Oktober 1923

Hat es 1923 in Deutschland eine revolutionäre Situation gegeben?

Der hier abgedruckte Text von Pierre Frank ist seiner zweibändigen „Geschichte der Kommunistischen Internationale(Frankfurt: isp-Verlag, 1981; Bd I, S. 292–302) entnommen. Die Rechtschreibung haben wir – soweit es nicht Zitate aus historischen Texten betrifft – der neuen Schreibweise angepasst.

Pierre Frank

Die meisten Historiker stellen fest, dass die revolutionäre Welle – nachdem sie während des Krieges 1917 im zaristischen Russland stürmisch aufgetaucht und der Kapitalismus an seinem schwächsten Kettenglied gebrochen war – sich ab 1918 in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, ausbreitete. Die revolutionären Entwicklungen der damaligen Zeit in den kolonialen und halbkolonialen Ländern waren, wenn auch nicht unbedeutend, so doch sehr begrenzt, vor allem im Vergleich mit denen, die auf den Zweiten Weltkrieg folgten. Der Unruheherd der sozialistischen Weltrevolution lag damals in Deutschland; folglich standen die Probleme der deutschen Revolution im Zentrum der Debatten aller Kongresse der KI [Kommunistischen Internationale], bis einschließlich ihres fünften. Jeder Kongress der Internationale fiel in gewissem Sinne mit einer Etappe der deutschen Revolution zusammen. Der I. Kongress folgte auf den Spartakus-Aufstand und die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Der II. trug zum Entstehen einer deutschen kommunistischen Massenpartei durch den Beitritt einer Mehrheitsfraktion der USPD bei. Der III. Kongress, weitgehend der „Märzaktion” gewidmet, verurteilte eine durch Ungeduld einer Tendenz innerhalb der KI hervorgerufene ultralinke Taktik und stimmte der Einheitsfronttaktik zu; der IV. nahm durch die Behandlung der Frage der Arbeiterregierung diese wieder auf. Bis dahin waren die Kongresse der KI, auf denen Lenin und Trotzki den ersten Platz einnahmen, die Stätte offener und lebhafter Debatten, um eine eindeutige Richtung festzulegen. Die Fortschritte bei den Gedankengängen der KI von einem Kongress zum andern sind erkenntlich; die Fehler werden, manchmal nur mühsam, korrigiert. Dann traten die Ereignisse vom Oktober 1923 in Deutschland ein und die Dinge änderten sich. Der V. Kongress nahm eine Analyse der Ereignisse von 1923 und der Perspektiven für Europa vor, die sich sehr schnell als falsch herausstellte; es sollte jedoch in der Folgezeit nicht die geringste Selbstkritik geben.

Führer einer revolutionären Partei können keine revolutionäre Situation herbeischaffen; sie können sie nur, wenn sie vorhanden ist, benutzen, um sie zu einem siegreichen Ende zu bringen, oder die Gelegenheit verpassen. Die Geschichte der Kämpfe, in denen die Arbeiterklasse in Europa sich gegen das kapitalistische Regime erhoben hat, lässt das Vorhandensein zyklischer Abläufe erkennen – Perioden revolutionären Aufschwungs und Perioden des Abschwungs. Die größten Marxisten haben nicht gezögert, Vergleiche – die natürlich nur in den gegebenen Grenzen gültig sind – zwischen diesen Erscheinungen und bestimmten Naturerscheinungen anzustellen. Es scheint, dass die Arbeiterklasse jahrelang Energie ansammelt; danach kommt es zum Freiwerden dieser Energie im Laufe von Perioden, wo gewaltige Demonstrationen, riesige Streiks stattfinden, wo ein Wille zum Kampf in der gesamten Klasse sichtbar wird, auch in Schichten, die bis dahin nur sehr wenig Kampfbereitschaft bei den Tagesforderungen gezeigt hatten. Auch wenn diese Zyklen nur wenig untersucht worden sind, ist ihr Vorhandensein nichtsdestoweniger gewiss. Man ist in Europa dem Zyklus begegnet, der dem Ersten Weltkrieg entstammte, man hat einen anderen – begrenzteren und schwächeren – von 1935 bis 1937 beobachtet, einen, der auf den Zweiten Weltkrieg folgte (von 1943 bis 1948) und schließlich jenen, der spektakulär mit dem Mai 1968 in Frankreich begonnen hat. Innerhalb ein und derselben Aufschwungperiode kann es eine oder mehrere revolutionäre Krisen und Situationen geben, solange die in den Massen gespeicherte Energie nicht durch Niederlagen vernichtet oder in ausweglosen Kämpfen verschwendet worden ist.

