Imperialismus

Nationalismus, Krieg und internationales Kapital – einige notwendige Anmerkungen

In den beiden Ausgaben von die internationale Nr.51/II und III (Innenteil der Inprekorr 282 und 283) entwickelt Hans-Jürgen Schulz mit zwei Artikeln („Deutsche Soldaten weltweit“ und „Rüstung, Krieg und Frieden“) eine Sichtweise auf die brennendsten Fragen von heute, die nicht unwidersprochen sein sollte.

Thies Gleiss

Zunächst fällt die Laxheit auf, mit der so manche Formulierung daherkommt. Sätze wie „Die Auseinandersetzungen nahmen eher die Form ethnischer denn soziale Konflikte an“ (Inprekorr 282, S. 17 und 19; Deutschfehler im Original) oder „Mit der bedingten Ausnahme von Berg Karabach sind alle Kriege interne Angelegenheiten“ (282/19) oder „Zur Zeit wird die Weltordnung recht erfolgreich gewahrt.“ (ebd.; wir könnten noch einige weitere Beispiele anführen) sind für eine Zeitschrift, die sich der differenzierten marxistischen Analyse und auch einem revolutionären Humanismus verpflichtet fühlt, starker Tobak. Fehlt der Platz und die Zeit für detaillierte Analysen, so wären die genau gegenteiligen Feststellungen um einiges näher an der Wirklichkeit: Wie schon immer in der Geschichte, heute aber vielfach deutlicher, sind „ethnische“, religiöse oder ideologische „Kriegsgründe“ nur der Schein der Dinge, der zudem von den Kriegstreibern und durch Manipulationsapparate größerer Reichweite und -tiefe mehr oder weniger bewußt erzeugt und gepflegt wird – wohingegen das Wesen durch knallharte, historisch entstandene und damit änderbare soziale Gegensätze, Interessens- und Machtkämpfe um die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts bestimmt wird. Oder: Heute ist die imperialistische Durchdringung der Welt noch einmal gegenüber der Entstehungsphase des Imperialismus gesteigert, so daß nicht ein einziger sozialer Konflikt auf der Welt ein „interner“ Konflikt ist, auch aus der Sicht der imperialistischen Mächte, die Lösung der Konflikte deshalb auch nur internationalistisch sein kann. Oder: Zur Zeit wird an allen Ecken der Welt vermehrt deutlich, daß die Wahrung der Weltordnung nach den imperialistischen Normen gerade nicht mehr erfolgreich zu bewerkstelligen ist; jahrzehntelang bewährte Methoden der Weltherrschaft geraten in die Krise; der Imperialismus selbst postuliert eine „neue Weltordnung“, gar nicht zu reden von der Perspektive der unterdrückten und verelendeten Massen auf der Welt, von den Erwerbslosen und Armen innerhalb der Metropolen.

Die Artikel von Hans-Jürgen Schulz bedienen sich auch eines eher unangenehmen polemischen Flankenschutzes: „Große Teile der Linken“ werden dort merkwürdiger Thesen zum Vierten Reich sowie zur Rolle des deutschen Imperialismus im ehemaligen Jugoslawien bezichtigt sowie zur Handlungsunfähigkeit verurteilt, ohne auch nur einen Text, eine reale linke Kraft wenigstens ansatzweise zu zitieren. „Sie (die Linke, d. Vf.) wird bestraft, weil sie das wahre Leben nicht mehr erkennt“ (283/19) Die hohe Schule der marxistischen Polemik, die Würze in jeder politischen Diskussion, ist dies nicht gerade, eher die Denunziation von Pappkameraden. Wenn alle diesbezüglichen Sätze aus den Artikeln gestrichen werden würden, dann würden letztere nichts verlieren und dafür kürzer und weniger ärgerlich sein. Wir sind sicher, daß es linke Gruppierungen gibt, die ungefähr das sagen, was ihnen unterstellt wird (zum Beispiel die „anti-nationale Linke“), aber eine Diskussion ihrer Thesen anhand ihrer eigenen Worte wäre sinnvoll. Nicht, um „nachzuweisen“, daß sie „handlungsunfähig“ im Sinne der Schulzschen Theorien sind – dabei wäre ja nur das Gegenteil wirklich überraschend -, sondern um aufzuzeigen, daß sie in der Praxis im Sinne ihrer eigenen Analysen zu hartnäckigen Widersprüchen gelangen müssen. Gleichzeitig kennen wir andere linke Kräfte, die die Thesen der „anti-nationalen Linken“ heftig kritisieren, um sie durch andere, nicht weniger falsche Theorien zu ersetzen (z.B. die Globalisierungs-Theorien von Karl-Heinz Roth oder die Thesen zur finalen Krise des Weltkapitals von Robert Kurz) und damit zu ganz anderen Widersprüchen in ihrer Praxis kommen. Polemik ist also notwendig und wäre schön – wenn sie denn wäre.


