jährigen) und 71 % glauben, dass „Israels Weigerung, mit den Palästinensern zu verhandeln, verantwortungslos ist“ (68 % bei den unter 35-Jährigen). Die allerneueste Umfrage ergab, dass 67 % der Befragten dafür sind, dass „Präsident Macron ausdrücklich mögliche Sanktionen beim Treffen mit Benjamin Netanjahu ansprechen sollte“. Sind sie deswegen antisemitisch? Nein, natürlich nicht. Die erwähnte Studie firmiert unter dem Titel „Ein Antizionismus, der nichts mit Antisemitismus zu tun hat“. Dabei sind die Anhänger von France Insoumise und der Kommunistischen Partei sowohl am kritischsten gegenüber der israelischen Politik als auch zugleich am empathischsten gegenüber den Juden Frankreichs. Die Schlussfolgerung der Studie lautet, „dass es auf individueller Ebene keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Antizionismus gibt“. „Zwar hängen beide Einstellungen miteinander zusammen, aber meistens betreffen sie unterschiedliche Individuen“. Das Fazit von Brice Teinturier, der die Umfrage auf der Akadem-Website präsentiert, lautet: „Man kann also nicht vereinfacht und überspitzt behaupten, dass die eine Haltung die andere bloß kaschiert.“

Nicht nur, dass Macrons Äußerung unsinnig ist, sie birgt auch politisch eine ernste Gefahr für die Meinungs- und Gedankenfreiheit. Das Manöver der israelischen Politiker und ihrer Adepten in Frankreich ist durchsichtig: Sie versuchen, jede Kritik an ihrer Politik zu kriminalisieren, weil sie wissen, dass sie isoliert sind. Dies zeigt sich darin, dass der Staat Palästina immer mehr offiziell anerkannt wird, zunächst von der UNESCO (2011), dann von der UN-Vollversammlung (2012) und sogar vom Internationalen Strafgerichtshof (2015). Vor einigen Wochen stimmte die UN-Vollversammlung mit 176 zu 7 Stimmen (Kanada, USA, Israel, Israel, Marshallinseln, Föderierte Staaten von Mikronesien, Nauru und Palau) bei 4 Enthaltungen (Kamerun, Honduras, Togo, Tonga) für die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes.

Und diese Isolierung wird wohl nicht abnehmen, denn die rechte bis rechtsextreme Regierung in Tel Aviv befindet sich auf einem beunruhigenden Radikalisierungskurs. Sie nutzt die Unterstützung der Trump-Regierung und ihr Bündnis mit Saudi-Arabien gegen den Iran, um von der forcierten Kolonisierung zur Annexion überzugehen. Von der Knesset sind diesbezüglich mehrere Gesetze verabschiedet worden oder stehen vor der Verabschiedung. Letztendlich wird Tel Aviv die sogenannte Zwei-Staaten- Lösung zugunsten eines einzigen Staates begraben, in dem die gemeinsam mit ihrem Landbesitz annektierten Palästinenser*innen kein Wahlrecht hätten, sondern einen Apartheidstatus.

Das neue Grundgesetz, das derzeit in der Knesset verabschiedet wird, symbolisiert diesen Wendepunkt. In der Version von 1992 wurde Israel als „jüdischer und demokratischer Staat“ definiert: Der in erster Lesung angenommene Entwurf spricht nunmehr vom „Nationalstaat des jüdischen Volkes“. Und weiter: „Das Recht auf nationale Selbstbestimmung im Staat Israel steht nur dem jüdischen Volk zu.“ Darüber hinaus wird dem Arabischen sein Status als „Staatssprache“ entzogen und nur noch dem Hebräischen vorbehalten sein. Kurzum wird hier ausdrücklich die Unabhängigkeitserklärung aufgehoben, in der es am 14. Mai 1948 hieß, dass der neue Staat „sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen wird. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten …“

Leider haben diese Politiker durchaus eine Basis in der Bevölkerung: Umfragen zufolge hält es die Hälfte der Befragten nicht für „klug“, weiter die Kolonisierung des Westjordanlandes zu betreiben, und 53 % lehnen dessen Annexion ab. Aber nur 24 % glauben, dass die Palästinenser im Falle einer Annexion das Wahlrecht haben sollten und 30 % würden ihnen einen „Einwohnerstatus“ zugestehen. Israels Image in der Weltöffentlichkeit wird sicher nicht besser werden, wenn das Land von der Kolonisation zur Annexion der Palästinensergebiete übergeht.