Niemand bestreitet die Existenz der revolutionären Welle, die in Russland 1917 begann und sich über Mittel- und Osteuropa ausbreitete. Was ist mit dieser Welle geschehen, wie hat sie sich erschöpft und wann ist sie verschwunden? Nach der schweren anfänglichen Erschütterung von 1919 und den ersten Monaten von 1920 hatte sich die Bourgeoisie, die überrumpelt worden war, wieder gefasst, aber sie hatte keineswegs die Arbeiterklasse in allen Ländern Mittel- und Osteuropas besiegt, vor allem nicht in Deutschland. Unbestreitbar blieb die kapitalistische Gesellschaft noch sehr anfällig, und das Jahr 1923 war ein ausgesprochenes Krisenjahr. Aber nach dem Oktober 1923 durchlebte der europäische Kapitalismus mehrere Jahre wirtschaftlicher Konjunktur und politischer Stabilität. Insbesondere der deutsche Kapitalismus wies eine eindrucksvolle Wiederbelebung auf. Vor dem Auftreten der Krise 1929 gingen die Massenkämpfe in Europa nicht mehr über den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft hinaus, die demokratischen und pazifistischen Illusionen wurden gestärkt. Hätte es 1923 keine revolutionäre Situation gegeben, wäre das Zurückweichen von Chemnitz nur von relativer Bedeutung gewesen, später hätten sich andere revolutionäre Situationen ergeben (wie es der V. Kongress voraussah). Wenn man sich jedoch einer revolutionären Situation gegenüber befunden und sie verpasst hatte, konnte das nur verhängnisvoll sein: Eine revolutionäre Partei versäumt nicht ungestraft eine Gelegenheit und kann den Folgen eines derartigen Versagens nicht entgehen; hinterher gar eine Vogel-Strauß-Politik betreiben, kann die Lage nur verschlimmern. Das passierte der KPD.

 

Reichskanzler Cuno (l.) und Reichspräsident Ebert

Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1973-076-58 / CC-BY-SA 3.0

Die KI nahm niemals wieder eine echte Diskussion über das Jahr 1923 auf. Das taten nur entweder zu verschiedenen Zeitpunkten aus der KI ausgeschlossene Oppositionelle oder Historiker. So meint E.H. Carr, das „deutsche Fiasko” (wie er es sehr treffend nennt) sei, seiner Meinung nach, nicht so sehr wegen der Politik der KI und der KPD unvermeidbar gewesen, sondern wegen der bestehenden militärischen Kräfteverhältnisse, vor allem wegen des Missverhältnisses zwischen den Truppen der Reichswehr und den proletarischen Hundertschaften. Dieses Missverhältnis bestand; stellt man die Frage jedoch so, dann sieht man sie nur unter einem Gesichtspunkt, nämlich dem „technischen”, unter dem die Arbeiterklasse ganz allgemein im Verhältnis zur Bourgeoisie stark benachteiligt ist. Man kann an die Grundfrage nicht besser herangehen, als wenn man die am stärksten ausgearbeiteten und entgegengesetzten Standpunkte untersucht – auf der einen Seite den Trotzkis in den Jahren, die auf die Ereignisse folgten, auf der anderen den von Thalheimer im Jahre 1931. Der erstere – in einem Text vom Dezember 1923 – begann dort mit einem allgemeinen Überblick über die Beziehungen der deutschen Führung zu den Massen und mit dem Gang der Ereignisse seit 1918. Er schrieb:

„Wenn die kommunistische Partei plötzlich das Tempo ihrer Arbeit geändert und die fünf oder sechs Monate genutzt hätte, die ihr die Geschichte zur direkten politischen, organisatorischen und technischen Vorbereitung auf die Machtübernahme gewährte, so hätte der Ablauf der Ereignisse ein ganz anderer sein können als derjenige, den wir im November 1923 erlebt haben.

Aber die deutsche Partei war in die neue kurze Periode dieser Krise, vielleicht ohnegleichen in der Weltgeschichte, mit den Maßnahmen der vorhergehenden zweijährigen Periode der Propaganda zur Gewinnung des Einflusses unter den Massen hereingegangen. Damals bedurfte es einer neuen Orientierung, eines neuen Tones, einer neuen Art und Weise, an die Massen heranzugehen, einer neuen Interpretation und Anwendung der Einheitsfrontpolitik, neuer organisatorischer Methoden der Vorbereitung, mit einem Wort einer plötzlichen und unvermittelten taktischen Wendung. Das Proletariat musste eine revolutionäre Partei an der Arbeit sehen, die direkt zur Eroberung der Macht marschierte […]

Wenn die Partei, ohne Widerstand zu leisten, ausnehmend günstige Stellungen verlassen hat, so liegt der Hauptgrund darin, daß sie es nie verstanden hat, im Beginn der neuen Phase (Mai bis Juli 1923) sich von dem Automatismus der vorherigen Politik, die auf Jahre berechnet war, loszulösen und in der Agitation, in der Aktion, in der Organisation und in der Technik direkt die Frage der Machtergreifung zu stellen.” [1]

Ungefähr ein Jahr später kam Trotzki in seiner Schrift 1917: Die Lehren der Revolution (Berlin 1925) auf 1923 zurück und betonte die außerordentliche Rolle, die die Führung im Zeitpunkt einer revolutionären Krise spielt. Er unterstrich gleichfalls zwei Punkte, auf die wir später eingehen werden: die Frage der bewaffneten Kräfte der Bourgeoisie und die Frage der Organe der Arbeiterschaft, die zur Machtübernahme geeignet sind. Schließlich führte Trotzki in seinem Brief an den VI. Kongress der KI (1928) das weiter aus, was er im Neuen Kurs und den Lehren der Revolution geschrieben hatte, und stellte die Führung der KI, die Führung der KPD und die Schlussfolgerungen des V. Kongresses über die Weltsituation in Frage. Er nahm die oben entwickelte Argumentation wieder auf. Er betonte, dass es zwischen den beiden Fraktionen, in die die deutsche Führung gespalten war, keine Unterschiede bei ihrem Auftreten gab:

