Portugal/Geschichte

Nelken in den Gewehrläufen

Es war der 25. April 1974, eine halbe Stunde nach Mitternacht. In das Studio des katholischen Senders Rádio Renasçenca trat ein junger Pionieroffizier und bat, ein Lied auszustrahlen – Grândola, vila Morena. Es war populär, drückte es doch die Stimmung vieler Menschen damals aus. Arglos legten die Redakteure die Platte auf: „Grândola, dunkle Kleinstadt, Land der Brüderlichkeit. Das Volk herrscht wieder in Dir, oh Stadt.“

Hans-Jürgen Schulz

Diesmal war das kein sentimentaler Traum. Junge Offiziere überall im Lande hatten auf dieses Signal gewartet. In der Nacht rückten Truppen aus – nicht auf Befehl der eigentlichen Kommandeure. Sie besetzen Sender, das Heeresministerium und den Flugplatz. Ab 3:15 Uhr wurde alle 15 Minuten eine kurze Mitteilung ausgestrahlt: „Hier ist die Bewegung der bewaffneten Streitkräfte.“ Sie habe die Macht übernommen und ordne Alarmbereitschaft an. „Viva Portugal“ endete der Spot. Sehr informativ war das nicht. Niemand kannte die Bewegung, die sich MFA nannte (Erläuterung der Abkürzungen siehe am Ende des Artikels). Doch der Putsch konnte nur eins bedeuten: Sturz des verhassten halbfaschistischen Regimes.

 

Nelkenrevolution

25. April 1974, Quelle: Centro de Documentação 25 de Abril

Am frühen Morgen strömten jubelnde Menschen durch die Straßen und überschütteten die Soldaten in ihren Panzern und Fahrzeugen mit Blumen. Die steckten sie in die Gewehrläufe, zum Zeichen ihrer Verbundenheit mit dem Volk. Regierungstreue Kommandeure setzten ihre Einheiten in Marsch. doch die Soldaten verbrüderten sich. Als ein Panzermajor den Feuerbefehl gab, wurde er nur ausgelacht. Nur der Geheimdienst PIDE (Polícia Internacional e de Defesa do Estado), die politische Polizei (DGS) und die Republikanische Nationalgarde, spezialisiert auf die Unterdrückung von Streiks und Demonstrationen, leisteten kurz Widerstand. Entmutigt gaben sie auf. Das alte Regime fiel in sich zusammen. Es hatte kaum Tote gegeben.

Präsident Caetano übergab dem Beauftragten der MFA, General Spinola, die Macht. „Ich lege sie in ihre Hände, damit sie nicht dem Mob in die Hände fällt.“ Danach verschwand er im Exil, zunächst auf Madeira. Die radikale Linke in Europa hoffte, die erste Phase der sozialistischen Revolution in Europa wäre nun eingeläutet. Die deutsche Sektion der 4. Internationale gab mit den Portugal-Nachrichten sogar eine eigene Zeitschrift heraus, die schnell und umfassend über die Entwicklung berichtete.

Nach anderthalb Jahren war die Hoffnung verflogen. Für die Jungen ist die Nelken-Revolution heute graue Vorzeit und die Älteren haben sie vergessen. Gewiss, alles endete mit einer Niederlage. Aber wie es dazu kam, bleibt lehrreich.


Die alte Ordnung


Es war ungenau, von einem faschistischen Regime zu sprechen. 1926 hatte das Militär geputscht, mit der Macht aber nichts anfangen können. Zwei Jahre später übergaben die Generale Finanzminister Salazar mit diktatorischen Vollmachten faktisch die Macht. Der baute, beeinflusst von Mussolini, einen „neuen Staat“ auf (estado novo). Jede Opposition wurde brutal unterdrückt, Folter war normale Vernehmungsmethode. Ohne jede Anklage war die Inhaftierung für ein halbes Jahr möglich. Eine strikte Zensur unterband jede Diskussion. Die Träger des Regimes waren in einer Staatspartei (União Nacional) organisiert. Das Parlament hatte nur dekorative Bedeutung. Wählen durften Männer, die lesen und schreiben konnten, sofern sie Steuern zahlten. Frauen mussten schon ein Abitur vorweisen. Doch nur wenige übten dieses „Recht“ aus. Das Regime setzte ohnehin nicht auf Ideologisierung, sondern auf Apathie, die freilich durch Terror erzwungen war. Grundlage der Herrschaft waren Armee und Kirche. Die predigte bei jeder Gelegenheit das Wort von Papst Leo XIII, „Ehrfurcht zu haben vor der Oberhoheit der Staatslenker, dauerhafte und treue Unterordnung zu üben … keinen Aufruhr zu stiften und die Ordnung im Staat als etwas Heiliges zu behandeln.“

