Am 22. August 1992 feierte unsere Genossin Leni Jungclas ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlaß entstand das folgende Interview mit ihr, das Heiko Freund für Inprekorr mit ihr führte.
Interview mit Leni Jungclas (Interview)
Leni, Du bist sozusagen mitten in die Arbeiterbewegung hineingeboren worden? |
Leni: Mein Großvater hat in Berlin als Sozialdemokrat gearbeitet und ist dann unter dem Sozialistengesetz aus Preußen ausgewiesen worden. Er hat sich dann in Köln angesiedelt. Mein Vater war dreieinhalb Jahre Soldat im 1. Weltkrieg und zwei Jahre in englischer Gefangenschaft. Als er nach Köln zurückkam, trat er der SPD bei. Mein Großvater wurde Mitglied der KPD.
Was hat Dich als junges Mädchen beeinflußt? |
Mein Vater war im Freidenkerverband aktiv und ich bin zur „Freien Schule“ in Köln-Mülheim gegangen. Diese Schule hatte acht Klassen mit je dreißig Schülerinnen. Von diesen freien Schulen gab es sechs oder sieben in Köln. In Vorbereitung auf die Jugendweihe besuchte ich ein ganzes Jahr lang einen zweistündigen, wöchentlichen Kursus. Dort lasen wir „Lohnarbeit und Kapital“ und das „Kommunistische Manifest“. So lernte ich zum ersten Mal marxistische Literatur kennen.
Und Deine Mutter? |
Meine Mutter hat immer als Taschenmacherin gearbeitet. Sie war Meisterin in ihrem Beruf und brachte mehr Geld als mein Vater nach Hause. Deshalb ging es uns auch ganz gut, auch, als mein Vater wegen Gewerkschaftstätigkeit aus dem Betrieb flog. Daneben kümmerte sich meine Mutter um die Hausarbeit. So war ja damals die Arbeitsteilung. Sie hatte zu Hause auch das Sagen und nicht mein Vater. Meine Mutter war auch politisch, schrieb auch schon mal einen Artikel. Sie war auch Frauenrechtlerin. Aber sie war überlastet und da blieb nicht so viel Zeit für die Politik.
Was hast Du in Deiner Freizeit gemacht? |
Wie viele andere Kinder aus sozialdemokratischen Familien war ich in meiner Freizeit in verschiedenen Vereinen aktiv: im Radfahrverein „Solidarität“, im Arbeitergesangsverein und im Arbeiterschwimmverein. Diese und viele andere Arbeitervereine gab es in ganz Deutschland mit tausenden und abertausenden Mitgliedern. Allein in Köln-Mülheim Nord hatte der Arbeiterschwimmverein sechzig Mitglieder. Diese Vereine waren eine Art Gegengesellschaft – so haben wir sie auch verstanden. Wir waren stolz darauf, Arbeiterinnen zu sein. Unser Denken, unsere Begriffe waren anders. Auch im Alltag sprachen wir von „Arbeiterklasse“. Mit dem Köln der Bürgerinnen hatten wir nichts zu tun.
Ergaben sich dadurch keine Nachteile, z. B. später am Arbeitsplatz? |
Ich begann meine Lehre als Putzmacherin, d. h.ich fertigte Damenhüte. Am Arbeitsplatz hatte ich keine Nachteile. Aber in der Berufsschule. Dort weigerte ich mich, am Religionsunterricht teilzunehmen. Das ließen mich die Lehrer bei den Noten spüren.
In den Falken warst Du auch aktiv? |
Nein, in die Falken wollte ich nicht, die waren mir zu verspielt. Ich bin dann 1931 in den Sozialistischen Jugendverband (SJV) eingetreten. Der SJV war die Jugendorganisation der Sozialistischen Arbeiterpartei, einer Linksabspaltung der SPD. Ichgehörte zur zehnköpfigen Gruppe Köln-Höhenhaus. Ich war die Jüngste.
Wie arbeitete Eure Gruppe? |
Wir diskutierten sehr viel. Am Anfang habe ich nur Bahnhof verstanden. Aberdie Diskussionen waren eine gute Schulung für mich. So jung wie ich war, mußte ich mein erstes Referat übernehmen. Ich sprach über das Sexualaufklärungsbuch „Buben und Mädel“ von Max Hodan. Ich würde heute gern wissen, was ich damals erzählt habe.
Wie aktiv wart ihr als SJV in Köln? |
Insgesamt waren wir in Köln vielleicht hundert Jugendliche, darunter auch Jakob Moneta. Wir hatten ein Mal die Woche Gruppensitzung, aber wir trafen uns jeden Tag nach der Arbeit am Wallraffplatz oder in Köln-Kalk an der Post. Dort entschieden wir, zu welcher Veranstaltung wir hingingen. Wir waren fast jeden Tag zusammen, unser ganzes Leben war Politik. Am Wochenende machten wir öfters Ausflüge in die Umgebung. Da kam es schon mal vor, daß wir auf eine Gruppe der Hitlerjugend trafen. Mit denen haben wir uns dann verhauen.