„Nicht allein die Rechten, sondern auch die Linken, trotzdem sie sich sehr scharf bekämpft haben, betrachteten vor dem September-Oktober 1923 den Prozess der revolutionären Entwicklung ziemlich fatalistisch.” [2]

In einer solchen Situation, fügte er hinzu, genügen manchmal wenige Tage, dass eine revolutionäre Situation kehrtmacht und für lange Jahre verschwindet:

„Gerade hier entsteht auch die Gefahr, daß die Politik der Parteiführung und der Partei überhaupt dem Auftreten der Klasse und den Bedürfnissen der Situation nicht entspricht. Bei einem verhältnismäßig ruhigen Gang des politischen Lebens kann ein solcher Widerspruch, wenn auch mit Verlust, so doch ohne Katastrophe, ausgeglichen werden. Zur Zeit einer heftigen Krise aber fehlt es gerade an der Zeit, um diesen Widerspruch zu beseitigen und die Front sozusagen unter Feuer auszugleichen. Die Perioden der höchsten Verschärfung einer revolutionären Krise sind ihrer Natur nach stets nur kurz. Dieser Widerspruch zwischen einer revolutionären Führung (Schwankungen, abwartende Haltung trotz des Ansturms der Bourgeoisie) und der objektiven Situation kann im Laufe einiger Wochen und sogar Tage zu einer Katastrophe und zu einem Verlust des in jahrelanger Arbeit Vorbereiteten führen.” [3]

Thalheimer, der damals zusammen mit Brandler der maßgebende Führer der KPD und ihr anerkanntester Theoretiker war, wurde – genau wie Brandler – nach dem Kongress von Frankfurt aus der Führung entfernt und später aus der KI ausgeschlossen, nachdem er mit der stalinistischen Führung der KI in Streit geraten war. 1931 führte er – weiterhin mit Brandler – eine die Kommunistische Partei (Opposition) genannte Organisation, eine Opposition von rechts gegen die Führung der KPD, die mit Stalin Übereinstimmung zu erzielen hoffte (dessen Innenpolitik sie bis 1937 guthieß). Andere Gruppen und Einzelpersonen waren aus der KPD und der KI ausgeschlossen worden, insbesondere die ehemaligen Führer der Linken Maslow und Ruth Fischer, und der Ultralinke Scholem. Unter den Kommunisten, die sich der stalinistischen Politik der „dritten Periode” widersetzten, stand die Frage des Oktober 1923 immer wieder auf der Tagesordnung. Die von Brandler und Thalheimer an der ultralinken Politik der „dritten Periode” geübte Kritik wurde von vielen, wenn nicht allen Oppositionellen geteilt. Diese jedoch meldeten gegenüber den Positionen Brandlers und Thalheimers in Bezug auf ihre Politik im Jahre 1923 Vorbehalte, ja noch viel mehr an. Deshalb sah sich Thalheimer gezwungen, eine Rechtfertigung oder eine Erklärung für diese Politik vorzubringen und schrieb zu diesem Thema eine Broschüre: 1923: Eine verpaßte Revolution? Die deutsche Oktoberlegende und die wirkliche Geschichte von 1923, Berlin 1931, Reprint Bremen o.J.

August Thalheimer (ca. 1940)

Foto: Unbekannt

 

Obwohl sie verfasst wurde, nachdem Trotzki seine Positionen einige Jahre zuvor dargelegt hatte, antwortete Thalheimer nicht direkt auf seinen Hauptkritiker, sondern richtete seine Argumentation gegen die damalige Politik der KPD und der KI, das heißt gegen eine ultralinke Politik und behauptete, sie sei die Fortführung der von der „Linken” in der KPD von 1923 verteidigte Politik gewesen. Darin lag ein Stück Wahrheit. Aber die Irrtümer Maslows und Ruth Fischers im Jahre 1923 und die ultralinke Politik der „dritten Periode” konnten nicht eine Analyse der Situation von 1923 ersetzen, noch eine Rechtfertigung für die damals von der deutschen Führung eingeschlagene Politik sein. Aus den Fehlern der einen (Maslow usw.) ergab sich nicht notwendigerweise die Richtigkeit der Politik der anderen (Brandler usw.). In keinem Augenblick hatte Trotzki die deutsche „Linke” von 1923 verteidigt, und er verteidigte nicht die Politik der „dritten Periode”. Thalheimer behauptete ebenfalls, der Oktober 1923 wäre eine „Legende” gewesen, die aufgebracht wurde, um zur Ablenkung von der russischen Frage, von den Differenzen, die innerhalb der bolschewistischen Partei bestanden, zu dienen. Wie wir gezeigt haben, stimmt es, dass Sinowjew zuerst die Aktivität der KPD, bis und einschließlich Chemnitz, gutgeheißen hatte, und dass er seine Position im Zusammenhang mit dem internen Kampf in der bolschewistischen Partei geändert hatte. Mit Fug und Recht rief Thalheimer diese Tatsachen Maslow und Ruth Fischer ins Gedächtnis zurück: Auf dem V. Kongress waren beide fanatische Anhänger Sinowjews gewesen. Aber Trotzki ging bei seiner Einschätzung der deutschen Führung im Jahre 1923 keineswegs von solchen Überlegungen aus.

