Im August kann Leni ihren achtzigsten Geburtstag begehen. Als einer der wohl letzten politisch engagierten Überlebenden, die vor 1933 in Köln zur gleichen Zeit wie Leni in den SJV, den Sozialistischen Jugendverband der SAP, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, eintraten, möchte ich zur Erinnerung daran einen Beitrag leisten. Dieser soll sowohl auf die damaligen Zeitumstände eingehen als auch auf Elemente von Lenis Biografie, die, wenn ich richtig gerechnet habe, damals als Vierzehnjährige das jüngste Mitglied unserer SJV-Gruppe war.
Jakob Moneta
Da heute wohl nur wenige etwas über die Entstehungsgeschichte der SAP und des SJV wissen, möchte ich zunächst hierauf eingehen. In der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 erhielt die SPD 9,1 Millionen Stimmen, 1,3 Millionen mehr als 1924. Das waren 29,8% der abgegebenen Wählerstimmen. Das SPD-Parteiorgan Vorwärts meinte, die SPD sei jetzt dazu verpflichtet, die Oppositionsrolle aufzugeben und die Regierung zu übernehmen. Das tat sie denn auch, und zwar nicht nur zusammen mit Demokraten und dem katholischen Zentrum, sondern auch mit der erzkonservativen Bayrischen und Deutschen Volkspartei. Diese stellten dem Sozialdemokraten Hermann Müller, der Reichskanzler wurde; die Bedingung, eine Regierung ohne Bindung an die Reichstagsfraktion zu bilden. So entstand ein „Kabinett von Persönlichkeiten”, deren Regierungsprogramm von den bürgerlichen Koalitionspartnern bestimmt wurde.
Nicht eine der 15 Forderungen, die von der SPD-Linken als Grundlage für das Regierungsprogramm vorgeschlagen wurden – darunter die Reform der Reichswehr oder soziale Fragen – war erfüllt worden. Darum blieben 14 SPD-Abgeordnete der Abstimmung fern, mit der die Regierung des SPD-Reichskanzlers Müller gebilligt wurde. Am 11. August 1928 veröffentlichte die Reichsregierung ihren Beschluß, den Bau des Panzerkreuzers A durch die Vergabe des Bauauftrags zu beginnen. Aber noch am 27. März 1928 hatten die Deutsche Demokratische Partei, die SPD und die KPD heftigen Widerstand dagegen geleistet, als die vorangegangene Bürgerblock-Regierung die erste Baurate von 9,3 Millionen RM im Marine-Etat hierfür bewilligt hatte.
Ihren Wahlkampf, der ihr den beträchtlichen Zuwachs von 1,3 Millionen Stimmen brachte, hatte die SPD unter der Losung „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer” geführt. Sogar die SPD-Reichstagsfraktion und der SPD-Vorstand waren von der Wende überrascht. Die gesamte Partei fühlte sich blamiert. Die Stimmung war dort so stürmisch, daß am 31. Oktober 1928, die SPD-Reichstagsfraktion einen Antrag auf Einstellung des Panzerkreuzerbaus stellte. Sogar die vier SPD-Minister in der Regierung wurden zur Fraktionsdisziplin verpflichtet. So geriet SPD-Reichskanzler Hermann Müller und seine sozialdemokratischen Ministerkollegen in die groteske Lage, am 16. November 1928 mit ihrer parlamentarischen Fraktion und den Kommunisten gegen die eigene Regierungsvorlage stimmen zu müssen. Da aber SPD und KPD keine Mehrheit im Reichstag hatten, wurde ihr Antrag abgelehnt und die große Koalition der SPD mit den bürgerlichen Parteien blieb bestehen. Aber dieses, die SPD der Lächerlichkeit preisgebende Manöver gab der innerparteilichen Opposition Auftrieb, denn unter einer sozialdemokratisch geführten Reichsregierung wurde der Weg gebahnt, um rund 500 Millionen Reichsmark für vier geplante Panzerkreuzer auszugeben.
Auf dem Magdeburger SPD-Parteitag wurde eine intensive Wehrdebatte geführt, für die sich die Linke gut vorbereitet hatte. Ihre Vertreter erhielten zwar nur 10 Minuten Redezeit, während Redner der Parteimehrheit stundenlange Referate hielten, es gelang der Linken auch nicht ihre Forderung durchzusetzen, im Vorstand entsprechend ihrer Stärke vertreten zu sein. Dennoch stimmten von den gewählten Delegierten 129 gegen die „Richtlinien zur Wehrpolitik”, die von der Mehrheit vorgelegt wurden, während 169 ihre Zustimmung gaben. Die Panzerkreuzer-Debatte hatte offensichtlich tiefe Risse in der SPD hinterlassen. Der Magdeburger Parteitag hatte sich, wenn auch gegen eine starke Minderheit, für die Fortsetzung der Koalitionspolitik entschieden.