Ausgeübt wurde diese Herrschaft im Interesse eines Clans von acht Familien (de Mello, Champalimaud, Figuereido, Vinhas, Lagos und andere), deren Vertreter die wichtigsten Ministerien besetzten. Es war das System einer kaum verhüllten autoritären, räuberischen Herrschaft des Kapitals in einem zurückgebliebenen Land.

Es war das weitaus ärmste Land in Westeuropa (Durchschnittseinkommen 710 Dollar gegenüber 1100 in Spanien). 38 % der Erwachsenen waren Analphabeten. 60 % der Wohnungen kannten weder fließend Wasser noch Elektrizität. Zwei Millionen oder ein Drittel der Arbeitsfähigen (Einwohnerzahl knapp 10 Mio.) lebte im Ausland.

Stimmt für die sozialistische Revolution – wählt LCI

1975, Foto: Henrique Matos

 

Dieser zurückgebliebene Kapitalismus hatte sich nur durch schrankenlose Ausbeutung der Kolonien halten können. Ein Drittel der Exporte ging dorthin. Hartnäckig wurde darum dieser letzte Markt verteidigt und jede Unabhängigkeit abgelehnt. Doch seit einem Jahrzehnt kämpften in Guinea-Bissau, Angola und Mosambik immer stärker werdende Partisanen. Zwar erhielt Portugal viel Wirtschaftshilfe und Rüstungsmaterial, vor allem aus den USA und der BRD. Doch die Last des Krieges wurde dennoch immer drückender.

Ausgerechnet General Spinola, einer der Kommandeure der Kolonialarmee, hatte in seinem Buch „Portugal und die Zukunft“ geschrieben, ein Sieg sei unmöglich geworden. Das Finanzkapital wollte darum Frieden, um die Kolonien indirekt beherrschen zu können. Es wollte sich auch stärker dem europäischen Markt anschließen. So sann es über Alternativen nach.

In der Armee breitete sich der Frust aus. Einst stand die Offizierslaufbahn nur Abkömmlingen der herrschenden Klasse offen. Doch die mochte ihre Haut nicht zum Markte tragen. 1958 hatte man die Militärakademie Söhnen aus dem Kleinbürgertum geöffnet. Durch den Krieg in den Kolonien brauchte man zusätzlich Offiziere.

Studenten wurden schon nach halbjähriger Ausbildung zum Unterleutnant (Milicianos) ernannt. Mit ihnen kam oppositionelle Unruhe. Im 4500 Mann starken Offizierskorps (davon 2500 Berufsoffiziere) breiteten sich sozialistische, ja revolutionäre Ideen aus. Die Fundamente des alten Regimes waren längst unterspült.


Übergangsregime


Das alte Regime muss einen linken Militärputsch für völlig undenkbar gehalten haben, wurde es doch völlig überrascht. Immerhin hatten sich in der MFA etwa 400 junge Offiziere illegal organisiert und den Umsturz lange geplant. Das war fast ein Zehntel des Offizierskorps. Es war freilich kein einziger hoher Offizier unter den Verschwörern. Den obersten Rang hatte ein Oberstleutnant.

Eingebunden in eine strikte militärische Hierarchie und Disziplin, abgeschnitten von freier Information und offener Diskussion und ohne jede Erfahrung kollektiver Aktion, konnten sie nur ein radikales kleinbürgerliches Bewusstsein entwickeln.

Das darf nicht abwertend verstanden werden, sondern soll diese Offiziersgruppe gesellschaftlich charakterisieren.

Unklar und widersprüchlich, durch viele Kompromisse im Offizierskorps deformiert, waren die politischen Ziele. „Die MFA ist keine Partei, … sondern ein politisches Instrument … über den Parteien“, erklärte Otelo de Carvalho, einer der Führer der Bewegung. In dieser Unbestimmtheit war es sogar korrekt. Die Radikalität drückte sich darin aus, dass man den Sozialismus aufbauen wollte, aber „wir sind uns nicht darüber klar, welche Art von Sozialismus“ das sein sollte, erklärte der spätere Admiral Coutinho. Es durfte nur kein osteuropäischer sein. Die erste Proklamation war noch unbestimmter. Die Revolution sei eine „Demonstration der bürgerlichen Freiheit“ hieß es. Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung wurden versprochen, ansonsten aber „alle Portugiesen zu Ruhe und Patriotismus“ ausgerufen. Nicht einmal Frieden in den Kolonien wurde versprochen.