Lassen wir also diese Nebenbemerkungen Thalheimers und wenden wir uns der eigentlichen Argumentation seiner Broschüre zu. Gleich anfangs behauptet er, der Faschismus wäre dank der korrekten Politik der Parteiführung geschlagen, der Sieg der KPD jedoch verhindert worden, in erster Linie wegen der Zugeständnisse der Bourgeoisie, in zweiter Linie wegen der von der Führung nach dem August 1923 begangenen Fehler, die beizeiten durch ihr Blasen zum Rückzug korrigiert wurden.

„Im Jahre 1923 wurde der Sieg des Kommunismus in erster Linie verhindert durch rechtzeitig gemachte Zugeständnisse der Bourgeoisie und erst in zweiter Linie durch Fehler der Partei und ihrer Führung. Aber die Kommunistische Partei, wenn sie auch nicht imstande war, selbst zu siegen, so war sie doch imstande, den Sieg des Faschismus zu verhindern. Sie vermochte dies kraft der im Ganzen richtigen Politik, die sie bis in den August 1923 betrieben, und der rechtzeitigen und entschlossenen Korrektur der eigenen Fehler, die sie mit dem Rückzug im Oktober vornahm.” (A.a.O., S. 4).

Das bedeutete in Wirklichkeit, dass es – für Thalheimer – verkehrt war, im August den Kurs auf Machteroberung gesteuert zu haben, denn es gab da keine revolutionäre Situation. Um das zu beweisen, griff Thalheimer zu einem Text Bucharins, wo dieser in einer Polemik mit den Lehren der Revolution Trotzkis die Unterschiede zwischen der Situation Russlands 1917 und Deutschlands 1923 darlegte: Im Unterschied zu Russland gab es in Deutschland keine bewaffneten Soldaten, die Frieden wünschten, es fehlte eine so zündende Parole wie die des Friedens. Noch gab es eine Bodenfrage, eine Nationalitätenfrage. Die Reichswehr, eine Klassenarmee, ließ im Gegensatz zu dem, was man damals gesagt hatte, keine Anzeichen einer Zersetzung erkennen. Die Arbeiterklasse war infolge der Spaltung Deutschlands durch die Ruhrbesetzung in zwei Teile gespalten:

„Kann man die objektive Lage im Jahre 1923 in Deutschland gleichsetzen der objektiven Lage im Jahre 1917 in Russland, in dem Sinne, dass objektiv die Situation für die Revolution gleich vorbereitet war? Wenn man den Hauptfaktoren, den Triebkräften der Oktoberrevolution von 1917 in Russland die Tatsachen gegenüberstellt, wie sie 1923 in Deutschland bestanden, so ergeben sich grundlegende Unterschiede. Welches waren die Hauptfaktoren, die 1917 in Russland die Oktoberrevolution begünstigten?

Zuerst die Kriegsfrage […]

Zweitens: die Landfrage […]

Dann die Arbeiter. Im Jahre 1917 war in Russland der Zustand eingetreten, daß die Lebensmittelversorgung der Städte versagte […] Aus dieser Lage heraus […] erwuchs in der […] Arbeiterschaft der Gedanke […] der ‘Arbeiterkontrolle der Produktion’ […]

Eine weitere Triebkraft der Oktoberrevolution war die nationale Frage […] Das Bild der Triebkräfte der Revolution in Deutschland im Jahre 1923, wenn man es im Einzelnen durchsieht, ist ein ganz anderes […] man hatte keinen wirklichen blutigen Krieg […] Der Ruhrkrieg war nur in Worten ein Krieg […] Weiter die Frage der internationalen Situation 1923 […] England und Amerika griffen zugunsten der Bourgeoisie in Deutschland und gegen die proletarische Revolution ein […] Die wichtigste wirtschaftliche Triebkraft der Revolution, der Hauptkrisenfaktor im Jahre 1923, war die Inflation […] Dieser wirtschaftliche Krisenfaktor wurde aber in Deutschland von der Bourgeoisie selbst liquidiert […] Durch diese Zugeständnisse in der Frage der Inflation und in der Frage des Ruhrkampfes wurde die Arbeiterklasse in Deutschland gespalten […] Dann die Frage der bewaffneten Kräfte […] Wir hatten keine allgemeine Wehrpflicht in Deutschland, sondern die Reichswehr […], eine im reaktionären Sinne auserlesene Klassenarmee […]

Man sieht […], daß all die entscheidenden Faktoren, die 1917 […] zur Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung führten, in Deutschland nicht vorhanden waren.” (A.a.O., S. 15 bis 18).