Aber eingeleitet durch den Börsenkrach in New York im Oktober 1929 brach völlig unerwartet die furchtbare Weltwirtschaftskrise aus. Die bürgerlichen Parteien wollten sie durch die Beseitigung der „sozialistischen Hemmnisse” für die Konjunkturverbesserung bekämpfen. Diese Hemmnisse waren für sie das Tarifvertragssystem, das Schlichtungswesen, der Besitz der Öffentlichen Hand, alle sozialen Errungenschaften. Als aber die Deutsche Volkspartei eine Senkung der Leistungen für die Arbeitslosenversicherung forderte, stießen die Kompromißversuche der sozialdemokratischen Minister nicht nur auf den Widerstand der Parteilinken, sondern auch der Gewerkschaften. Nachdem im Dezember 1929 die SPD unter dem Druck der DVP sogar ihren eigenen Finanzminister Rudolf Hilferding fallen ließ, begriff sie endlich, daß weiteres Nachgeben zu einer Spaltung der Partei führen konnte. Am 27. März 1930 entschied sich deshalb die Mehrheit der SPD-Fraktion unter dem Druck der Linken und des Gewerkschaftsflügels, aus der Regierung auszuscheiden.
Nachdem sich die am 30. März 1930 von Heinrich Brüning gebildete Regierung mit ihrem Wirtschafts- und Sparprogramm nicht durchsetzen konnte, ließ sie den Reichstag durch ein Dekret des Reichspräsidenten Hindenburg kurzerhand auflösen. In den Wahlen vom 15. September 1930 zeigten sich die verheerenden Auswirkungen der Krise. Sie brachte vier Millionen Neuwähler an die Urnen. Die Nazis erhöhten ihre Wählerzahl von 810 000 im Jahre 1928 auf 6,4 Millionen. Die KPD gewann etwa 1,3 Millionen, und die SPD verlor fast 600 000 Stimmen.
Brüning bildete erneut ein Minderheitskabinett, das die Sozialdemokraten von nun an als das „kleinere Übel” gegenüber einer drohenden faschistischen Diktatur auf Biegen und Brechen tolerierten. Sie stimmten, übrigens am 18. Oktober 1930 zusammen mit der SPD-Linken, für die von ihm erlassenen „Notverordnungen”, mit denen er soziale Errungenschaften Schrift für Schritt aushebelte. Der Historiker der Weimarer Republik, Arthur Rosenberg, schreibt: „Damit stellte die Reichstagsmehrheit den Kampf gegen die verfassungswidrige Diktatur ein. Es war die Todesstunde der Weimarer Republik.”
Jedenfalls wurde die sozialdemokratische Linke zum unversöhnlichen Gegner dieser Tolerierungspolitik, die ein Jahr später zur Ursache der Parteispaltung und damit zur Geburtsstunde der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) werden sollte.
Daß sie von der KPD ebenso wie die SPD mit dem Etikett „sozialfaschistisch” oder „konterrevolutionär” belegt wurde, dazu, so meinte Leo Trotzki in Was nun – Schicksalsfragen des deutschen Proletariats (27.1.32), seien „nur besessene Beamte imstande, die meinen, ihnen sei alles erlaubt, oder dumme Papageien, die Schimpfwörter wiederholen, ohne deren Sinn zu verstehen.” Zugleich aber kritisierte er: „Die SAP hat kein Programm”, und: „Jedenfalls kann die Einheitsfrontpolitik nicht einer revolutionären Partei als Programm dienen. Darauf ist aber die gesamte Tätigkeit der SAP aufgebaut.”
Nun will ich hier nicht auf die scharfen Auseinandersetzungen innerhalb der SAP eingehen, der, um sich zu entfalten, ohnehin nur eine verdammt kurze Lebensdauer beschieden war. Denn am 24. September 1931 kündigte das Berliner Tageblatt – etwas verfrüht – die Gründung einer „Sozialistischen Arbeiter-Partei” durch die beiden SPD-Abgeordneten Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz an. Nur 16 Monate später, im Januar 1933, wurde Hitler Reichskanzler.
