Oktober 1923

Der Hamburger Aufstand und die Thälmann-Legende

Über die Auslösung des Hamburger Aufstandes Oktober 1923 schreibt der „Spiegel“ (Nr. 19/1964):
„Die deutsche KP-Führung (beschloß) auf einen Wink von Moskau zum Generalstreik und zum bewaffneten Aufstand aufzurufen. Die Proklamation sollte eine Betriebsrätekonferenz (in Chemnitz) verkünden … Doch die sozialdemokratischen Delegierten verweigerten … ihre Zustimmung. Allein wollten die Kommunisten den Aufstand nun nicht wagen. Sie beschlossen, die Revolution zu vertagen. Nur in Hamburg gingen die Gewehre los. Noch während in Chemnitz verhandelt wurde, war der Delegierte Ernst Thälmann aus dem Beratungszimmer gestürzt und hatte die Kuriere, die auf dem Korridor mit den Aufstandsbefehlen warteten, angeschrien: ‚Haut ab! Fahrt los! Geht in Ordnung!‘ Dem damaligen KP-Chef Brandler gelang es, die Kuriere am Chemnitzer Bahnhof abzufangen – bis auf einen, der bereits nach Hamburg unterwegs war.“
Diese Darstellung der Auslösung des Hamburger Aufstandes als Tragikomödie der Irrungen basiert auf einer Legende, die wohl als Latrinenparole kleiner Apparatschiki entstanden ist und im Verlauf von Jahrzehnten nicht nur von den Historoiden subjektiv frisierter Memoiren-Romane kolportiert wurde, sondern auch ihren Weg in die Werke seriöser Historiker gefunden hat.
Neben dieser nicht-kommunistischen Version gibt es noch die offiziell-kommunistische „heroische Legende“. Danach war Ernst Thälmann überhaupt nicht in Chemnitz, sondern hat in Hamburg entgegen der „Sabotage des Verräters Brandler“ den Befehl zum Aufstand gegeben und persönlich die Kämpfe geführt, bis sie „von den Verrätern im ZK abgewürgt wurden.“
Wenn ich im folgenden den Hamburger Aufstand darstelle, wie er wirklich stattgefunden hat, muß ich über meine Person für den Normalleser von 1964 vorausschicken: 1923 gehörte ich zum Führergremium der militär-politischen Hierarchie der KPD. Ich war einer der sechs „Oberleiter“, die den bewaffneten Aufstand in Deutschland vorbereiten und durchführen sollten. 1924, in Moskau, war ich Mitglied einer unter Leitung des Generals Unschlicht, stellvertretender Volkskommissar für Heer und Marine (Kriegsminister) gebildeten Kommission, deren Aufgabe es war, die Militärarbeit der KPD im Jahre 1923 zu untersuchen und die Lehren für spätere Revolutionskämpfe zu ziehen. Der Hamburger Aufstand war begreiflicherweise ein Kernstück unseres Aufgabengebietes. Die Arbeit unserer Kommission stützte sich nicht nur auf kommunistische Dokumente und die Aussagen kommunistischer Beteiligter (Deutsche und hohe Offiziere der Roten Armee), sondern auch auf „Feindmaterial“. Uns standen Geheimberichte der Reichswehr, der Polizei und anderer staatlichen Institutionen, die zu jener Zeit bis in die höchsten Spitzen kommunistisch infiltriert waren, fast lückenlos zur Verfügung.
Der Hamburger Aufstand kann nicht isoliert von der gesamtdeutschen Situation und der Politik der KPD, bzw. des Kreml Anno 1923 betrachtet und verstanden werden.

Erich Wollenberg

Die Ruhrbesetzung im Januar 1923, provoziert durch die rechtsbürgerliche Regierung Cuno, hatte den totalen Zusammenbruch der deutschen Währung, Massenarbeitslosigkeit, Hunger und Not in fast unvorstellbarem Ausmaße zur Folge gehabt. Der am 11. August von der Berliner Betriebsrätekonferenz proklamierte Generalstreik löste auch für die Zentrale der KPD völlig unerwartete machtvolle Bewegung aus, die bereits am folgenden Tag die Regierung Cuno zum Rücktritt zwang und zur Bildung einer Regierung der „Großen Koalition“ (Deutsche Volkspartei, katholisches Zentrum, Demokraten und SPD) unter Reichskanzler Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei) führte.