Er fügte auch hinzu, dass es keine Arbeiterräte gab, dass die Betriebsräte sie nicht ersetzen konnten und bestand darauf, dass die bis zum Cuno-Streik geführte Politik richtig gewesen sei:

„Die Partei visierte auf den Machtkampf. Und sie bereitete ihn richtig vor durch der Sachlage entsprechender Teillosungen, Übergangslosungen und Teilkämpfe […]

So entwickelten sich die Dinge bis zum Cuno–Streik. Dieser war der Höhepunkt der Massenbewegung im Jahre 1923 […]” (A.a.O., S. 19–20)

 

Leo Trotzi

Foto: Unbekannt, 1929

Der von der KI ausgearbeitete Plan war, sagte er, ein auf „Spekulation gegründeter Plan” (S. 21), der noch dazu Brandler aufgezwungen wurde, und „der Grundfehler der Partei nach dem Cuno-Streik” war der, dass sie „sich auf technisch-organisatorische Vorbereitungen” dieses Plans „beschränkte” (S. 24). Bevor man sich mit zwei anderen Punkten Thalheimers befasst, muss man hervorheben, dass es sich dabei im Wesentlichen um Argumente handelt, die die Frage nicht beantworten, ob es damals eine revolutionäre Situation gab. Der Vergleich mit den verschiedenen Faktoren in Russland im Jahre 1917 ist ein typischer Fall von Scholastik: Niemand kann annehmen, dass das Charakteristische an der Situation Russlands von 1917 sich bei anderen revolutionären Situationen, von Land und Zeit unabhängig, wiederfinden müsste. Es wäre ebenfalls kindisch zu meinen, ein Land müsse notwendigerweise in einer revolutionären Situation ein beträchtliches Maß an Einheitlichkeit aufweisen: die Spaltung Deutschlands infolge der Ruhrbesetzung war damals eine Ursache der revolutionären Situation, und kein Hindernis. Das Nichtvorhandensein von Räten (Sowjets) und das alleinige Vorhandensein von Betriebsräten stellten keinen Faktor dar, der den Charakter der Situation entscheidend veränderte. Wer – wie Thalheimer – sich auf das Russland von 1917 berief, sollte wissen, dass Lenin zu einem bestimmten Zeitpunkt die Losung „Alle Macht den Räten” fallenließ und die Eroberung der Macht mittels der Fabrikräte ins Auge fasste. In einer revolutionären Situation kann eine Führung durch die Umstände der Situation gezwungen sein, zum Zweck der Machtergreifung zu anderen Organisationen als den Räten (zu Fabrikräten, Milizen, Gewerkschaften […]) ihre Zuflucht zu nehmen; etwas anderes ist es, später durch die Räte die Etablierung der Diktatur des Proletariats zu sichern. Wenn schließlich, nach den Worten von Thalheimer, die KPD-Führung sich im Wesentlichen auf eine „technisch-organisatorische” Vorbereitung zum Nachteil der politischen Vorbereitung beschränkte, so liegt darin keine Verneinung des revolutionären Charakters der Situation, sondern eine kennzeichnende Haltung der Führung in dieser Situation. Die Reichswehr, das lässt sich nicht leugnen, befand sich nicht im Zustand der zaristischen Armee des Jahres 1917; aber im Gegensatz zu dem, was Thalheimer behauptet, hatte man auf manche Anzeichen politischer Zersetzung in ihrer Mitte aufmerksam gemacht; im Übrigen ist es außerordentlich selten, dass sich eine Armee zersetzt, bevor die Massen durch ihre Erhebung zeigen, dass sie bereit sind, die Verteidigung von Soldaten zu übernehmen, die es wagen, die Militärhierarchie in Frage zu stellen.

Das Hauptargument Thalheimers besteht darin, der Höhepunkt des Massenaufschwungs wäre zur Zeit des Generalstreiks gewesen, der die Cuno-Regierung wegfegte. In dieser Frage stimmt er mit dem sozialdemokratischen Historiker J. Braunthal, mit dem Verfasser der Geschichte der Sowjetunion E.H. Carr und anderen überein. Thalheimer versichert auch, dass die KPD nicht die Mehrheit der Arbeiterklasse errungen hatte:

„Es ist nicht gelungen, im Laufe des Jahres 1923 durch die Taktik der Einheitsfront die Mehrheit des deutschen Arbeiter für den Kampf um die Macht zu erobern. Aber eines ist richtig: ohne die Erfolge, die man durch die Taktik der Einheitsfront erzielt hat, hätte im Jahre 1923 die Frage der Machteroberung überhaupt nicht gestellt werden können […] Nur durch die kolossalen Fortschritte, die wir durch diese Taktik gemacht hatten, konnte diese Frage überhaupt gestellt werden […]" (A.a.O. S. 9–10).