Ich möchte vor allem auf den SJV, den Jugendverband eingehen, dem Leni und ich angehörten. Hanno Drechsler, der Historiker der SAP, schreibt hierzu: „Keine Partei oder politische Gruppe der deutschen Arbeiterbewegung besaß am Ende der Weimarer Republik – im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl – eine so starke Jugendorganisation wie die SAP.” Der SJV zählte etwa 8000 bis 10 000 Mitglieder und stellte damit mindestens 16 % der Mitglieder der (sozialdemokratischen) SAJ oder 20 % der Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbands. An Aktivität mochte er die beiden stärksten politischen Jugendverbände sogar übertreffen; das erklärt sich aus den Bedingungen seiner Entstehung.
Der SJV rekrutierte sich aus jener starken Minderheit der SAJ, die sich – wie die Jungsozialisten – an der Politik der SPD-Parteiopposition orientiert hatte In allen Hochburgen der „Klassenkampf-Gruppe” (so hieß die SPD-Linke) existierte bald auch eine linke SAJ. Im Frühjahr 1931 gelang es der SAJ-Opposition sogar, in Berlin die Leitung der – dort über 4000 Mitglieder zählenden – Organisation zu übernehmen.
Es war übrigens Erich Ollenhauer, der auf dem letzten Parteitag der SPD vor ihrem Verbot, der vom 31. Mai bis 5. Juni 1931 in Leipzig stattfand, über Partei und Jugend referierte. Ein Vertreter der Jusos wurde gar nicht erst angehört, aber es wurde beschlossen, die Jungsozialistengruppen zu liquidieren. Ollenhauer begründete dies mit ihrem „völligen Versagen”, weil sie nur 3000 von 80 000 jungen Parteimitgliedern umfaßten und zu einer „reinen Richtungsorganisation” geworden seien. Prof. Nölting setzte noch eins drauf: sie huldigten „einem unjugendlichen Kult des Gestrigen und Vorgestrigen” und verwechselten „Politik mit soziologischer Lesestunde aus Karl Marx”. Die Selbständigkeit der SAJ-Gruppen wurde beschränkt. Alle von der SAJ gewählten Funktionäre über 20 Jahre bedurften künftig der Bestätigung durch die zuständige Parteileitung. Der Beschluß sollte nach Ollenhauer jene gefährliche „Politisierung” verhindern, die die Jugend verleite „in allen politischen Fragen mitzureden und mitzuentscheiden”. Daß sowohl Jusos wie auch SAJler zum SJV überwechselten, ist deshalb leicht verständlich.
Unsere SJV-Gruppe in Köln setzte sich mehrheitlich aus Jungen und Mädchen zusammen, die aus der Arbeiterklasse kamen. Einer unserer Referenten war übrigens Hans Mayer, Student an der Kölner Uni, Mitglied der SAP, der auch heute noch als über 90jähriger berühmter Literaturwissenschaftler und Soziologe nicht zu denen gehört, die der Bankrott des „irrealen Sozialismus” dazu verführt, vor dem realen Kapitalismus zu kapitulieren. Leiter der Gruppe war Ernst Ballin. Er war ein Enkel von Albert Ballin (1857–1918), der vor dem Ersten Weltkrieg die größte Handelsflotte der Welt besaß. 1918 beging er Selbstmord – wie mir Ernst sagte – weil „sein” Kaiser in der Revolution 1918 nach „Doorn” geflohen war. Durch Zufall erfuhr ich kürzlich, daß Albert Ballin 1917 seine Flotte der drohenden Beschlagnahme durch die Alliierten hätte entziehen können, wenn die deutsche Admiralität die Überführung der in aller Welt verstreuten Schiffe in neutrale Häfen erlaubt hätte. Aber sie hatte befohlen, die Maschinen der Schiffe zu zerstören. Der deutsche Jude Albert Ballin hatte es als Patriot nicht übers Herz gebracht, den mit ihm befreundeten Kaiser um ein Machtwort gegenüber der Admiralität zu bitten. Sein sozialistischer Enkel Ernst Ballin hingegen sollte seine jüdische Herkunft damit büßen, daß er in Auschwitz vergast wurde.
Ich erinnere mich noch an die Einladung einer Genossin, mit ihrem Vater zu diskutieren, der stets Sozialdemokrat war, aber diesmal Hitler wählen wollte. Ich kam in ein Zimmer, das trister nicht hätte ausgestattet sein können. Zwei eiserne Betten, ein Tisch, zwei Stühle, ein Kleiderschrank. Der Vater, der jahrelang als hochqualifizierter Monteur überall in der Welt gearbeitet hatte, war seit vier Jahren arbeitslos. Als der Sozialdemokrat Hermann Müller Reichskanzler wurde, hatte er seine Hoffnung auf ihn gesetzt und war bitter enttäuscht worden. Nun könne man nur noch auf den Mann setzen, der einen nationalen Sozialismus und Arbeit verspricht, auf Hitler, sagte er.