Imperialistisches Machtkartell


Die zentralen Thesen von Hans-Jürgen Schulz behaupten eine im großen und ganzen stabile imperialistische Weltordnung. „In den letzten 50 Jahren haben die imperialistischen Länder jedoch keinen Krieg mehr gegeneinander geführt. … Das Kapital denkt und operiert nicht mehr im nationalen Rahmen. … Im letzten halben Jahrhundert ist vielmehr ein internationales Machtkartell der entwickelten kapitalistischen Staaten entstanden, das seine Gegensätze überbrücken konnte und seine gemeinsamen Interessen gegen die ganze Welt nachdrücklich vertritt.“ (283/19). Um sich vor ungewünschten Schubladen zu sichern, führt H.J. Schulz gleichzeitig an: „Daraus ist kein Ultraimperialismus im Sinne von Kautsky, keine imperialistische Weltregierung und nicht einmal ein verbindliches internationales Schiedsgericht entstanden. Die Konzerne kooperieren und konkurrieren miteinander.“ (ebd.) Das mit dem Ultraimperialismus im Sinne von Kautsky akzeptieren wir, aber gibt es den Ultraimperialismus im Sinne von Schulz?

Unbestreitbar ist seit Beginn des Zeitalters des Imperialismus, daß das Kapital nicht mehr im nationalen Rahmen denkt und operiert. Dies hat bis heute zugenommen und selbst zur Zeit der beiden großen Weltkriege – also oberflächlich betrachtet Zeiten des alles überlagernden Nationalismus – wurde diese generelle Tendenz des Imperialismus zu stärkerer globaler Verdichtung nur wenig beeinträchtigt. In der vom Verfasser immer noch gern zu Rate gezogenen 48. Auflage des „Praktischen Kochbuchs“ von Henriette Davidis-Holle aus dem Dezember 1914, heißt es zwar im Vorwort: „… dieser Krieg, der uns manche Beschränkung in der Kochkunst auferlegt und es uns auch unmöglich macht, manche altbekannte und beliebte Zutaten in unserer deutschen Küche weiter zu verwerten, weil es Erzeugnisse aus Feindesland sind. Dies gilt vorzugsweise von Liebig's Fleischextrakt und Mondamin“, aber dennoch gedieh die internationale Geschäftstätigkeit des Kapitals selbst in diesen Zeiten. Der Sprung von der Geschäftswelt zum Weltgeschäft wurde bereits zur Jahrhundertwende literarisch verarbeitet. Die Globalisierung der Kapitalbeziehungen ist also nicht besonders neu. Ununterbrochene Konkurrenzkämpfe einschließlich zweier imperialistischer Weltkriege haben in der Tat im Laufe des 20. Jahrhunderts eine imperialistische Rangordnung etabliert, die für lange Zeit nicht anzutasten war: die ökonomische und militärische Vorherrschaft des US-Imperialismus, ein politisch und militärisch geschwächter deutscher und japanischer Imperialismus und sich mit der zweiten, dritten oder vierten Rolle zähneknirschend zufriedengebende britische, französische und andere kleinere imperialistischen Mächte. Diese Rangordnung auszufechten, hat die erste Hälfte des Jahrhunderts gedauert und sämtliche internationalen Machtstrukturen – von Weltwährungsfonds und Weltbank bis zu den Militärbündnissen und zur Uno – in denen die imperialistischen Mächte ihre Interessen auszugleichen versuchen, spiegeln diese Rangordnung wider. Ökonomisch betrachtet folgt die Internationalisierung des Kapitals dem Zwang der wachsenden Arbeitsteilung und den Ausgleichsbewegungen der Profitrate auf dem Weltmarkt. Antriebsmittel ist und bleibt dabei jedoch eine nicht abnehmende, sondern zunehmende Konkurrenz der Einzelkapitale. Dennoch ist die nationalstaatliche Verankerung der Einzelkapitale keineswegs unterbrochen. Auf ökonomischen Gebiet ist nationaler und regionaler Konkurrenzkampf nicht identisch mit dem internationalen, es gibt folglich verschiedene Ausgleichsbewegungen der Profitrate. Gleichzeitig bedeutet Nationalstaat für das Kapital einen unerläßlichen Komplex von Machtsicherungsinstrumenten – von Polizei- und Militärkräften bis zu den ideologischen Manipulationsapparaten und Abwehrmitteln gegen Konkurrenz aus anderen Staaten – und von Geschäftssicherungsinstrumenten – von Bildungseinrichtungen, Infrastrukturbereitstellung bis zu direkten Staatsbeteiligungen, Subventionen und Staatsaufträgen. Die Rolle des Staates im Funktionieren des Spätkapitalismus hat nicht etwa abgenommen, sondern gigantisch zugenommen. Wer heute von Überstaatlichkeit, Auflösung der Nationalstaaten und Weltregierung des Kapitals spricht, blendet mindestens Zweidrittel der Wirklichkeit aus und überbetont das letzte Drittel.