Die jungen Offiziere waren unsicher und unerfahren. Ausgerechnet den reaktionären Spinola machten sie zum Präsidenten. Den bisherigen Stabschef Costa Gomes ließen sie im Amt. Die bildeten eine „Junta der nationalen Rettung“ aus hohen Offizieren und einen Staatsrat, in dem je sieben Vertreter der Junta und der MFA sowie sieben „Unabhängige“ saßen.

Das waren natürlich Reaktionäre. In die neue Regierung holte man zwar ein paar Parteiführer. Ansonsten aber bestand sie aus „Fachleuten“, das heißt Männern, die dem alten Regime gedient hatten. Auch den Bischöfen hatte der Sturz ihres Regimes keineswegs die Sprache verschlagen. Die Bischofskonferenz rief zu „Harmonie und Frieden“ auf, „Hass, Rache und Klassenkampf“ dürften gar nicht erst aufkommen.

Gravitätisch bot Spinola den Befreiungsbewegungen der Kolonien den „Aufbau einer großen Lusitanischen Gemeinschaft mit allmählich fortschreitender Autonomie“ an. Costa Gomes, Vizepräsident der Junta, bot einen Waffenstillstand an – aber nur wenn die Partisanen die Waffen niederlegen würden. Dafür wurden ihnen Amnestie und politische Freiheiten versprochen, andernfalls würde der Krieg weiter gehen. Dankend lehnten sie ab.

Geheimdienst und Staatspartei wurden aufgelöst, aber Staatsapparat, Polizei, Wirtschaftssystem und Ordnung des Eigentums blieben. Das alles war ohne Zweifel eine politische Revolution, denn das alte politische System wurde zerschlagen, eine bürgerliche Demokratie eingeführt. Doch ohne eine alles mitreißende Massenbewegung hätten die auf sich allein gestellten Offiziere vielleicht ein System wie das der „freien Offiziere“ unter Nasser in Ägypten errichtet. Aber sie hatten eine Lawine losgetreten, die zunächst einmal vieles wegriss.


Massenbewegung


 

Parteien und Organisationen

CDS

Centro Democrático e Social (Demokratisch Soziales Zentrum, reaktionäre Partei)

ELP

Exército de Libertação de Portugal (Portugiesische Befreiungsarmee, die in Spanien als bewaffneter Arm der MDLP Kommandos aufstellte)

FSP

Frente Socialista Popular (Sozialistische Volksfront, im Dezember 1974 von der PSP abgespalten)

LCI

Liga Comunista Internacionalista (Internationalistische Kommunistische Liga, noch in der Illegalität gegründete Sektion der 4. Internationale; später PSR)

LUAR

Liga de Unidade e Acção Revolucionária (Vereinigte Liga der revolutionären Aktion, 1967 als bewaffnete Organisation gegründet, löste sich 1976 auf)

MDLP

Movimento Democrático de Libertação de Portugal (Demokratische Befreiungsbewegung Portugals, militante konterrevolutionäre Organisation unter General Spinola)

MDP

Movimento Democrático Português (Demokratische Bewegung Portugals; 1969 als Organisation zu de Wahlen gegründet, später von PCP beherrscht)

MFA

Movimento das Forças Armadas (Bewegung der bewaffneten Streitkräfte, Organisation der Militärs)

MES

Movimento da Esquerda Socialista (Bewegung der Sozialistischen Linken; zentristische Organisation, die bald mehrere Spaltungen durchmachte und Ende der 70er Jahre in die PSP eintrat)

MRPP

Movimento Reorganizativo do Partido do Proletariado (Bewegung zur Reorganisation der Partei des Proletariats: extrem rechtsmaoistische und sektiererische Gruppe, die 1976 zur Wahl von General Eanes aufrief)

PCP

Partido Comunista Português (Kommunistische Partei Portugals).