Was aber geschah mit der SAP und dem SJV nach der Machtübergabe durch die bürgerlichen Parteien an Hitler? Mit dem II. Reichsparteitag am 11./12. März 1933 begann der illegale antifaschistische Widerstandskampf und die Emigrationspolitik der SAP. Es gab in ihren Reihen kaum einen Überläufer zu den Nazis. Noch im Januar 1934 zählte sie 13 000 bis 14 000 „arbeitende Mitglieder” (von ehemals etwa 25 000).
„Die Intensität der von der SAP geleisteten Widerstandsarbeit”, schreibt Hanno Drechsler, „war vor allem dem Sozialistischen Jugendverband Deutschlands (SJV) zu verdanken, der das Gros der illegalen Kämpfer stellte … Der Aktivismus und Heroismus dieser Jugend führte freilich vielfach zu tollkühnen und leicht- oder gar unsinnigen Aktionen.”
Die Kölner Gruppe wurde ein Opfer ihrer breiten Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung. Während sie sich in der ersten Zeit ihrer Illegalität auf interne Sitzungen, Diskussionen und die Aufrechterhaltung des inneren Zusammenhalts beschränkte, ging sie – nach der Verhaftung ihres Organisationsleiters Peter Keller, der die örtlichen Zusammenhänge vor der Gestapo verheimlichen konnte, so daß keine weiteren Verhaftungen erfolgten – dazu über, in größerem Umfang Propagandamaterial herzustellen und zu verbreiten. Bald darauf fand die Gestapo ihre Spur.”
Vor einem Sondergericht in Hamm wurden 1935 18 Kölner SJV-Mitglieder im Alter von 17 bis 20 Jahren insgesamt zu 90 Jahren Zuchthaus verurteilt. Ernst Ballin, der zu fünf Jahren verurteilt wurde, soll dem Gericht zugerufen haben: „In fünf Jahren seid ihr nicht mehr dran!” Aber nach Vollendung seiner Zuchthaustrafe wurde er in ein KZ eingeliefert und später in Auschwitz umgebracht.
Leni, die jüngste der Gruppe, wurde zum Glück nicht verhaftet, aber ihr Vater, Willi Pertz, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie spricht selten darüber, was es bedeutet, zehn Jahre um einen Vater bangen zu müssen, den man liebt und dem man auch politisch verbunden ist.
Im November 1948 kam ich aus Palästina nach Köln zurück – nachdem die englische Besatzungsmacht mir acht Monate lang aus politischen Gründen die Einreise verweigert hatte. Zu den ersten, denen ich wieder begegnete, gehörte Leni, damals eine schlanke, sehr attraktive junge Frau, die viele Verehrer hatte, zu denen ich mich auch zählte. Sie hatte gute Verbindungen zu den Falken, konnte uns über ihren Freund Peter Görres, den hochintelligenten Betriebsratsvorsitzenden von Ford, einen Draht zum wichtigsten Kölner Betrieb schaffen. Alle politischen Gruppen, die vor 1933 bestanden – von der KPO über die SAP bis zur KAPD, Roten Kämpfern, Trotzkisten oder Anarchisten – versuchten politisch wirksam zu werden. Die meisten reihten sich in die Massenparteien SPD und KPD ein. Es gab allerdings auch in allen Besatzungszonen zunächst das Bestreben, „den Bruderkampf zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zu begraben” und eine allumfassende sozialistische Einheitspartei zu schaffen. Dies scheiterte nicht nur an den Besatzungsmächten im Westen, die eine revolutionär-sozialistische Massenbewegung fürchteten, und im Osten, weil die KPD glaubte, die Mehrheit der Arbeiterklasse hinter sich zu haben.
In Hannover verhandelten Otto Brenner für die SAP und Willi Eichler für den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) mit Kurt Schumacher für die SPD und legten ein gemeinsames Memorandum vor, in dem sie den Aufbau der neuen Partei als „Kampforganisation” forderten, „die sich die Eroberung der Staatsmacht zum Ziel gesetzt hat, um mit Hilfe dieser Macht den Sozialismus zu verwirklichen”. Da aber, hieß es weiter, „in der demokratisch-parlamentarischen Methode kein sicheres Mittel zur Erreichung der politischen Macht” zu sehen sei, müsse diese Partei bereit sein, in revolutionären Zeiten „auch ohne Zustimmung der Mehrheit des Volkes die Macht zu ergreifen.” Da kann ich nur sagen: Lenin ist da viel vorsichtiger gewesen.