Dies wird noch zusätzlich unterstrichen, wenn nicht nur die ökonomischen Aspekte der Imperialismustheorie herangezogen werden, sondern auch die politischen: Imperialismus bedeutet auch ein Geflecht von politischen Strukturen, von Bündnispolitik, Aufbau von außenpolitisch und militärpolitisch wirkenden Flankierungen zur Geschäftspolitik, kurzum: Machtpolitik.

Der zentrale Widerspruch am Ende dieses Jahrhunderts ist demnach derselbe wie zu seinem Anfang: die wachsende internationale Vergesellschaftung des Produktionsprozesses auf der einen Seite, die folglich nach Weltregierung und demokratische internationale Beziehungen ruft, und die private Profitaneignung und nationalstaatliche Fesselung der Produktivkräfte zur Absicherung der Profite auf der anderen.

Es gibt also kein imperialistisches Machtkartell, „das seine Gegensätze überbrücken konnte“ (283/19), ebensowenig wie einen Supraimperialismus. Stattdessen gab es in wesentlichen politischen Fragen eine Zwangsgemeinschaft der imperialistischen Mächte unter Beachtung der beschriebenen Rangordnung. Der Grund dafür war die Existenz eines politisch und militärisch, mehr oder weniger revolutionär erkämpften „Lagers“ von nicht-kapitalistischen Staaten, an denen sich zusätzlich noch fast alle Aufstandsbewegungen und antikolonialistischen Revolutionen politisch wie militärisch orientierten. Die, oft nur eingebildete oder nur potentielle Bedrohung, die von diesem „Lager“ ausging, und die objektive Behinderung der Ausdehnung der kapitalistischen Produktion durch die Absicherung der nicht-kapitalistischen Volkswirtschaften haben das „imperialistische Kartell“ zusammengeführt.

Nach dem Zusammenbruch dieser nicht-kapitalistischen Welt wurde auch die Zwangsgemeinschaft der imperialistischen Mächte schwer angeschlagen. Hans-Jürgen Schulz beschreibt dies selbst. Die Rangordnung steht zur Disposition, eine neue Weltordnung wird ausgekämpft. Fast jedes Thema wird heute davon geprägt. Bezeichnenderweise, und „zufällig“ noch verstärkt durch die zeitgleich beginnende tiefe Konjunkturkrise des Weltkapitalismus, haben sich die Teilnehmer am angeblichen „Machtkartell“ nicht etwa an eine Stärkung der „Weltstrukturen“ herangemacht, sondern es folgte eine Stärkung der nationalstaatlichen Positionen, geradezu eine „Welle der Re-Nationalisierung der Politik“, wie die bürgerliche Presse beobachtete. Das neue „amerikanische Jahrhundert“ wurde ausgerufen; der „japanische Hauptfeind“ ausgemacht; die Vereinigung des europäischen Kapitals hat fast schlagartig einen großen Rückschlag erlitten, als das deutsche Kapital die Tür ins nicht-kapitalistische Ostland geöffnet bekam. Von Le Pen bis zu Ross Perot und den neuen Rechten bei den US-Republikanern, von Forza Italia und den Neofaschisten bis zu den Republikanern in Deutschland wuchern die nationalistischen Kräfte.