PCP(ml)

Partido Comunista Português / marxista-leninista (Kommunistische Partei Portugals /marxistisch-leninistisch; sektiererisch-maoistische Gruppe, die in der PCP den Hauptfeind sah)

PPD

Partido Popular Democrático (Demokratische Volkspartei; führende bürgerliche Kraft)

PRP

Partido Revolucionário Português (Revolutionäre Partei Portugals, 1970 gegründet; organisierte „revolutionäre Brigaden“)

PRT

Partido Revolucionário dos Trabalhadores (Revolutionäre Arbeiteiterpartei. mit der 4. Internationale sympathisierende Organisation, die später mit der LCI zur PSR fusioniert)

PSP

Partido Socialista Português (Sozialistische Partei Portugals, 1973 in Bad Münstereifel gegründete sozialdemokratische Partei)

SUV

Soldados Unidos Vencerão (Vereinigt werden die Soldaten siegen; radikale illegale Soldatenorganisation)

UCP

Unidade Colectiva de Produção (Kollektive Produktionseinheit; von der Gewerkschaft der Landarbeiter:innen organisierte Produktionsgenossenschaften)

UDP

União Democrática Popular (Volksdemokratische Union, von der PCP abgespaltene maoistische Organisation, stärkste Kraft links von der PCP)

Am 1. Mai, kaum eine Woche nach der Revolution, marschierten überall Massen auf, Arbeiter:innen und Soldaten demonstrativ Arm in Arm. Manch Manager wurde einfach aus dem Betrieb gejagt, viele Betriebe besetzt. Eine gewaltige Streikbewegung setzte binnen weniger Tage Lohnerhöhungen von bis zu 50 % durch. Rathäuser und Verwaltungen der Kommunen wurden kurzerhand besetzt und alte durch neue Leute ersetzt, zumindest an der Spitze. Eine vorrevolutionäre Lage zeichnete sich ab, doch zunächst nur für ein paar Wochen.

Die Massen können in solcher Lage spontan in Richtung einer Revolution vorwärts stürmen. Sie verjagen die alten Herren und zerstören die Symbole ihrer Herrschaft. Jene, die gestern noch apathisch und meinungslos schienen, nehmen ihr Recht selbst in die Hand. Sie können sich sogar spontan organisieren, aber sie stürzen nicht die bestehende Gesellschaft. Jede spontane Massenbewegung, die sich nicht organisiert und ihre Ziele nicht selbst bestimmt, wird früher oder später von den erfahrenen Kadern oder Politikern der bestehenden Parteien eingefangen und kontrolliert.

Darum soll zunächst dargestellt werden, wie die Parteien sich formierten und handelten. Die Bewegung wird unter Kontrolle genommen. Kapital, Großgrundbesitz, konservativer Staatsapparat und Kleinbürgertum waren überrascht, geschockt und weitgehend gelähmt.

Die revolutionäre Linke wurde bald viel stärker als in jedem anderen kapitalistischen Land. Sie hatte auf dem Höhepunkt der Bewegung weit über 10 000 Aktivist:innen. Aber die waren in viele Organisationen gespalten und oft noch sektiererischer als militant. Alle hatten schon in der Zeit der Illegalität existiert, wenn auch oft als winzige Gruppen. Am stärksten waren die Maoisten, die meist aus Abspaltungen der Kommunistischen Partei entstanden waren. Die UDP war die stärkste dieser Organisationen und blieb für die KP eine Herausforderung. Andere wie die MRPP oder die PCP(ml) sahen in der PCP den Hauptfeind und forderten sogar deren Verbot. Wiederum andere wie die LUAR und PRP waren politisch-militärische Organisationen.

Sie alle hatten eine Basis teils in der studierenden Jugend, meist auch unter kämpferischen Arbeiter:innen, die LUAR auch auf dem Lande und in der Stadtteilarbeit. Wichtigste zentristische Organisation war die MES, die im Wesentlichen aus radikalen Teilen der christlichen Linken hervorging, vor allem in der jungen Intelligenz verankert war und revolutionäre Positionen einnahm. In der Zeit der „Normalisierung“ driftete sie bald nach rechts und die Mehrheit trat in die PSP ein.

Die Trotzkist:innen hatten in der letzten Zeit der Diktatur mit der LCI und PRT zwei Organisationen unter den Studierenden gegründet, die infolge der Illegalität nichts voneinander wussten. Sie hatten damals nur wenige Dutzend Mitglieder, später jeweils etwa 300. Die Internationale wusste vor der Revolution nur von der Existenz der LCI.