Jetzt war man in Moskau davon überzeugt, daß in Deutschland mit Riesenschritten die revolutionäre Krise heranreife. Heinrich Brandler, der Vorsitzende der KPD, beurteilte die Lage weniger optimistisch, er fügte sich aber schließlich dem Beschluß des „Generalstabes der Weltrevolution“, den Kurs auf die Eroberung der Macht, die Deutsche Räterepublik zu nehmen.

Unter Leitung von Bürgerkriegsspezialisten der Komintern und Kommandeuren der Roten Armee im Generalsrang wurde der Militär-Politische (MP) Apparat parallel zur politischen Organisation der KPD und, bis auf Querverbindungen an der Spitze, unabhängig von ihr geschaffen. Als MP-Reichsleiter wurde Sowjetgeneral Rose eingesetzt, ein deutschstämmiger Metallarbeiter aus den baltischen Provinzen des alten Zarenreiches. Im Weltkrieg hatte Rose es bis zum ordensgeschmückten Wachtmeister gebracht. In den Reihen der Roten Armee war er als draufgängerischer Truppenführer im Range eines Korpskommandeurs mit 2 Orden der „Roten Fahne“ und mit einem ihm persönlich von Trotzki verliehenen Ehrensäbel ausgezeichnet worden. Der Deckname Roses im Militär-Apparat war „Helmut“, nach seiner Verhaftung und in dem gegen ihn geführten Prozeß ist er als „Skobolewski“ und „General Gorew“ bekannt geworden.

Politischer Kommissar der MP-Reichsleitung und zugleich Verbindungsmann mit der Zentrale der KPD und der Komintern wurde der Berufsrevolutionär und Bürgerkriegsspezialist Guralski (Kleine), der wegen seiner zappligen Nervosität und seiner oft bizarren Einfälle im Kreise der Vertrauten „Mister Meschugge“ genannt wurde.

An Mut fehlte es Rose zweifellos nicht. Dafür mangelte ihm jede Erfahrung in der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes unter den Bedingungen der Illegalität. Das gleiche ist von fast allen russischen Offizieren zu sagen, die vom Generalstab der Roten Armee auf ihren Wunsch für die Arbeit in Deutschland abkommandiert waren. Diese tapferen Truppenführer, insgesamt etwa 20 Generale, waren mit einer Ausnahme: dem mir zugeteilten General Alexej Stetzki (Parteimitglied seit 1915, geschulter Marxist), erst im Verlauf der Oktoberrevolution zur Partei gekommen. In der Roten Armee hatten sie es gelernt, gestützt auf den revolutionären Staatsapparat, Truppenverbände zu formieren und zu führen. Jetzt neigten sie dazu,ihre „drüben“ erworbenen Kenntnisse mechanisch unter den völlig anders gelagerten Verhältnissen in Deutschland anzuwenden.

In Anlehnung an die Dislokation der 100 000 Mann-Reichswehr wurden folgende sechs MP-Oberbezirke geschaffen:

An der Spitze des Militärapparates in den MP-Oberbezirken standen die KP-Oberleiter: Albert Gromulat (Berlin), Albert Schreiner (Nord-West), Major Hans-von-Hentig (Mitte), Erich Wollenberg (Süd-West), Wilhelm Zaisser (West) [und] Arthur Illner (Ost).

Jedem MP-Oberleiter war ein russischer General als Militärberater beigegeben. Dem MP-Oberleiter „Mitte“, dem einzigen Nichtkommunisten und ehemaligem Berufsoffizier der kaiserlichen Armee, wurde außerdem ein politischer Kommissar zur Seite gestellt (Karl Volk).

Auf einer Art Generalstabssitzung, die Mitte September in Kassel stattfand, legte General Rose folgende „Richtlinien für die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes“ vor:

Bei diesen Proletarischen Hundertschaften hatte es sich um folgendes gehandelt: Auf Belegschaftsversammlungen und in Massenmeetings der Arbeitslosen wurde – meist auf Initiative von Kommunisten – die Bildung proletarischer Hundertschaften beschlossen. Freiwillige trugen sich in besonderen Listen ein oder traten sofort zusammen, wählten Hundertschaftsführer und die Zehnerführer. Vielfach existierten diese Hundertschaften nur auf dem Papier, bestenfalls erschöpfte sich ihre Tätigkeit in Versammlungsschutz und gelegentlichen Aufmärschen. Der legale Massencharakter dieser Bewegung machte jede Bewaffnung a priori unmöglich.