Der Kampf der Standorte ist weltweit ausgerufen – nicht nur als ideologisches Konstrukt zur Verblödung der Menschen, sondern zur Sicherstellung der unmittelbaren Geschäfte. Kapitalismus als abstraktes Geschäft, als Weltmarktmanagement, als fiktives Geldspekulieren ist eine Schimäre – Kapitalismus ohne Menschenmassen, die Mehrwert schaffen, also arbeiten und konsumieren ist undenkbar. Deshalb ist das Hemd Nationalstaat näher als die Jacke Weltkartell.

Dies steht selbstverständlich im krassen Gegensatz dazu, daß die Welt eine internationale Lösung ihrer sich verschlimmernden Probleme – Hunger, Armut, Umweltzerstörung, Erwerbslosigkeit, soziale Unterdrückung und Diskriminierung – benötigt. Der Imperialismus beweist heute täglich, daß er seine „Gegensätze“ gerade nicht „überbrücken konnte“ – er sucht Lösungen, die keine sind und keine werden können. Selbst wenn es starke objektive Gründe auch innerhalb der kapitalistischen Logik für eine Weltregierung gibt, so beweisen die letzten sechs Jahre eindringlich, daß der Kapitalismus genau diese Weltregierung nicht schaffen kann. Der Grund dafür ist offensichtlich: die Konkurrenz verunmöglicht eine ausreichende Einheitlichkeit und die Geschäfte erfordern gleichzeitig eine nationalistische Mobilisierung der Menschen in den jeweiligen Nationalstaaten.


Kriege und Kriegsgefahr


Niemand spricht heute von der Gefahr eines akuten Krieges zwischen den großen imperialistischen Mächten – Hans-Jürgen Schulz ficht hierbei gegen Gespenster. Aber die potentielle Gefahr darf nicht verschwiegen werden. Vertrauen zu schüren, daß das imperialistische Kartell noch auf „absehbare Zeit“ (293/19) für friedliche Zustände auf der Welt sorgen wird, ist fahrlässig und politisch irreführend. Dafür ein Beispiel: „Die führenden Mächte wollen die Welt wirtschaftlich beherrschen und darum Destabilisierungen unterbinden. Folglich werden die Grenzen als unverletzlich garantiert und nationale Kriege mit allen Mitteln unterbunden.“ (282/19), schreibt Hans-Jürgen Schulz. Seit sechs Jahren ist das Gegenteil der Fall und wird von H.J. Schulz teilweise selbst beschrieben. Die Anzahl der Kriege nimmt zu. Die Schwelle, Konflikte militärisch zu lösen, ist mächtig gesenkt worden. Der Krieg zwischen Peru und Ecuador, die militärische Intervention der Türkei auf irakisches Staatsgebiet und das Säbelgerassel zwischen Griechenland und der Türkei sind die jüngsten Beweise dafür. Auf dem afrikanischen Kontinent werden ungezügelt Kriege zugelassen, teilweise gefördert und auf jedem Fall mit Waffen versorgt. Im gesamten nicht-kapitalistischen Osten wurde systematisch die Destabilisierung vorangetrieben, um die Volkswirtschaften für das Kapital aufzuknacken. Als absehbar war, daß dies nur zu dem Preis einer wüsten Fraktionierung der ehemals herrschenden Bürokratien klappen könnte, daß die Vorstellung der ruhigen Umpolung der alten Herrscherkasten auf marktwirtschaftliche Führungseliten illusorisch ist, wurde ohne zu zögern Krieg und nationalistische Barbarei geduldet und durch verschiedene Maßnahmen direkt gefördert. In Asien wird das gleiche in Kampuchea probiert, in Burma wird angeblich, um die Drogenmafia zu bekämpfen, der Krieg gegen nationale Minderheiten geduldet und gefördert (von wegen interner Konflikt!) durch Waffen und logistische Unterstützung der Anti-Drogen-Behörden der USA. In Pakistan wird ähnlich wie in Afghanistan die Auflösung sämtlicher Strukturen zugunsten bewaffneter Banden zugelassen.