Eigentliche Oppositionspartei war die PCP, die aus der Illegalität mit 3000 Kadern und der von ihr beherrschten MDP hervorging. Offenbar wurde sie von der Sowjetunion massiv unterstützt, denn wenige Monate nach der Revolution konnte sie einen Apparat von 3000 Freigestellten finanzieren. Sie war vor allem unter den Industrie- und Landarbeiter:innen stark. Die PSP war erst 1973 in der BRD gegründet worden und vor der Revolution im Lande praktisch nicht vertreten. Über die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD wurde sie massiv finanziert und konnte sich rasch einen Parteiapparat aufbauen. Ihre Mitglieder kamen überwiegend aus dem Kleinbürgertum. In ihrem Programm bezog sie sich ausdrücklich auf den Marxismus, forderte Arbeiterräte und Selbstverwaltung. Auf dem Höhepunkt der revolutionären Krise im Oktober 1975 erklärte der Parteiführer Soares, sozialdemokratische Politik sei in Portugal nicht anwendbar. „Wir wollen eine wirklich sozialistische Gesellschaft … direkte Demokratie und Selbstverwaltung“. Mit dieser Demagogie wurde die klassische sozialdemokratische Politik bemäntelt. Der sozialistische Flügel war schon Ende 1974 aus der Partei gedrängt worden und hatte die FSP gegründet.

Es fehlten somit nicht Parteien, die sich als revolutionär verstanden. Doch entweder verfolgten sie reformistische Ziele durch Druck auf den Staatsapparat wie die PCP, waren sektiererisch wie die meisten Maoisten oder noch unerfahren wie die LCI oder die Zentristen. Die PCP wollte die Machtfrage nicht stellen, die anderen konnten es nicht. Die Massenbasis fehlte jedenfalls nicht. Der Gewerkschaftsverband Intersindical war schon 1970 als halblegaler Zusammenschluss von relativ kleinen Gewerkschaften gegründet worden. 1973 hatte er einen erfolgreichen Kampf um die Anhebung der Mindestlöhne geführt. Die PCP als einzige Organisation mit wirklichem Masseneinfluss beherrschte ihn von Anfang an.


Radikale Massenbewegung


Die Machtstruktur der alten Ordnung wurde in den nächsten Monaten durch eine spontane Bewegung erschüttert. Arbeiter:innen setzten gewaltige Lohnerhöhungen durch. In vielen Betrieben bildeten sich Arbeiterkommissionen, auch wenn sie meist nur Kontrollfunktionen übernahmen. Im Laufe eines Jahres wurde etwa die Hälfte der Industrie und viele Großunternehmen wie Banken, Versicherungen oder die Luftfahrtgesellschaft verstaatlicht. Häuser wurden besetzt. Im Alentejo wurde der Großgrundbesitz enteignet und mit den UCP's Produktionsgenossenschaften der Landarbeiter:innen gebildet. Die Spitzen der Verwaltung wurden überall abgesetzt, ein erheblicher Teil des reaktionären Offizierskorps pensioniert (40 % der Offiziere im Heer).

Anfang Juni 1974 streiken 10 000 Textilarbeiter:innen, unter anderem gegen das Recht der Aufseher, Frauen auf den Toiletten zu kontrollieren. Gleichzeitig streikte die Post mit 40 000 Beschäftigten. Gefordert wurde ein Mindestlohn, die 35-Stundenwoche, Veto bei Entlassungen, Entlassung der Faschos und Veröffentlichung der Spitzengehälter.

Nicht die Intersindical, sondern Arbeiterkommissionen organisierten den Streik. Geführt wurde er von gewählten Delegierten auf Betriebsbasis. Streikleitung war die nationale Delegiertenversammlung, die täglich zusammentrat und laufend berichtete.

Diese Bewegung wurde von den Militärs, vor allem aber von der PCP und der von ihr kontrollierten Intersindical bekämpft. Nicht nur, dass PCP-Vorsitzender und Arbeitsminister Cunhal die Kapitalisten aufforderte, „so schnell wie möglich“ eine starke Vereinigung zu bilden. Die Partei wollte nicht die Revolution, sondern demokratischen Wandel und eine „Regierung, die alle demokratischen Kräfte repräsentiert“ – vor allem das Bürgertum. Die Parteizeitung Avante kämpfte „gegen anarchistische Streiks, die dem Faschismus nutzen“.

Am 1. Juni führte Intersindical eine große Demo mit der Losung, „Wir sagen nein zu Streiks“ durch. Den Streik bei der Post bezeichnete die PCP als „Sabotage am nationalen Wiederaufbau“. Kommandos der PCP öffneten in einigen Fällen gewaltsam Postämter. Die Regierung verbot Betriebsbesetzungen und „wilde“ Streiks.