Daher wollen die extremen Rechten in Israel und ihre Gewährsleute in Frankreich jeden Protest unterbinden. In erster Linie soll dafür die Kampagne Boykott-Desinvestment- Sanktion (BDS) an den Pranger gestellt werden. Da es kein Gesetz gibt, das diese verbietet, stützen sich die Zensoren auf einen von Michèle Alliot-Marie unterzeichneten Ministerialerlass, der von einigen wenigen Staatsanwälten befolgt wird. Und weiterhin auf ein Urteil des französischen Kassationsgerichtshofs, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allerdings noch kassiert werden kann. Zumal die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, immer wieder betont: „Die Europäische Union tritt konsequent für den Schutz der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit ein, im Einklang mit der Charta der Grundrechte, die für das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gilt, was auch die Aktivitäten der BDS-Kampagne dort einschließt.“


Auf dem Weg zu einem Verbot?


Ein zweites Ziel wäre ein Verbot des Antizionismus im engeren Sinn, was durch Macrons Rede in Reichweite gerückt sein könnte. Im vergangenen November forderte Francis Kalifat, Präsident des Dachverbands der jüdischen Organisationen Frankreichs (CRIF), den Premierminister auf, die „Arbeitsdefinition (der Internationalen Allianz zur Erinnerung an den Holocaust – IHRA [Anm. d. Autors]), die den Antizionismus als neue Form des Antisemitismus ansieht, in französisches Recht umzusetzen“.

Diese Arbeitsdefinition vom 26. Mai 2016 bezeichnet den Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/ oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.”

In einer Art Gebrauchsanweisung heißt es weiter: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“ Es geht dann aber weiter: „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“

Der Begriff der Vergleichbarkeit wirft ein offensichtliches Problem auf: Wie soll man Staaten gleichbehandeln, die nicht gegen das Völkerrecht oder die Menschenrechte verstoßen, und solche, die – wie Israel – beides offensichtlich verletzen? Die Besetzung und Kolonisierung der palästinensischen Gebiete in den letzten fünfzig Jahren treten sowohl die Genfer Konventionen als auch die UN-Resolutionen mit Füßen. Das Europäische Parlament hat die genannte Resolution dennoch am 1. Juni 2017 angenommen.

Wäre die Gesetzesvorlage, den Antizionismus zu verbieten, nicht ein derart schwerwiegendes Vorgehen, könnte man darüber beinahe lachen. Man stelle sich vor, die Kommunisten forderten das Verbot des Antikommunismus, die Gaullisten das Verbot des Anti-Gaullismus, die Neoliberalen das Verbot der Globalisierungskritik? Das vorgebrachte Ansinnen der Ultrazionisten zeugt von einem Gedankengut, das man nur als totalitär bezeichnen kann.

Sollte dieses Gesetzesprojekt Gestalt annehmen, würde es vom Verfassungsrat höchstwahrscheinlich unterbunden werden. Andernfalls wäre es das erste Mal seit dem Algerienkrieg, dass in Frankreich wieder Meinungsdelikte existieren. Leider bin ich alt genug, um mich an die geschwärzten Zeitungsseiten zu erinnern, die durch die Zensur gegangen waren.

      
Mehr dazu
Paul B. Kleiser: Antizionismus gleich Antisemitismus?, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021)
Walter Wiese: Zur Verunglimpfungskampagne des BDS-Aufrufs als antisemitisch, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Jakob Taut: Über den Charakter des Zionismus und der palästinensischen Befreiungsbewegung, Inprekorr Nr. 342 (April 2000)
 

In Artikel 10 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 heißt es jedoch: „Niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, beunruhigt werden, solange ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört.“ Im ersten Artikel der Verfassung der Fünften Republik heißt es, dass Frankreich „alle Überzeugungen respektiert“. Und die Europäische Menschenrechtskonvention ihrerseits hält in ihrem Artikel 9 fest: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.“

Diese Debatte geht also offensichtlich über die Probleme des israelisch-palästinensischen Konflikts hinaus. Sie könnte sogar unsere Freiheiten gefährden. Dies ist zweifellos auch der Grund, warum die Exekutive zurückzurudern scheint. Bei einer Veranstaltung des CRIF am 7. März griff Emmanuel Macron seine Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus auch nicht wieder auf. Auch sein Premierminister Édouard Philippe, der sich diese Position im Oktober 2017 zueigen gemacht hatte, verlor kein Wort mehr darüber, als er am 19. März 2018 den Jahresplan der Regierung gegen Rassismus und Antisemitismus vorlegte.

Bedeutet das, dass sich der Kampf gelohnt hat? Um dies zu beantworten, wird es wohl weiter erforderlich sein, diesen Kampf entschlossen und gelassen fortzusetzen.

Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2019 (Mai/Juni 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Lenin Werke Bd. 7, S. 90 ff