Hinsichtlich des „Höhepunktes” der Massenbewegung betrachtet unserer Auffassung nach Thalheimer, wie alle Historiker, die seinen Standpunkt in dieser Beziehung teilen, die Ereignisse in einer statischen Art und Weise, die völlig von den Wandlungen absieht, die eine wirklich auf den Kampf um die Macht ausgerichtete Politik beigetragen hätte. Aus der Tatsache, dass die vom Generalstreik überraschte deutsche Führung nicht sogleich aus ihm auf den revolutionären Charakter der Situation geschlossen und nichts politisch Nennenswertes unternommen hatte, um die Krise auf eine höhere Ebene zu bringen, kann man nicht schlüssig folgern, dass der August 1923 der „Höhepunkt” gewesen und danach die Bewegung abgeebbt ist. Das Versagen der KPD-Führung hatte unvermeidliche Folgen, vor allem Konsequenzen für die Stimmung und Neigung der Arbeiter, zur Aktion überzugehen. Das gleiche gilt in Bezug auf die Einheitsfront. Thalheimer setzt in erster Linie auseinander, dass diese in Chemnitz verwirklicht worden ist, dass aber die Arbeiter in den Kampf um die Macht nicht eingetreten sind:

„Am Abend zuvor (der Chemnitzer Konferenz) hatte die Zentrale einstimmig den Beschluß gefaßt, daß aufgrund der Nachrichten über den Einmarsch der Reichswehr die Lösung (sic) des Generalstreiks, der den bewaffneten Kampf einschloß, herausgegeben werden sollte. Man entschied dann aber, daß man noch den Verlauf der Konferenz abwarten wollte, um die wirkliche Stimmung kennen zu lernen. Auf dieser Konferenz stellte der Genosse Brandler in Übereinstimmung mit der Zentrale die Forderung, die Konferenz solle die Losung des Generalstreiks als Kampflosung gegen den Einmarsch der Reichswehr herausgeben. Wäre dort eine wirkliche revolutionäre Stimmung gewesen, die bereit war zum Machtkampf, dann war klar, dass die Versammlung diese Losung begeistert aufnehmen musste und daß aus dem Generalstreik der bewaffnete Kampf um die Macht sich hätte entwickeln müssen. Die Wirkung aber war ganz anders. Brandlers Vorschlag fiel in der Versammlung glatt zu Boden. Die Versammlung nahm den Antrag eisig auf. Dann passierte folgendes: Der linke SPD-Minister Graupe trat auf und erklärte, falls die Kommunisten nicht darauf verzichteten, die Frage des Generalstreiks in dieser Versammlung zu stellen, dann würde er mit seinen sieben Leuten die Versammlung verlassen. In einer wirklich revolutionären, kampfentschlossenen Versammlung hätte ein Sturm der Empörung die Flaumacher weggefegt. Aber das Gegenteil geschah. Die Versammlung beschloss daraufhin, auf den unmittelbaren Aufruf zum Generalstreik zu verzichten und stattdessen eine kleine Kommission zu ernennen, die darüber befinden sollte. Es war dies ein Begräbnis dritter Klasse.

[…] Das bedeutete, […] daß die Arbeiterschaft gespalten war, daß gar keine Rede davon sein konnte, daß etwa die Mehrheit der sächsischen Arbeiterschaft in diesem Moment bereit war, um die Macht zu kämpfen […]” (A.a.O., S. 26–27).

Im Moment, wo Thalheimer diese Zeilen schrieb, das heißt während des Aufstiegs der Nazis in Deutschland, verteidigte seine Organisation, genau wie Trotzki, die Notwendigkeit, gegen die steigende Hitler-Gefahr die Einheitsfront SPD-KPD aufzustellen. Wenn es jedoch zwischen Trotzki und der rechten Opposition von Brandler–Thalheimer Übereinstimmung über die unbedingte Notwendigkeit der Einheitsfront gab, so waren sie sich doch über die allgemeine Auffassung von dieser Einheitsfront völlig uneinig. Damals so wie im Jahre 1923 hoben Brandler und Thalheimer die Einheitsfront in die Position einer Strategie, die man bis zur Machteroberung fortsetzen müsse – ohne im Übrigen zu präzisieren, ob sie diesen Gipfelpunkt des Klassenkampfes miteinschließe. Für Trotzki war die Einheitsfront eine Taktik, die vor allem zur Mobilisierung breiter Massen bestimmt war, um sie zur Aktion zu bringen. Nachdem dies erreicht ist, musste die revolutionäre Partei – in Einheitsfront mit den reformistischen Organisationen oder ohne sie – die Massen in jeder möglichen Weise auf die Machteroberung in Bewegung setzen. Müsste die revolutionäre Partei die Zustimmung der mit ihr durch bestimmte Massenmobilisierungen verbundenen reformistischen Partei abwarten, über die festgelegten Abmachungen hinaus zu gehen, so bestünde die große Wahrscheinlichkeit, dass sie Gelegenheiten, weiter zu gehen, vorüberstreichen ließe, vor allem aber, den Kampf um die Machteroberung zu unternehmen.

Verhaftung nach dem Einmarsch in Sachsen

Foto: Bundesarchiv, Bild 102-00191 / CC-BY-SA 3.0

 

Thalheimer trennt die Chemnitzer Konferenz von dem ab, was die Zentrale vor ihrem Zusammentreten getan hatte; tatsächlich hatte sie sich für die entscheidende Losung entschlossen – und es in Wirklichkeit doch nicht getan: Sie durfte solange nicht ausgegeben werden, bis die Stimmung der Massen auf dieser Konferenz in Erfahrung gebracht wurde.