Von allen MP-Oberleitern hatten nur Zaisser und ich aktiv und in militärischer Funktion an Bürgerkriegskämpfen teilgenommen: Zaisser als „Roter General an der Ruhr“ (1919/20/21), ich als Abschnittskommandeur der bayerischen Roten Armeewährend der Münchner Räterepublik (1919) und als Leiter des Maiaufstandes in Bochum/Ruhr (1923). Unter Hinweis auf unsere Erfahrungen lehnten wir die „Richtlinien“ ab, die bedeuteten, „die schwer bewaffneten Formationen der Reichswehr und der Schupo mit papiernen Resolutionen bekämpfen zu wollen.“

 

Hamburger Aufstand 1923

Foto: Bibliothèque nationale de France

Unsere Einwände machten auf „Helmut“ – Rose – keinen Eindruck. Er berief sich darauf, daß Trotzki seine „Richtlinien“ voll und ganz gebilligt habe. 1924 hat mir Trotzki in Moskau an Hand der Akten des Generalstabes der Roten Armee bewiesen, daß er die Entgegennahme der „Richtlinien“ mit der Begründung verweigerte, „sie berühren überhaupt nicht die wirklichen Probleme der Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten Aufstandes.“

Ab Mitte Oktober befand sich der Militär-Apparat der KPD „in höchster Alarmstufe“. In Sachsen (10. Oktober) und in Thüringen (17. Oktober) waren Arbeiterregierungen (Koalition SPD-Linke und KPD) gebildet worden, auf parlamentarischer Mehrheitsbasis, also durchaus noch „im Rahmen der Weimarer Verfassung“. Am 16. Oktober entzog der Reichswehrgeneral Müller der sächsischen Regierung (Ministerpräsident Zeigner, SPD) das Verfügungsrecht über die Landpolizei, worauf der kommunistische Finanzminister Paul Böttcher in einer öffentlichen Kundgebung zur Bewaffnung der Proletarischen Hundertschaften aufrief. Es handelte sich im Grunde nur um einen platonischen Appell, denn die Regierung, der Heinrich Brandler als Chef der Staatskanzlei angehörte, unternahm nichts zur Bewaffnung der Arbeiterschaft.

Am 17. Oktober stellte General Müller ein bis zum 18. Oktober 11 Uhr vormittags befristetes Ultimatum an die Regierung, Böttcher zu desavouieren und sich zu verpflichten, „nach meinen Weisungen zu handeln“. Ministerpräsident Zeigner lehnte die Beantwortung des Ultimatums als „verfassungswidrig“ ab.

Darauf erklärte der Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD, Vater des ostberliner Bürgermeisters gleichen Namens), unter Berufung auf den Artikel 48 [1] der Weimarer Verfassung, die sächsische Arbeiterregierung für abgesetzt, und General Müller erhielt den Befehl, in Sachsen einzurücken.

Noch am Abend desselben Tages (Sonnabend, den 20. Oktober) trat das Führergremium der KPD zusammen. Nach einem Referat von Heinrich Brandler wurde beschlossen, auf der für Sonntag, den 21. Oktober nach Chemnitz einberufenen Konferenz sächsischer Arbeiterorganisationen (die berühmte „Chemnitzer Konferenz“) die Losung des Generalstreiks herauszugeben. Angesichts der provokatorischen Aktion der Reichswehr rechnete man damit, daß die „Chemnitzer Konferenz“ mit großer Mehrheit, wenn nicht gar einstimmig, den Generalstreik proklamieren würde, der – ähnlich wie im Cuno-Streik – in ganzDeutschland eine gewaltige Massenbewegung auslösen müßte. Der Sieg der proletarischen Revolution schien in greifbare Nähe gerückt zu sein.

In den Nachmittagsstunden des 21. Oktober trat die Konferenz zusammen, an der rund 400 Delegierte sächsischer Arbeiterorganisationen teilnahmen. (140 Betriebsräte, 102 Delegierte der Gewerkschaften, 79 Vertreter der Kontrollausschüsse, 26 der Konsumvereine, 15 antifaschistischer Aktionsausschüsse, 16 Erwerbslosenvertreter und 20 leitende Angestellte der Gewerkschaftsverbände.)