In Köln hatte sich Schorsch Jungclas niedergelassen, der sozusagen die kleine deutsche trotzkistische Bewegung auf seinen Schultern trug. Vergessen wird jedoch hinzuzufügen, daß es Leni war, die Schorsch auf ihren Schultern getragen hat. Und Schorsch konnten auch seine ergebensten und treuesten Anhänger eines nicht nachsagen: daß er ein Feminist gewesen sei. Es war Leni, die ihn durch die Lande kutschierte. Sie war es, die als Modistin Geschäfte eröffnete, die nicht nur als Versammlungsorte dienten, sondern oft auch die materielle Grundlage für politische Arbeit schufen.
Es klingt nach mächtiger Übertreibung, und doch ist es wahr: Diese kleine Gruppe führte viele Jahre die Sozialistischen Falken, nicht nur vom Mittelrhein, sondern auch in Berlin. In ihrem „Marxistischen Arbeitskreis” schulte sie spätere Stadtverordnete, Landtagsabgeordnete, Bundestagsabgeordnete und sogar einen, der SPD-Minister wurde. In der algerischen Revolution gab Willi Pertz, Lenis Vater, seinen Namen her für die Herausgabe von Freies Algerien. Das war durchaus nicht ungefährlich, denn vier Vertreter der algerischen Freiheitsbewegung wurden in Köln auf offener Straße von Agenten des französischen Geheimdienstes ermordet. Ich weiß nicht, wie viele von denen, die nach dem Sieg der FLN in Algerien hohe Ämter bekleideten, von Leni durch Deutschland geschleust oder von ihr aufgenommen und beköstigt worden sind.
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Zwei Weltkongresse der IV. Internationale wurden in Deutschland abgehalten, ohne daß denen, die illegal einreisten, die in ihren eigenen Ländern verfolgt wurden und deshalb in der Illegalität lebten, hier etwas zugestoßen ist. Und es war auch Lenis Verdienst, daß all dies organisiert werden konnte.
Daß ein Genosse, der zur Kölner Gruppe engen Kontakt hatte, später in Managua als Polizeipräsident die Korruption und Gewalttätigkeit ausgerottet hat, so daß zum ersten Mal in diesem Land die Polizei vom Volk als Helfer angesehen wurde, daß dieser Compañero später Postminister in Nicaragua war und in der Abwehr eines Angriffs der Contras ermordet wurde, soll nicht der Vergessenheit anheimfallen.
Leni hat, nachdem sie ihre unterkapitalisierten Hutgeschäfte liquidieren mußte, jahrelang in einer deutschen Behörde gearbeitet, und auch in dieser Zeit niemals ihre politische Aktivität aufgegeben. Sie scheute sich vor keiner noch so einfachen und mühseligen Arbeit in der Organisation, konnte aber auch bösartig werden, wenn sie glaubte, jemand wolle sich davor drücken.
Sie begann sozusagen ein völlig neues Leben, nachdem sie ererbtes Eigentum in Köln verkaufte, in einem kleinen Dorf ein Häuschen erwarb, das sie zum Schulungsheim der Organisation machte. Es gibt wohl niemand, der trotz der Beengtheit des Ortes sich dort nicht wohl fühlte. Und allen, die einen Horror vor der deutschen Kälte haben, kann ich nur empfehlen, die einfachen und doch so wundervoll zubereiteten Gerichte von Leni zu kosten. Ganz abgesehen davon, daß sie dort eine Atmosphäre zu schaffen verstand, die in Parteien und Organisationen leider nur selten anzutreffen ist.
Daß Leni nicht nur in der Zeit des Faschismus, in der langen Periode des kapitalistischen Wirtschaftswunders Sozialistin geblieben ist, sondern auch der Zusammenbruch der Staaten im Osten und die Überflutung der Länder des Westens mit der Ideologie des Neoliberalismus sie nicht verwirren konnte, zeugt für ihre Charakterfestigkeit und von ihrer Überzeugung, daß die Zukunft der sozialistischen Demokratie gehören wird. Trotz alledem!
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 311 (September 1997). | Startseite | Impressum | Datenschutz