Man denkt unwillkürlich an Lenin in den Tagen, die dem Oktoberaufstand vorangingen, wie er befürchtete, die Entscheidung hänge von dem Zusammentreten des Allrussischen Sowjetkongresses ab, von den möglichen, um nicht zu sagen unvermeidlichen Machenschaften in einer großen Versammlung bei einer Frage wie der des bewaffneten Kampfes um die Macht. Dieses Zögern, ja sogar Ablehnung, waren innerhalb der Parteiführung vorhanden. Er hielt es für notwendig, die Aktion vor Eröffnung des Kongresses zu beginnen, um ihn in die Aktion hineinzuziehen. Wäre er wie Brandler vorgegangen, hätte es nicht einen russischen Graupe, sondern mehrere gegeben, die gedroht hätten, sich vom Kongress zurückzuziehen; es gab im Übrigen mehr als einen, der den Kongress verließ, als der Aufstand in vollem Gange war.

Die KPD hatte im Jahre 1923, vor und nach dem Cuno-Streik, nach Thalheimers eigenen Worten „kolossale Fortschritte” gemacht. Wir hatten weiter oben über eine Erklärung Walchers berichtet, nach der die KPD auf dem besten Wege war, die Mehrheit in den Gewerkschaften zu erobern [4]. Eine solche Erklärung bedarf einiger Anmerkungen. Die Gewerkschaften weisen sehr charakteristische Züge auf: an der Basis sind sie in die Arbeiterklasse eingebettet und streben sogar an, sich mit ihr in bestimmten Ländern, so zum Beispiel im Großbritannien unserer Tage, fast völlig zu identifizieren. Andererseits jedoch haben die Gewerkschaften einen enormen Apparat, der sich wie eine Pyramide auf dieser Basis erhebt. Auf dem Produktionssektor stellen die Gewerkschaften mehr oder weniger die Arbeiterklasse selbst dar; je mehr man sich aber dem Gipfel nähert, umso mehr tendiert dieser Apparat dahin, sich mit dem Staatsapparat zu verquicken, sich in ihn – formell oder informell – zu integrieren. Der Gewerkschaftsapparat hat ein sehr großes Beharrungsvermögen, an der Spitze ist er fast unabsetzbar. Sagt man, wie Walcher, dass die revolutionäre Partei auf dem besten Wege war, die Führung der Gewerkschaften zu erobern, und stellt man in Abrede oder ignoriert zur gleichen Zeit, dass die Frage der Staatsmacht eben dadurch in einem derart industrialisierten Lande wie Deutschland auf die Tagesordnung gestellt wurde, dann hat man die Situation wirklich nicht erfasst. Gleichgültig, ob sich die Sozialdemokratie dem gefügt hätte oder nicht, die organisatorische Übereinkunft aufrechtzuerhalten: die Einheitsfronttaktik hätte der KPD dazu dienen müssen, die bereits erzielten Fortschritte zu einem Weitergehen auszunützen. Man musste vorwärtsschreiten, wollte man nicht gezwungen werden, den Rückzug anzutreten. Die Kräfteverhältnisse sind in keiner Weise statische Größen, die sich wie Waren auf der Waage ausgleichen; sie ergeben sich aus der Dynamik des Kampfes. Keine Führung vermag von sich aus, ein Kräfteverhältnis zustandezubringen, das vorher nicht latent, potentiell bestanden hätte. Aber der Kampf verwandelt ein solches potentielles Kräfteverhältnis zugunsten dessen, der Initiativen zu ergreifen weiß, der zu handeln wagt. Man braucht nicht lange über das nachzusinnen, was Clausewitz geschrieben hat: Was für den Krieg gilt, stimmt auch für den Klassenkampf, besonders wenn er seinem höchsten Niveau zustrebt. Als Lenin und Trotzki wahrnehmen mussten, dass die Anfangsper­spektiven der KI verschwunden waren, hatten sie – als hervorragende Strategen und Taktiker des Klassenkampfes – die Einheitsfront nicht ausgearbeitet, um allein Vereinbarungen zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen ins Auge zu fassen. Für sie konnte die Einheitsfront einen defensiven oder offensiven Charakter annehmen, sie machten aus ihr kein Ding an sich: Die Einheitsfront konnte nur eine Taktik sein, die für bestimmte Situationen taugte, um über sie hinauszukommen.

Ohne es zu wollen, spricht Thalheimer in seiner Broschüre die schärfste Verurteilung über die Führung aus, deren qualifiziertester Theoretiker er war, und über die Unschlüssigkeit, die für die Politik der KI im Jahre 1923 bezeichnend war. Hierzu schreibt er:

„Bei diesem Aktionsplan stellte sich leider heraus, daß nicht nur wir Aktionspläne machten, sondern auch der Gegner. Und er machte nicht nur Aktionspläne, er handelte. Und es stellte sich weiter heraus, daß, nachdem der Aktionsplan fertig war und die Genossen herüberkamen, um ihn durchzuführen, sich die Situation, auf der der Aktionsplan spekulativ aufgebaut war. vollständig geändert hatte, in ihr Gegenteil verkehrt hatte. Die Bourgeoisie hatte die Initiative ergriffen […] Der Bourgeoisie war klar, daß, wenn sie nicht aktiv eingreifen würde durch Zugeständnisse an die Arbeiterschaft und Kompromisse mit dem französischen Kapitalismus, wirkliche Revolutionsgefahr für sie herannahe […]” (A.a.O., S. 22).