Die Unverletzbarkeit der Grenzen wird auch nicht mehr akzeptiert: der deutsche Imperialismus hat als erster die Nachkriegsordnung durchbrochen und sein Territorium erweitert. Im ehemaligen Jugoslawien wurden und werden die Grenzen unter direkter imperialistischer Kontrolle neugezogen. Die ehemalige CSSR wurde unter maßgeblichen Einfluß Deutschlands geteilt. Die ehemalige UdSSR ist in einem noch nicht abgeschlossenen Aufteilungsprozeß, in dem fast alle imperialistischen Staaten ihre jeweiligen Präferenzen haben und versuchen, Einfluß auszuüben. Für verschiedene afrikanische Staaten (Liberia, Mali, Ruanda, Burundi, Somalia und andere) werden durch imperialistische Statthalter oder in fernen Planungsstäben neue Grenzziehungen und Teilungen erwogen. In ehemaligen Äthiopien ist dies bereits vollzogen. Der Irak ist faktisch aufgeteilt worden. Die Versuche, eine „deutsche Lösung“ für die Teilung Koreas zu finden, werden von den imperialistischen Mächten unterstützt.

Der Charakter der Kriege hat sich geändert, wenn auch nicht in Richtung „ethnischer“ Konflikte. Die tiefe strukturelle Wirtschaftskrise auf dem afrikanischen Kontinent hat nicht nur zu einer weiteren Verelendung der Massen geführt, sondern auch die ehemals vermögenden Mittelschichten tief getroffen. Durch die Krise und die Zwangsstrukturanpassungen im Auftrag des IWF und der imperialistischen Mächte wurden die staatlichen Pfründe, um die in der Vergangenheit Verteilungskämpfe und wechselseitige Militärputsche stattfanden, drastisch eingeschränkt, so daß „bewährte“ Mittel zur Konfliktentschärfung und -vertagung wegfielen. Komplette langjährige Führungseliten verschwanden, verloren die ausländische Unterstützung und suchten teilweise ihr Glück in Bandenkämpfen um die letzten verbleibenden Ressourcen.

      
Mehr dazu
Jean-Louis Michel: Die neue NATO: ein Instrument der Pax Americana, Inprekorr Nr. 314 (Dezember 1997)
Hans-Jürgen Schulz: Deutsche Soldaten – weltweit, Inprekorr Nr. 283 (Mai 1995)
Hans-Jürgen Schulz: Rüstung, Krieg und Frieden, Inprekorr Nr. 282 (April 1995)
Ernest Mandel: 25 Thesen zur Antikriegsbewegung, Inprekorr Nr. 172 (September 1985)
Vereinigtes Sekretariat: Kampf gegen die Remilitarisierung des Imperialismus, für den Frieden und Sozialismus, Inprekorr Nr. 140 (Januar 1982)
 

In Osteuropa führt der brutale Prozeß der ursprünglichen Akkumulation und der Niedergang der alten bürokratischen Kaste ebenfalls zu Kriegen um die letzten alten oder ersten neuen Krümel der neuen Weltordnung. Peru und Ecuador leisten sich einen klassischen Krieg um Rohstoffareale. Es sind dies allesamt Kriege im Namen der „Einführung der Marktwirtschaft“, der „notwendigen Strukturreformen“, also allesamt im Namen der grundlegenden Tugenden des Kapitalismus. In diesem Sinne sind sie Vorwegnahmen, und Stellvertreterkriege „West gegen West“, wie Andre Gunder Frank es so treffend charakterisiert hat. Dies hat die alten von der Aufteilung der Welt in kapitalistische und nicht-kapitalistische Kräfte geprägten Kriege, die in diesem Sinne Stellvertreterkriege „Ost gegen West“ waren, abgelöst. Der Kapitalismus ist in seinen Grundstrukturen gewalttätig und räuberisch – die heute auf den von ihm hinterlassenen Schutthalden stattfindenden Kriege sind auch zu einem großen Teil Kriege zum Selbstzweck, zum Bereichern der Kriegführenden, sind also gelassen von den imperialistischen Mächten zu ertragen und je nach Tagesopportunität zu drosseln, zu fördern und auszunutzen.

Es ist die ungebrochene Aufgabe der Linken, diesen wahren Charakter der Kriege aufzuzeigen und die ideologischen Konstruktionen der bürgerlichen Klasse, die Gespenster von „Religionskriegen“, von „fanatischen Serben“, von „islamischen Fundamentalisten“ und „ethnischen Konflikten“ zu zerschlagen, statt sie zu übernehmen.