Auf der Tagesordnung der Konferenz, die längst vor der akuten Zuspitzung der Krise einberufen war, standen soziale Fragen: Notlage der Lebensmittelversorgung, Geldentwertung, Elend der Erwerbslosen. Als die kommunistischen Delegierten die Proklamierung des Generalstreiks forderten, erklärte der SPD-Minister Graupe, daß eine solche Beschlußfassung nicht zu den Aufgaben der Konferenz gehöre. Nach einer erregten Debatte wurde der Generalstreik mit großer Mehrheit abgelehnt. Damit war eine neue Situation geschaffen.

Von Vertretern der kommunistischen Linken ist post festum darauf hingewiesen worden, daß die Chemnitzer Konferenz in ihrer ganzen Zusammensetzung durchaus nicht die wahre Stimmung der Volksmassen widerspiegelte. Aber auch in Hamburg, wo es am 20. Oktober auf der Deutschen Werft zum Streik gekommen war, waren alle Apelle der Werftarbeiter an die Betriebe der Wasserkante, sich der Streikbewegung anzuschließen, erfolglos geblieben, wenn man von ein paar tausend Bauarbeitern der Hansestadt absieht.

Sonntag, den 21. Oktober tagte gleichzeitig mit der Chemnitzer Konferenz eine „interparteiliche Werftarbeiterkonferenz der Wasserkante“, auf der Hugo Urbahns, der politische Sekretär des Bezirk[s] „Wasserkante“ der KPD und auch Ernst Thälmann, der ihm untergeordnete Sekretär der Hamburger KP-Stadtleitung, eine Resolution zur Annahme brachten, in der an die Chemnitzer Konferenz der Appell gerichtet wurde, den Generalstreik in Deutschland zu proklamieren. Erst in den Mittagsstunden des 21. Oktober trat Hugo Urbahns mit einer Delegation der streikenden Werftarbeiter von Hamburg aus die Reise nach Chemnitz an. Als er dort eintraf, hatte die Chemnitzer Konferenz die Proklamierung des Generalstreiks bereits verworfen.

Ernst Thälmann aber war in Hamburg bei seinen Werftarbeitern geblieben. Er hat die Hansastadt weder am 21. Oktober, noch unmittelbar vorher oder nachher verlassen. Schon aus diesem simplen aber wohl einleuchtenden Grund konnte der in Hamburg bei seinen Hafenarbeitern agitierende Teddy nicht in Chemnitz aus dem Beratungszimmer gestürzt sein und die „Kuriere, die auf dem Korridor mit den Aufstandsbefehlen in der Tasche herumstanden“ (wie sich doch der kleine Moritz die konspirative Arbeit einer revolutionären Partei am Vorabend des bewaffneten Aufstandes vorstellt! Schriftliche Aufstandsbefehle – oh-la-la!), angeschrien haben: „Haut ab! Geht in Ordnung!“

Warum sind also die Gewehre in Hamburg losgegangen? Unmittelbar nach dem Abschluß der Chemnitzer Konferenz, die wie das Hornberger Schießen ausgegangen war, trat die Zentrale der KPD zusammen, um das Fazit aus der neuen Situation zu ziehen. Sollte die Partei von sich aus den Generalstreikproklamieren und das Risiko eines Mißerfolges auf sich nehmen? Das wäre tragbar gewesen, wenn es bei Streikbewegungen hätte bleiben können. Aber für den MP-Apparat war folgende „Sprachregelung“ getroffen: GENERALSTREIK = GENERALAUFSTAND!

Die Proklamierung des Generalstreiks durch die Zentrale der KPD mußte zur Folge haben, daß in ganz Deutschland „die Gewehre losgingen“. Und sie wären anders losgegangen, als in Hamburg und der Wasserkante, wo MP-Oberleiter Albert Schreiner gemäß den famosen „Richtlinien“ nichts anderes getan hatte, als fleißig papierne Resolutionen über die Bildung von Proletarischen Hundertschaften zu sammeln. Wir kommen noch darauf zurück.