      
Mehr dazu
Erich Wollenberg: Der Hamburger Aufstand und die Thälmann-Legende, die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023)
Pierre Frank: Die Ruhr­besetzung 1923, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Jakob Moneta: 1923 – das Jahr der Entscheidung, Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001)
Manfred Behrend: Ein bedeutender Kommunist (Heinrich Brandler), Inprekorr Nr. 360 (Oktober 2001)
Leo Trotzki: Die Brandlerianer (KPD-O) und die Stalinbürokratie, Inprekorr Nr. 344 (Juni 2000)
Jakob Moneta: Historischer Exkurs über eine Arbeiterregierung, Inprekorr Nr. 337/338 (November/Dezember 1999)
 

Das ganze statische, erstarrte Denken der deutschen Führung im Jahre 1923 zeigt sich in diesen acht Jahre nach den Ereignissen geschriebenen Zeilen. Damit es zu einer wirklich revolutionären Situation nach dem Cuno-Streik gekommen wäre, hätte die deutsche Bourgeoisie passiv bleiben müssen! Während diese aber zur Aktion überging, legte die KPD-Führung Proben ihrer Passivität ab. Es gab, so scheint es, einen „Plan”, einen „Aktionsplan”, der keine Vorsorge für die Reaktionen des Klassenfeindes traf. Es gab eine „Führung”, die angesichts der vom Feind ergriffenen Initiativen einen Beweis ihres Unvermögens lieferte, indem sie darauf wartete, das Zeichen für den Rückzug zu geben. Es fällt schwer, zu glauben, dass Thalheimer zutiefst von dem überzeugt war, was er in seiner Broschüre schrieb. Sie scheint uns vielmehr als ein Versuch, die Qualen seines revolutionären Gewissens über das Versagen im Jahre 1923 loszuwerden. [5]

Zweitens sah die Situation im Deutschland von 1923 nicht wie die in Russland im Jahre 1917 aus, obwohl man nicht denken soll, dass die Machtübernahme durch die Bolschewiki ein leichtes Unternehmen gewesen ist. Es ist nicht sicher, ob in Deutschland im Jahre 1923 die sozialistische Revolution gesiegt hätte, da es niemals für den Erfolg eine Garantie gibt; unbestreitbar jedoch gab es eine revolutionäre Situation. Die Mehrheit der Arbeiterklasse ging mit der KPD oder auf dem Weg zu ihr. Die Kleinbourgeoisie war in einem verzweifelten Zustand und wandte sich dem zu, der Entschlossenheit und Festigkeit bewies. Woran es fehlte, war gerade die revolutionäre Führung, die Führung nicht im allgemeinen Sinne – eine revolutionäre Partei war vorhanden –, sondern in dem bestimmten Sinne der Parteiführung. Diese Führung war mit Blindheit über die Situation geschlagen und hat im entscheidenden Moment Unentschlossenheit bewiesen. Diese Schwäche der Führung hatte katastrophale Folgen. Die im Aufstieg begriffene Bürokratie in der Sowjetunion wurde sogleich durch den Rückgang der Revolution in Deutschland gestärkt; dadurch konnte sie einen unmittelbaren Erfolg auf Kosten der Kräfte erzielen, die innerhalb der bolschewistischen Partei die Hoffnung auf die Weltrevolution nicht aufgegeben hatten. In der KI sollten die Rückwirkungen dieser Schwäche groß sein, denn es gab zu jener Zeit keine nationalen Führungen mit genügender politischer Reife.


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[1] Trotzki, Der Neue Kurs, Berlin 1924, Kapitel V, „Tradition und revolutionäre Politik“ (Kopenhagener Übersetzung 1934, S. 24

[2] Trotzki, Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale, Berlin 1929, S. 88

[3] A.a.0., S. 92

[4] S. das frühere Kapitel „Die Radikalisierung der arbeitenden Massen“.

[5] I. Deutscher beschäftigte sich stark mit der Frage der Situation Deutschlands im Jahre 1923, als er die Biographie Trotzkis schrieb. Er befragte Brandler in einem Interview, als er ihn nach dem Kriege traf. Wir zitieren hier aus einer Anmerkung vom Februar 1948 nach einem Treffen mit Brandler:
„Auf die Frage, ob er heute die Situation von 1923 als revolutionär bezeichnen würde, gibt Brandler keine eindeutige Antwort. Aus der Art, wie er die Abläufe beschreibt, gewinnt man den Eindruck, dass seine Antwort im Ganzen positiv sein würde. Doch er zieht keine endgültigen Schlüsse […]” (Siehe Die Internationale Nr. 14/15, März 1979, ISP-Verlag Frankfurt (M), S. 221).
Trotz seiner großen Qualitäten als kämpferischer Revolutionär, die ihn zu einen der besten Kader der deutschen Arbeiterbewegung dieses Jahrhunderts machten, hat sich Brandler niemals von seinem Versagen von 1923 erholt.