Deutschland als Weltmacht


Über die Rolle Deutschlands und seiner Militärpolitik ist sich Hans-Jürgen Schulz selbst nicht ganz klar. In seinem Artikel „Rüstung, Krieg und Frieden“ (Inprekorr 282) schreibt er: „Deutlich wird freilich aus diesen Daten, daß die grundlegende Orientierung des deutschen Imperialismus und damit seine Militärpolitik sich nicht ändert. Sie ist weiter im Rahmen der Nato geplant und knüpft nicht an 1945 an, …“ Einen Monat später, in seinem Artikel „Deutsche Soldaten weltweit“ registriert er: „Bis 1989 war in der bundesdeutschen Politik fast unstrittig, daß deutsche Soldaten nur im Rahmen der NATO und zur Verteidigung bei einem Angriff auf einen Nato-Staat … eingesetzt werden dürfen. Das hat sich grundlegend geändert, und das ist wirklich neu.“ (283/20)

Wir halten die zweite These für richtiger und schließen uns auch den Ausführungen dazu im zweiten Artikel von Hans-Jürgen Schulz an: das deutsche Kapital und seine Regierung wünschen eine neue Rolle im innerimperialistischen Kräfteverhältnis. Die Vorherrschaft der USA soll gebrochen und ein kapitalistisches Europa unter deutscher Führung gestärkt werden. Daß H.J. Schulz daran anschließt, daß Deutschland aber keineswegs das „imperialistische Kartell verlassen“ wolle, ist ziemlich müßig. Es gibt dieses Kartell nicht, sondern eine zur Disposition stehende Kräfteanordnung im imperialistischen Lager.

Nicht der deutsche Imperialismus knüpft an 1945 wieder an, sondern leider die Geschichte insgesamt. Mit Zutun der herrschenden Klasse Deutschlands, aber natürlich nicht durch deren alleinige Verantwortung, noch nicht einmal vorrangig durch deren geplante Tätigkeit, ist eines der wesentlichen Resultate der Niederlage des deutschen Faschismus revidiert worden. Die damals siegreiche Sowjetunion ist von der Landkarte verschwunden; „verlorene“ Reichsgebiete sind zu Deutschland zurückgekommen; die baltischen Republiken suchen das enge Bündnis mit Deutschland, Polen und die Tschechische Republik fügen sich dem Schicksal als Billiglohnhinterland des deutschen Kapitals. Eine „Sternstunde des Jahrhunderts“, wie der Revolutionär-Sozialistische Bund in seinem Flugblatt zum 8. Mai die Niederlage des Faschismus bezeichnete, ist leider zu Ende. Natürlich nicht alle, aber durchaus einige der Kriegsziele Hitlers und des deutschen Kapitals von 1939 sind „auf friedlichem Wege“ und mit fünfzigjähriger Verspätung erreicht worden. Auch wenn die historische Niederlage und das Versagen der stalinistischen Bürokratien, eine Alternative zum Imperialismus aufzubauen, für den Imperialismus und besonders den deutschen ein „Geschenk“ bedeutet, daß sie so und so schnell nicht erwartet haben, so ist daraus nicht zu schließen, daß der Imperialismus dieses Geschenk höflich nicht anrührt.

Im Gegenteil dazu ist seit 1989 und bis heute andauernd eine Phase der Dominanz der Politik gegenüber der Ökonomie angebrochen. Fieberhaft wird in alle Richtungen sondiert und alte Beziehungen werden aufgefrischt, die politischen Möglichkeiten auszuloten, die die neue Öffnung nach Osten ermöglicht. Ein strategisch klares Ziel des deutschen Imperialismus – neben den bereits genannten allgemeinen Zielen der Stärkung seines Einflusses und der restlosen Ausmerzung aller Reste nicht-marktwirtschaftlicher Elemente im Osten – ist noch nicht auszumachen. Noch viele Faktoren behindern eine ökonomisch-materielle Umsetzung der neuen politischen Optionen. Selbst in den politischen Denkstuben der Bourgeoisie besteht noch keine Klarheit. In diesem Sinne kann nicht an 1945 nahtlos angeknüpft werden. Aber angesichts dessen, was in den letzten sechs Jahren alles „relativiert“, alles „neugedacht“ wird und was sich real an neuen Machtgelüsten des deutschen Kapitals schon manifestiert hat, ist jede Verharmlosung unangebracht. Die Geschichte wird sich nicht wiederholen – darüber ist Streit unnötig – aber sie wird auch nicht eine Fortschreibung eines definitiv zu Ende gegangenen Kapitels des Imperialismus sein können.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 284 (Juni 1995). | Startseite | Impressum | Datenschutz