Erich Wollenberg (ca. 1930)

Foto: Historisches Lexikon Bayerns

 

Nach endlosen Debatten, die sich bis tief in die Nacht hinzogen (21./22. Oktober) wurde schließlich folgender „Kriegsplan“ ausgetüftelt: In irgendeiner Stadt wird ein „spontaner Aufstand“ angekurbelt. Löst er in größeren Teilen Deutschlands eine echte spontane Massenbewegung aus, die als Gradmesser der revolutionären Krise zu bewerten ist, dann könnte die KPD, ohne sich von den Massen zu isolieren, die Losung des Generalstreiks ausgeben und damit in ganz Deutschland den bewaffneten Aufstand mit dem Ziel der Machteroberung entfesseln. Sollte aber die lokale bewaffnete Aktion nicht der zündende Funke sein, der das Faß der aufgespeicherten Volksempörung zur Explosion bringt, dann konnte die Partei sich ohne wesentliche Einbuße aus der Affäre ziehen und hätte Zeit gewonnen, sich besser und gründlicher auf die revolutionäre Situation vorzubereiten.

Brandler hätte sich bei diesem taktischen Schachzug auf einen Präzedenzfall aus der Sowjetunion berufen können. Nach der Niederlage der Roten Armee vor Warschau im russisch-polnischen Krieg (1920), hatte Lenin in einer vertraulichen Unterredung mit dem „ob solchen Zynismus entsetzten“ damaligen Vorsitzenden der KPD, Dr. Paul Levi, erklärt: „Unsere Rote Armee hat vor Warschau mit dem Degen vorgefühlt, um festzustellen, wieweit die Weltrevolution steht.“ Dem lokalen „spontanen Aufstand“ war die Rolle des „vorfühlenden Degens“ zugedacht.

An sich war dieser „Kriegsplan“ gar nicht so ausgefallen und so „zynisch“, wie er heute vielleicht erscheinen mag. Die Partei befand sich in einer Zwangslage. Es mußte gehandelt werden, und zwar sofort, sollten nicht die Bastionen der Arbeiterregierungen, Errungenschaften der von Brandler zäh und konsequent durchgeführten Politik der „Einheitsfront“ (KPD/SPD Linke), kampflos preisgegeben werden.

Nachdem der Plan im Prinzip festlag, mußte noch entschieden werden, welche örtliche MP-Organisation die Rolle des vorfühlenden Degens übernehmen sollte. Da fiel der Name Kiel. Der Kriegshafen an der Ostsee hatte im November 1918 das Signal zur Revolution gegeben. Warum nicht auch 1923?

Herrmann Remmele, führendes Mitglied der Zentrale und Verbindungsmann zum MP-Apparat, wurde nach Kiel. geschickt, um der dortigen MP-Leitung den Befehl zu überbringen, am 23. Oktober den „spontanen Aufstand“ zu starten.

Mitten in der Nacht (21./22. 10.) wurde Brandler durch ein Ferngespräch aus Prag (oder war es Karlsbad?) geweckt. Der Anrufende war Karl Radek, soeben aus Moskau mit neuen Instruktionen eingetroffen. Brandler informierte ihn über dieAblehnung der Proklamierung des Generalstreiks durch die „Chemnitzer Konferenz“. Radek: „Nichts unternehmen! Meine Ankunft abwarten!“

Ein Kurier wurde nach Kiel geschickt, um Remmele zu informieren. Außerdem setzte sich Brandler am frühen Morgen mit der Kieler Stadtleitung der KPD In Verbindung. Aber von Remmele keine Spur. So nahm man schließlich an, daß Remmele auf der Fahrt nach Kiel trotz seiner Immunität als Reichstagsabgeordneter verhaftet oder gar von Rechtsextremisten verschleppt worden sei.

Da schlug am nächsten Morgen (23.10.) die Meldung von Straßenkämpfen in Hamburg bei den Mitgliedern der Zentrale wie eine Bombe ein. Zunächst glaubte man, daß es im Zusammenhang mit dem Werftarbeiterstreik zu bewaffneten Zusammenstößen größeren Ausmaßes mit der Polizei gekommen sei, daß es sich also um einen spontanen Ausbruch von Kampfaktionen handele, wie sie bereits in kleinerem Umfang beim Einsatz der Polizei gegen die Streikenden hier und da aufgeflackert waren. Dann aber tauchte Remmele in Chemnitz auf und berichtete über seine Mission. Er kam aus Hamburg …

Remmele hatte entgegen seiner ursprünglichen Absicht, erst mit dem Frühzug Chemnitz zu verlassen, bereits unmittelbar nach der Zentralesitzung einen Nachtzug nach Berlin erwischt, wo er seit einiger Zeit seinen ständigen Wohnsitz hatte.