Es gab jeden Tag Veranstaltungen der Arbeiterinnenbewegung? |
Ja, es gab vor dem Faschismus jeden Tag irgendwelche Treffen, Veranstaltungen, Diskussionen meist der SPD, der Gewerkschaften und der KPD. Wir waren ewig unterwegs. Viele von uns im SJV studierten. Als kleine Gruppe konnten wir ja nur unseren Mund aufmachen und nicht viel selber in Bewegung bringen. Der SJV ist gegen die erbitterte Auseinandersetzung von SPD und KPD und für die „Einheitsfront“ der Arbeiterinnen aufgetreten.
Und dann setzten sich die Faschisten durch... |
Wir waren alle maßlos enttäuscht, daß die Führung von SPD, KPDund Metallarbeiterverband nicht zum Kampf aufrief. Meine Tante arbeitete als Schreibkraft auf dem Büro des DMV in Köln. Sie erzählte, als die Faschisten in das Gewerkschaftshaus eindrangen, haben ihnen die Sekretäre des DMVsofort die Kasse, die Mitgliederkartei mit allen Namen, einfach alles ohne Widerstand übergeben. Und damals waren die Gewerkschaften viel politisierter als heute.
Seid Ihr nach der Machtübernahme der Nazis zusammengeblieben? |
Wir sind nicht nur zusammengeblieben, sondern haben mit einigen Genossen der SAP, des Deutschen Freidenkerverbandes und der SPD gegen den Faschismus gekämpft. Wir haben Flugblätter verfaßt und verteilt, Zettel gegen die Nazis an die Wände geklebt, mit der Aufschrift „Nieder mit Hitler, nieder mit dem Faschismus“ und ähnliches. Ende 1933 kam eine Verbindung mit der Strassergruppe – Schwarzfrontler – zustande.
Die führenden Leute waren, von der SAP – Klaus Altmann –, mein Vater – Wilhelm Pertz – von der SPD und Freidenker, der Kölner Sekretär des Verbandes – Hugo Jacobi.
Mein Vater, der wegen der Bewilligung des Panzerkreuzer I aus der SPD austrat, (die Spaltung SPD/SAP kam 1933) war erst auf mein Drängen hin Ende 1933 in die SAP eingetreten. Er war bis 1933 der Hauptkassierer des DFV-Köln, fungierte als Kurier der Gruppe zwischen Köln und Brüssel, wohin Max Sievers, der Hauptsekretär des DFV-Deutschland nach der Machtübernahme mit 600 000 RM geflohen war. Von dort holte er Flugblätter aus Seidenpapier, die in Quadraten von ca. 5*5 cm gefaltet waren. Wir verschickten dies an Genossen in ganz Deutschland. Mitte 1935 nahm mein Vater an einer Zusammenkunft der Schwarzfrontler teil, an der auch ein Spitzel teilnahm. So wurde er mit einer Anzahl von SFlern am 19.9.1935 verhaftet. In seinem Prozeß, der Führung der Strasserfront, wurden mit ihm noch 7 SFler verurteilt – zu sechs bis 15 Jahren. Mein Vater wurde von Freisler vor dem Volksgerichtshof Berlin in einer Verhandlung von acht Minuten zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Von der Linken wurde niemand verhaftet. Mein Vater war nach Verbüßung der Zuchthausstrafe noch fast zwei Jahre im KZ.
Nach der Verhaftung meines Vaters war ich zum Schutz der Genossen fast drei Jahre isoliert, später traf ich mich wieder mit den Köln-Kalker Genossen.
Wir waren sieben: Sebastian Höhl, Hermann Vogel u.a., ich das einzige Mädchen.
Warst Du als Frau in Eurem Kreis und in der Arbeiterbewegung eine Ausnahme? |
Es gab bei uns schon eine Reihe Frauen. Die Frauen standen damals mehr im Hintergrund, waren aber selten teilnahmslos. Und eines ist ganz klar: ohne ihre Frauen hätten die Männer nichts machen können.
Wie ging es nach dem Kriege weiter? |
Ende 1945 gründeten wir in Köln die Falken. Wir brachten den Namen SJD mit ein. Allein in Höhenhaus gab es vier Gruppen mit ca. achtzig Kindern und Jugendlichen. Die betreute ich. Wir hatten politische Diskussionen, sangen viel und wanderten an den Wochenenden. Bei den Freidenkern machte ich nicht mit. Die waren vollkommen von der KPD unterwandert. Mit den Naturfreunden arbeiteten wir viel zusammen. Es hatte sich viel verändert. Die Sportvereine der Arbeiterinnen gab es fast nicht mehr. die Mehrheit der Bevölkerung dachte in den schweren Nachkriegsjahren „erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Die interessierten sich wenig für Politik.