Arbeitskämpfe wurden an eine Zwangsschlichtung gebunden, Demonstrationen strikten Auflagen unterworfen, „Anstiftung zu militärischem Ungehorsam“ unter strenge Strafe gestellt, politische Aktivitäten an den Universitäten verboten. Die PCP spielte eine konterrevolutionäre Rolle und isolierte sich von der radikalen Bewegung und ermöglichte der Sozialdemokratie, sich als Verteidigerin demokratischer Rechte und des Sozialismus aufzuspielen. Unter den Angestellten und den Arbeiter:innen kleiner Betriebe gewann sie nun viel Anhang.


Formierung der Konterrevolution


Alle Parteien nannten sich damals sozialistisch, auch die reaktionärsten. Aber die alte Gesellschaft behielt ihre Basen. Der Staatsapparat war nur an der Spitze ausgetauscht. Teile der bewaffneten Organe wie die Republikanische Garde und die Polizei waren Stützen des alten Regimes gewesen und änderten ihre Haltung nicht. Die Kirche, das Bürgertum und die Bauernverbände wurden bald zu Organisatoren der konterrevolutionären Kräfte. Dies wurde dadurch erleichtert, als die Nelkenrevolution kein Programm für die armen Bauern hatte, die in Mittel- und Nordportugal dominierten. So wurden gerade sie bald zur stärksten Bastion der Rechten, die durch die Rückkehr der Kolonisten und Angehörigen der Kolonialverwaltung (über 300 000) aus den befreiten Kolonien verstärkt wurden.

Es war zwar richtig, für die Freiheit der Religion einzutreten. Aber es wurde unterlassen, einen Kampf gegen den politisierenden Klerus zu führen. Die „Zukunft der Revolution“ hänge von den Christen ab, behauptete der Bischof von Coimbra.

Nur Parteien mit christlicher Ideologie seien wählbar, verkündete die Bischofskonferenz. Unter dem Banner des Christentums sammelte sich die Rechte in der CDS und vor allem in der PPD. Bald gab es aber auch in der MDLP und der mit ihr verbundenen ELP militär-politische Organisationen, die mit Terror die neue Ordnung stürzen wollten. Hinzu kamen natürlich die Wirtschaftssabotage und die Kapitalflucht, mit denen jede Revolution fertig werden muss.

Am 11. März 1975 versuchte die Konterrevolution einen Putsch unter General Spinola. Vor allem Intersindical und PCP mobilisierten Hunderttausende, die die Straßen blockierten. Teile des Militärs schwankten zwar, verteidigten dann aber die Revolution. Die Putschisten flohen ins Ausland. Die konkrete Gefahr einer gewalttätigen Konterrevolution radikalisierte Millionen, polarisierte aber auch die Massen. Es entstand eine vorrevolutionäre Lage, die bis zum November dauerte. „Möglich ist jetzt eigentlich alles in Portugal“, meinte Otelo de Carvalho.


Sozialismus?


Äußerlich schien die Lage stabil zu sein. Bei den Wahlen im April 1975 kam die PCP nur noch 12,5 % der Stimmen (hinzu kamen 4,1 % der MDP). Sieger waren die Sozialdemokraten (37,9 %), die noch den Sozialismus forderten, und die bürgerlichen Parteien PPD und CDS (34 %). Zentristen (MES und FSP) kamen auf 2,2, revolutionäre Gruppen auf 1,6 %. Doch fast alle waren für den Sozialismus. Die Abgeordneten beschlossen eine neue Verfassung, die den „Übergang zum Sozialismus“, die „Überführung in eine klassenlose Gesellschaft“ und „Ausübung der Macht durch die arbeitende Klasse“ vorsah. Entscheidende Kraft blieb das Militär, dessen Bewegung eine halbwegs demokratische Struktur aufgebaut hatte. In den Kasernen wurden Delegierte gewählt, zuerst nur der Offiziere, dann aller Berufssoldaten. Sie bildeten die 240 Mann starke Versammlung der Streitkräfte und wählten einen Revolutionsrat von etwa 20 Leuten (Präsident und Premier, sofern sie Offiziere waren, die Stabschefs der drei Waffengattungen und ihre Vertreter, 8 Vertreter der Armee und je drei der Marine und Luftwaffe), der geheim tagte. Dies war das eigentliche Machtzentrum, dessen Beschlüsse Gesetzeskraft hatten. Das Militär stellte zudem den Premier. Die meisten Minister wurden von den Parteien gestellt. Doch oft genug erfuhren sie die Beschlüsse der Regierung aus der Zeitung. Sie und die Parteien wurden als Berater verstanden. Premier Gonçalves erklärte vor den ersten freien Wahlen, „das Wahlergebnis wird … den portugiesischen revolutionären Prozess nicht entscheidend beeinflussen.“ In einer Regierungserklärung wurde unumwunden betont: „Die Unterstützung der Streitkräfte wird … durch die politische Orientierung auf die Anweisungen des Revolutionsrates gewährleistet … Leitlinie für konkrete Maßnahmen und Politik der Ministerien ist das Programm der MFA.“