Am nächsten Morgen (22.10.), gut ausgeschlafen und mit klarem Kopf, entschloß er sich, nach Hamburg zu fahren, da sich dort die MP-Oberleitung Nord-West befand, von der die Kieler Stadtleitung des MP-Apparates laut hierarchischem Prinzip den Befehl und die näheren Instruktionen zum Losschlagen erhalten mußte.

In der MP-Oberleitung schüttelte man über den Beschluß der Zentrale den Kopf. Das Kiel von 1923 war nicht mehr das Kiel von 1918, in dem es zehntausende kriegsmüde und rebellische Matrosen gegeben hatte, die sich nicht 5 Minuten vor Beendigung des verlorenen Krieges in einer völlig sinnlosen Seeschlacht gegen eine vielfache Übermacht ad majorem gloriam der kaiserlichen Admiralität opfern wollten. Jetzt hatte die KPD in Kiel nur eine ziemlich schwache Ortsgruppe, der MP-Apparat befand sich im embryonalen Zustand.

Was tun? Die Zeit drängte! Neue Instruktionen konnten nicht mehr eingeholt werden. In den nächsten 24 Stunden mußten die Gewehre in Kiel oder sonstwo losgehen.

 

Rotfrontkämpferbund (Berlin 1927)

Ernst Thälmann (l.) und Willy Leow, Foto: Bundesarchiv, Bild 183-Z0127-305 (Ausschnitt)

„Oder sonstwo? Warum denn nicht in Hamburg?!“ – Den Vorschlag machte Stern, der sowjetische Militärberater Schreiners. Stern, ehemaliger Fähnrich der k.u.k. Armee, war als österreichischer Kriegsgefangener in Rußland nach der Oktoberrevolution in die Rote Armee eingetreten, hatte an vielen Bürgerkriegsfronten gekämpft und stand jetzt im Rang eines Brigadegenerals. Im spanischen Bürgerkrieg ist er als „General Kleber“ berühmt geworden.

Gegen den Vorschlag Sterns ließ sich logischerweise kaum etwas einwenden. Kiel war ja nur eine Verlegenheitslösung gewesen, entscheidend war nicht, wo, sondern daß „mit dem Degen vorgefühlt wurde.“ Schreiner willigte zögernd ein, und Remmele gab im Namen des ZK grünes Licht für den „spontanen Aufstand“ in Hamburg. Damit war seine Mission beendet. Als er in den frühen Morgenstunden den Zug nach Chemnitz bestieg, hatte die Knallerei bereits begonnen.

Der infolge einer Kette von Irrungen und Wirrungen entfachte Aufstand in Hamburg konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Brandler und Radek waren der Ansicht, daß man die nächsten 24 Stunden abwarten müsse, um das Ergebnis der „Degenprobe“ übersehen zu können. Hermann Remmele, Carl Becker (ZK), Hugo Urbahns, MP-Reichsleiter „Helmut“ Rose und, wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, auch Philipp Dengel wurden nach Hamburg geschickt, um an Ort und Stelle die notwendigen Maßnahmen zum Abbruch des Aufstandes zu treffen. Für den Fall, daß die Hamburger Aktion in den übrigen Gebieten Deutschlands Massenstreiks und andere Sympathiekundgebungen größeren Ausmaßes auslösen sollten, falls es sich also herausstellte, daß außer den objektiven Gegebenheiten einer gesamtnationalen Krise auch die subjektiven Voraussetzungen für den Kampf um die Macht herangereift waren, würde die Zentrale von sich aus den Generalstreik proklamieren und damit dem MP-Apparat das Signal zum Generalaufstand geben.

Aber nichts rührte sich im Reich. Selbst in Hamburg war es nicht gelungen, die bereits bestehende Streikbewegung der Werft- und Bauarbeiter auf andere Betriebe auszudehnen, obwohl Thälmann sich verzweifelte Mühe gab.