Wie bist Du zur IV. Internationale gekommen? |
Wir sympathisierten schon vor 1933 als SJV mit Trotzki, besonders wegen seiner Forderung nach Einheitsfront gegen die Faschisten. Und eines Tages sagte mein Vater, der mit Kriegsende aus dem KZ kam, der Moneta ist aus Palästina zurückgekommen. Durch Jakob Moneta bin ich dann Anfang 1949 in die Vierte eingetreten. Es gab da ein Dutzend Genossinnen mit denen wir uns trafen. Und eines Tages fragte mich Jakob: willst Du nicht Deinen Beitrag bezahlen? Da war ich in der Vierten. Dort lernte ich im gleichen Jahr Schorsch Jungclas, meinen Mann, kennen.
Ihr wart in der Unabhängigen Arbeiterpartei (UAP), einer Abspaltung der KPD, aktiv?! |
Nachdem Stalin über Tito den Bann verhängt hatte, bildete sich in Westdeutschland die UAP. Tito finanzierte die UAP mit 30 000DM monatlich. Dort tauchte Wolfgang Leonhard auf, ein Karrierist und Apparatschik. Schorsch sah in ihm und in allen Menschen nur das Gute. Später, nach der UAP, auch in Wischnewski. Ebenfalls ein Apparatschik durch und durch. Wenn ich das Schorsch sagte, meinte er: „Du hast über jeden was zu meckern.“ Ich war mehr im Hintergrund, aber ich konnte daher auch mehr sehen, was mit den Menschen los war. Jedenfalls schloß die UAP uns aus, wurde kurze Zeit später von den Jugoslawen fallengelassen und ging ein.
Heute weht uns als Linken der Wind ins Gesicht, aber die fünfziger und sechziger Jahre waren für Euch auch nicht von Pappe? |
Die 50er und 60er Jahre waren eine sehr schwere Zeit. Die Vierte hatte zwischen vierzig und sechzig Mitglieder in der BRD, davon ein Dutzend in Köln und ein Dutzend in Mannheim. Durch den Faschismus hatte es einen Bruch in der Kontinuität der Arbeiterinnenbewegung gegeben. Die Gleichschaltung von SPD und KPD drüben und die ganze Politik der DDR waren ein Schlag für viele Linke. Nach den: Krieg mußten auch wir ums Überleben kämpfen.
Danach der langanhaltende Aufschwung. Da verstand es der Kapitalismus, ein paar Brosamen an die Arbeiterinnen zu verteilen. Viele Linke begruben schon früh alle Hoffnungen auf eine andere Gesellschaft. Wenn wir hörten, da gibt es einen kritischen Linken in Hannover, dann sind wir für eine Diskussion dorthin gefahren.
Was war Eure wichtigste politische Arbeit? |
Für mich war das der Kampf für ein freies Algerien. Wir haben eine Zeitung für die Solidaritätsarbeit herausgegeben, Aktionen gemacht und den Bau einer Waffenfabrik für die Befreiungsbewegung mit der ganzen Vierten mitorganisiert. Einiges ging auch schief, wie z. B. die Produktion von Falschgeld zur Untergrabung der französischen Währung.
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Zu dem Zeitpunkt wart Ihr aber schon in der SPD? |
Ja, wir haben damals in der SPD gearbeitet. Wir wollten die Hand am Puls der Klasse haben. Damals war die SPD natürlich nicht ganz so verkommen wie heute. Es gab dort noch eine marxistische Linke. Heute ist die SPD m. E. keine Arbeiterpartei mehr. Wir sind dann nach dem Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD gegen den SDS langsam aus der SPD ausgetreten. Leider nicht mit einem Paukenschlag, der einen Teil der mit uns sympathisierenden SPDler mitriß. Einige unserer Genossen sind dringeblieben.
Haben wir Marxistlnnen heute überhaupt eine Chance? |
Für mich ist die Alternative von Rosa Luxemburg „Sozialismus oder Barbarei“ heute ganz aktuell. Entweder das Chaos der Umweltzerstörung, der Verelendung, des Rassismus oder eine menschliche, vernünftige Welt – eine klassenlose Gesellschaft. Der Marxismus ist für mich kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln. Und dieser wirkliche Marxismus ist nicht tot zu kriegen. Gestorben ist der staatliche, verknöcherte Marxismus und das ist auch gut so.
Schönen Dank Leni und alles Gute. |
Das Interview führte Heiko Freund |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 253 (November 1992). | Startseite | Impressum | Datenschutz