Revolutionäre Krise


In den nächsten Monaten radikalisierten sich die Massen. anderthalb Millionen Arbeiter:innen streikten. das war fast die gesamte Klasse. 300 Betriebe standen unter staatlicher Kontrolle, 220 unter Selbstverwaltung der Belegschaften. Mitte November 1975 belagerten die Bauarbeiter mehrere Tage lang das Parlament, um Lohnerhöhungen durchzudrücken – erfolgreich.

Die Landarbeiter:innen begannen sich zu bewaffnen, um das besetzte Land zu verteidigen. Am 8. November gab es eine große Konferenz in Lissabon, zu der Intersindical, 115 Arbeiterkommissionen, die revolutionären Kommissionen zur Unterstützung der Agrarreform (CRARA), Verbände der Mieter und Intellektuellen eingeladen hatten. Auf der Tagesordnung hätte die Gründung eines Sowjets stehen sollen. Doch die Konferenz kam über allgemeine, wenn auch radikale Erklärungen nicht hinaus.

Gleichzeitig zerfiel das Militär. Der Revolutionsrat fraktionierte sich und war nicht mehr handlungsfähig. Im SUV bildete sich eine illegale Vereinigung von Soldaten, die teils von Kräften links von der PCP geführt wurde, unter anderem der LCI. Sie erklärte, dass die „MFA eine konterrevolutionäre Politik“ betreibe und richtete einen „Appell an die Soldaten und Arbeiter Europas“.

Am 10. September organisierte sie eine Demo in Porto, an der 1500 Soldaten teilnahmen. Als einige Soldaten verhaftet wurden, stürmten 30 000, davon 5000 Soldaten in Uniform, das Militärgefängnis Trafaria, wo sich die Wachmannschaften solidarisierten. In den Kasernen wurde begonnen, Soldatenräte zu bilden, auch wenn deren Forderungen noch sehr gemäßigt waren (freie Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln, bessere Kantinen, aber auch Ausschluss reaktionärer Offiziere und Verbindung zu den Organen der Volksmacht).

Die militärische Hierarchie zerfiel. Anfang November verließen 150 Offiziere der Luftwaffe ihre Einheiten und stellten sich dem Chef der Luftwaffe zur Verfügung, weil … die Soldaten … ihre Position als Offizier infrage stellen“. Das sei unter ihrer Würde.

Das Oberkommando versuchte, die Armee zu verkleinern und dabei die revolutionären Herde aufzulösen, vorerst vergeblich. Doch nirgendwo wurden revolutionäre Organe der Macht gebildet, und das sollte sich rächen. Die wirtschaftliche Lage hatte sich durch Kapitalflucht und Investitionsstreik, Sabotage der Produktion, Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit verschlechtert. Die Konterrevolution mobilisierte. Anfang Juli verabschiedeten katholische Bischöfe einen Aufruf: „Christen erwachet, wir müssen massenhaft im ganzen Land demonstrieren“. Kleinbürgertum und Bauern gingen zu Zehntausenden auf die Straße mit Losungen wie „Demokratie mit Ordnung“, „Rechte der katholischen Kirche“ und „Nieder die Kommunisten“. Im Norden wurden viele Büros der PCP und der Organisationen links von ihr zerstört:

Im September 1975 war die Regierung umgebildet worden und an die Stelle der PCP die PSP als führende Kraft getreten.

Die PSP mobilisierte unter dem Vorwand der Verteidigung der Demokratie und der Regierung Massen in Demos bis zu 100 000 gegen die PCP. Sie wird dabei von den rechten Maos wie der MRPP oder PCP (ml) unterstützt, während die MES erklärt, „die Sozialdemokratie ist eine Übergangsphase zum Faschismus“.