Auf Drängen Thälmanns wurde die Entscheidung über den Abbruch des Kampfes um einen Tag herausgeschoben. Aber als auch am 25. Oktober alles ruhig blieb, wurde der Beschluß einstimmig gefaßt. Nun mußte der Kontakt mit den Kämpfenden hergestellt werden, das Aufstandsgebiet war von einem dichten Polizeikordon abgeriegelt. Thälmann weigerte sich, den Auftrag zu übernehmen: „Das geht doch nicht! Ich habe ihnen gesagt, ihr sollt kämpfen, und jetzt: Rin in die Kartoffeln! Raus aus die Kartoffeln! Nein, da mach ich nicht mit.“

Diese undankbare und gefährliche Mission übernahm dann Hugo Urbahns. In den Morgenstunden des 26. Oktober räumten die letzten Aufständischen die Barrikaden.

Aufgrund meiner Tätigkeit als Mitglied der unter Leitung von General Unschlicht in Moskau gebildeten Untersuchungskommission über den Hamburger Aufstand möchte ich zusammenfassend feststellen:

  1. Der Aufstand war von der MP-Leitung schlecht, um nicht zu sagen überhaupt nicht ernsthaft vorbereitet worden. Schreiner hatte sich mit bürokratischer Sturheit an die „Richtlinien“ des MP-Reichsleiters „Helmut“ Rose gehalten. Auf seinem Schreibtisch häuften sich die Resolutionen über die Bildung der Proletarischen Hundertschaften. Darin hatte sich die Tätigkeit der MP-Oberleitung Nord-West erschöpft. So kam es, daß „am Vorabend des Aufstandes nicht mehr als 19 (neunzehn!) Gewehre und 27 (siebenundzwanzig!) Pistolen vorhanden waren, von denen die Hälfte wegen unsachmäßiger Lagerung usw. unbrauchbar waren.“ (Feststellung der Unschlicht-Kommission, auszugsweise in Nr. 2/1926 der militär-politischen Monatsschrift der KPD, „Oktober“, veröffentlicht.)

  2. Die Hundertschaften als solche, d. h. als Einheiten mit den von ihnen gewählten Hundertschafts-usw. -Führern (sic), waren bei dem Aufstand überhaupt nicht in Erscheinung getreten. Einzelne Angehörige der Hundertschaften, darunter solche, die früher unter Leitung des kommunistischen Studenten Hans Kippenberger eine besondere Stoßgruppe gebildet hatten, die von der MP-Leitung wegen „Disziplinlosigkeit“ aufgelöst worden war, haben den Kampf geführt. Kippenberger, gegen den ein Parteiverfahren wegen „Gehorsamsverweigerung“ schwebte, wurde von seinen alten Kameraden aus dem Bett geholt, er war es, der den schlagartigenÜberfall auf eine Reihe Polizeireviere in den Morgenstunden des 23. Oktober organisierte, wodurch einige hundert Gewehre mit der dazu gehörenden Munition in die Hände der Aufständischen fielen. Der Kampf der annähernd 300 Kommunisten wurde von Kippenberger, Kriegsleutnant 1914/18, mit großem Geschick geführt, seiner Umsicht ist es zu verdanken, daß auch der Rückzug fast verlustlos vonstatten ging und auch der größte Teil der Waffen und Munition geborgen werden konnte.

  3. Der Aufstand in Hamburg, dem durch die Art seiner Auslösung und die Isolierung von den Massen alle charakteristischen Merkmale eines Putsches anhaften, hat bewiesen, daß Oktober 1923 keine revolutionäre Situation in Deutschland bestand, oder vielleicht keine mehr. Der Höhepunkt der Krise war mit dem Cuno-Streik erreicht und überschritten. Ob eine andere, eine aktivere Politik, als sie nach der Ruhrbesetzung von der kommunistischen Partei eingeschlagen wurde, zu anderen Ergebnissen hätte führen können, liegt auf einem anderen Blatt. Zweifellos hat Brandler die kommunistische Partei und mit ihr die gesamte deutsche Arbeiterschaft vor der Katastrophe einer vernichtenden und blutigen Niederlage bewahrt, als er sich nach dem Ausgang der Chemnitzer Konferenz geweigert hat, durch Proklamierung des Generalstreiks den Befehl zum bewaffneten Aufstand in ganz Deutschland zu geben.