Seit September organisierte dann die PCP die größten Demos von allen, doch mit sehr begrenztem Ziel. PCP-Chef Cunhal erklärt auf einer Massenkundgebung am 25. November, es solle ein antifaschistisches Bündnis zum „gemeinsamen Kampf gegen linksextremistisches und pseudorevolutionäres Abenteurertum“ geschaffen werden.


Ein Malheur


Wendepunkt wurde ein fast zufälliges Ereignis. Die Garnison in Tancos sollte aufgelöst werden. Die Fallschirmjäger besetzten ihren Stützpunkt und gleich einige andere mit. Ein paar weitere Einheiten schlossen sich an. Die Soldaten wollten an sich nur Druck ausüben, wohl auch die Zusammensetzung von Regierung und Revolutionsrat ändern. Es war eher eine bewaffnete Demonstration und in dieser Lage gefährlich.

PCP und revolutionäre Organisationen, Arbeiterkommissionen und andere Organe der Volksmacht verstanden nicht, was vor sich ging, und blieben völlig passiv.

Der Revolutionsrat nutzte die Chance und mobilisierte ihm ergebene Einheiten. Es kam zu einer kurzen Schießerei mit zwei Toten. Dann ergaben sich die Paras. Es wurden ein paar hundert Soldaten und Offiziere verhaftet, die linken Einheiten aufgelöst und radikale Offiziere wie Carvalho entlassen. Der Linken wurde unterstellt, einen Putsch geplant zu haben. Sechs ihrer Tageszeitungen wurden unter Militärverwaltung gestellt.

Kampflos wichen nicht nur die PCP, sondern auch alle anderen zurück. Die Organe der Volksmacht wie die Arbeiterkommissionen blieben inaktiv. Die spontane Bewegung zerfiel.

Dies war der Wendepunkt. In den nächsten Monaten festigten die rechten Militärs ihre Macht. Die Linke verlor ihre Basis in den Streitkräften völlig – und den Glauben an den Sieg der Revolution. Dieser sang- und klanglose Abgang bewies, dass es keine starke organisierte revolutionäre Kraft gab.

      
Mehr dazu
Mariana Carneiro: Frauen in der Nelkenrevolution, die internationale Nr. 2/2019 (März/April 2019)
Erklärung des IEK: Thesen zur portugiesischen Revolution, Inprekorr Nr. 53 (11. März 1976)
Appell der SUV an die Arbeiter und Soldaten Europas, Inprekorr Nr. 43 (16. Oktober 1975)
A. Udry: Nach dem missglückten Putsch vom 11. März - die Massen ergreifen die Initiative, Inprekorr Nr. 31 (17. April 1975)
C. Gabriel: Am Vorbend der Unabhängigkeit, Inprekorr Nr. 31 (17. April 1975)
Ernest Mandel: "Wehe den Revolutionären; die eine Revolutuion nur halb durchführen", die internationale Nr. 30/P (17. April 1975)
Anna Libera: Die portugiesische Kolonialpolitik, Inprekorr Nr. 28 (November 1973)
 

Normalisierung


Das heißt nicht, die Organisationen wären zerfallen. Anfang 1976 hatte die Intersindical 1,5 Millionen Mitglieder und wurde weiter von der PCP dominiert, musste in manchen Sektoren sogar die radikale Linke tolerieren. Unter Führung der PSP standen Gewerkschaften mit 500 000 Mitgliedern.

Bei den Wahlen im April kam die PSP auf 35,1 %, die bürgerlichen Parteien auf 39,6 %, die PCP auf 14,7 % (die mit ihr verbundene MDP kandidierte nicht).

Die Zentristen sanken auf 1,4 %, die anderen revolutionären Organisationen kamen auf 3,5 %.

Im Juli gab es dann Präsidentschaftswahlen. Der von einer großen Koalition (PSP, PPD, CDS) unterstützte General Eanes siegte überlegen (61,5 %). Doch der linksradikale Otelo de Carvalho erreichte erstaunliche 16,5 %, der PCP-Kandidat Pato nur 7,6 %. Doch das Ergebnis für Otelo war ein Strohfeuer.

In seiner Antrittsrede versprach Eanes, den Weg zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu ebnen. Es war der Weg in eine modernisierte kapitalistische Gesellschaft.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 272 (Juni 1994). | Startseite | Impressum | Datenschutz