Diese letztere These (Punkt 3) gehört nicht zu den Feststellungen der Unschlicht-Kommission, die sich nur mit der militärischen Seite des „mißglückten deutschen Oktober“ zu befassen hatte. Es handelt sich um eine Erkenntnis, die ich gewonnen habe, wobei ich hinzufügen möchte, daß mir diese selbstkritische Erkenntnis erst viel später gekommen ist …

Und Thälmanns „wirkliche“ Rolle beim Hamburger Aufstand? Ich erwähnte schon, daß er am 21. Oktober nicht in Chemnitz war, daß es folglich eine Legende ist, wenn behauptet wird, der Aufstand sei ausgebrochen, weil Teddy den Kurieren zugerufen habe: „Geht in Ordnung! Haut ab!“

      
Mehr dazu
Oktober 1923 – Dossier , die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023)
Pierre Frank: Hat es 1923 in Deutschland eine revolutionäre Situation gegeben?, die internationale Nr. 5/2023 (September/Oktober 2023)
W. A.: Einheitsfront gegen Faschismus?. Der Kampf der Linken Opposition gegen die Katastrophe von 1933, die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023). Auch bei intersoz.org
Pierre Frank: Die Ruhr­besetzung 1923, die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023)
Fernand Charlier: Revolution in Deutschland, die internationale Nr. 6/2018 (November/Dezember 2018)
Jakob Moneta: 1923 – das Jahr der Entscheidung, Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001)
Jakob Moneta: Historischer Exkurs über eine Arbeiterregierung, Inprekorr Nr. 337/338 (November/Dezember 1999)
 

Thälmann hatte als Sekretär der legalen politischen Parteiorganisation nichts mit der Tätigkeit des illegalen MP-Apparates zu tun. So trifft ihn keine Verantwortung für die sich über zwei Monate hinziehende Untätigkeit der MP-Oberleitung, die über fast unerschöpfliche Dollarbeträge zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes verfügte.

Auf den Barrikaden hat weder Teddy, noch Schreiner, noch Stern gestanden. Sie haben während der Kämpfe das Aufstandsgebiet überhaupt nicht betreten. Das hat Stern nicht gehindert, sich in Moskau als „Held des Hamburger Barrikadenkampfes“ feiern zu lassen. In seinem Bericht vor den Offizieren des Generalstabs und der Kriegsakademie hat er sogar an Hand eines Stadtplanes genaue Angaben über seinen Einsatz in einem Panzerwagen (gab’s nicht bei den Aufständischen!) gegen Panzer und starke Stellungen der Polizeitruppen gemacht. Als aber Kippenberger, von dem man angenommen hatte, er sei bei den letzten Kämpfen gefallen, unerwartet in Moskau aufkreuzte und den „Irrtum“ Sterns korrigierte, wurde der Brigadegeneral zum Major degradiert. Es hat einige Jahre gedauert, bevor er wieder ein selbständiges Truppenkommando erhielt.

Thälmann hat sich nie mit den fremden Federn eines Barrikadenkämpfers schmücken wollen. Er hat immer und überall betont, daß Hans (Kippenberger) und nur Hans der Organisator und Führer des Hamburger Aufstandes war.

Teddy schämte sich rot, wenn man ihn als Barrikadenkämpfer feierte. Einem kommunistischen Schriftsteller, der 1932 geschrieben hatte, daß Held Thälmann aufrecht im feindlichen Kugelregen an der Spitze seiner Mannen gegen Polizeistellungen anstürmte, hat Teddy plattdeutsch brüllend das Buch (buchstäblich) an den Kopf gefeuert.

1926, in Moskau, hatte ich Teddy gebeten, auf einer Versammlung meiner Rotarmisten zu sprechen. Er willigte ein: „Aber das sage ich Dir, wenn Du mich als Barrikadenheld feierst, dann hau’ ich ab!“ – „Geht in Ordnung!“

Erich Wollenberg (1892-1973) war Leutnant der kaiserlichen Armee und später führend tätig in der Novemberrevolution in Königberg und bei der Verteidigung der Münchener Räterepublik. Seit 1928 unterrichtete er an der Lenin-Schule in Moskau, konnte sich aber dem stalinistischen Terror 1934 durch Flucht nach Prag entziehen. Kurzzeitig war er Mitglied der IKD, die später die deutsche Sektion der Vierten Internationale wurde. Diesen Text schrieb er 1964, doch wurde er erst 1973 in der Zeitschrift Schwarze Protokolle veröffentlicht.



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[1] Artikel 48: „Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Verpflichtungen nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.“