Am Anfang waren mit Schreibmaschine getippte Blätter. Klebeheftung. Kein Layout. Und doch die wichtigste Quelle internationaler Informationen in der Zeit der Vietnam-, Chile- und Portugal-Solidarität. Wir sprachen mit dem Gründer und langjährigen Redakteur der Inprekorr.
Interview mit Ingo Speidel
In diesem Monat erscheint die dreihundertste Ausgabe von Inprekorr seit 1971. Wie ist die Idee entstanden, eine solche Zeitung zu machen? |
Das war sozusagen ein Drang von mir. Ich hab’ die französische und vor allem auch die spanische trotzkistische Presse gelesen, also die Zeitungen unserer Sektionen. Und damals, also Anfang der 70er Jahre, da war man nicht internationalistisch orientiert wie heute, sondern wenig informiert über die Kämpfe, was sich in anderen Ländern getan hat – außer Vietnam, das war natürlich interessant. Ich habe die Presse gelesen und gedacht: Das muß man den Leuten doch verbreiten, das ist doch wichtig, was da passiert; Arbeiterkämpfe in Frankreich, Widerstand gegen die Franco-Diktatur in Spanien, Guerillakämpfe in Lateinamerika, Streiks in Britannien. Deshalb hab’ ich von mir aus Artikel, die ich wichtig fand oder von denen ich begeistert war, übersetzt, habe sie kopiert und verschickt an unsere Leute. So hat das angefangen.
Dann haben die „Uralt-Trotzkisten“, also Jakob Moneta, Rudi Segall, Willy Boepple gesagt: „Ja, das ist doch Inprekorr.“ Ich kannte natürlich [die historische] Inprekorr [1] damals nicht und hatte auch nicht die Absicht, daraus was Regelmäßiges zu machen, sondern es war wirklich so, daß ich die Presse unserer Sektionen hatte, und wenn ich aktuell irgendeinen Artikel in Rouge oder Combate oder Intercontinental Press gelesen habe, der mich begeistert hat, dann hab’ ich das übersetzt und gesammelt und dann rumgeschickt, nicht regelmäßig, aber immer wieder. Und da haben die dann gesagt: „Da machen wir doch Inprekorr draus, das ist doch die Tradition“. Und sie haben dann auch mitgeholfen und übersetzt.
Ich hab’ mir dann später die historische Inprekorr angeguckt, das war ja das Organ der Komintern gewesen, sehr formalisiert, so offizielle Artikel, da sind wir ganz anders rangegangen.
Und so wurde das dann die Zeitung der Internationale? |
Man hat das formalisiert, unter der Leitung des Vereinigten Sekretariats (VS). Aber die Auswahl war einfach, was uns begeistert hat, das VS hat uns freie Hand gelassen. Die Artikel waren auch nicht nur aus der Presse der Vierten Internationale. Wenn in Le Monde oder irgendeiner anderen internationalen Zeitung ein Artikel über einen wichtigen Arbeiterkampf kam, dann haben wir das auch reingebracht.
Man hat versucht, das monatlich rauszubringen, aber die ganzen ersten Jahre war das sehr schwer, sich daran zu halten. Der Umfang war so zwischen 24 und 32 Seiten, aber das war sehr unterschiedlich, je nachdem, wenn gerade etwas Wichtiges war und das hat gerade ein Heft gefüllt, dann hat man das so rausgebracht.
Als die deutsche Ausgabe einigermaßen lief, also so 400er, 500er Auflage hatte, da hat man dann auch Ausgaben in französischer, spanischer und englischer Sprache herausgebracht.
Welche politischen Positionen kamen damals zu Wort? |
Die Inprekorr war nicht wie die in den zwanziger Jahren ein „Organ“, das nur die offizielle Meinung des Vereinigten Sekretariats gebracht hätte. Wir haben auch Artikel von befreundeten Organisationen oder von den Befreiungsbewegungen übernommen, zum Beispiel Erklärungen vom chilenischen MIR und Interviews über den Widerstand gegen Pinochet. Oder eine Predigt aus dem Befreiungskampf in Nicaragua von einem Pfarrer, der aus christlicher Sicht den Befreiungskampf unterstützt hat, eine revolutionäre Predigt, die das vergleicht mit dem „Auszug des auswerwählten Volks aus Ägypten“. Das habe ich in Inprekorr abgedruckt, um zu zeigen, wie bunt der Befreiungskampf ist.
Inprekorr Nr. 1, 1971 |
Wir hatten deswegen nie Probleme mit dem VS, aber mit manchen deutschen Trotzkisten, die gemeint haben, zum Beispiel eine Predigt von einem Pfarrer, also das kann man doch nicht bringen. Das waren die 70er Jahre, wo die ganzen K-Gruppen und „Parteien“ aufgebaut wurden, da hatte mancher eine engere Auffassung von „Parteipresse“.
Hattet ihr damals schon Korrespondentenberichte? |
Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Auch nicht, daß wir selbst Artikel geschrieben hätten. Wir hatten ja auch unsere Presse, die was tun damals; die Funktion war schon, interessante Artikel aus der internationalen Presse den deutschen Lesern bekanntzumachen.
Also auch keine eigenen Beiträge? |
Nein, das war nicht der Charakter von Inprekorr. Wir haben natürlich auch Artikel selbst geschrieben, aber die erschienen dann in was tun oder auch in der theoretischen Zeitschrift der deutschen Sektion, Die Internationale. Die Funktion von Inprekorr war das nicht, man hat auch keine Editorials geschrieben, keine Einleitungen, nur das Inhaltsverzeichnis.
Wie hoch war die Auflage in den besten Zeiten? |
Über tausend, manchmal bis 1200 bei bestimmten Nummern, wenn was Wichtiges los war. Verkauft, also sagen wir bezahlt, wurden so im Schnitt 600. Nach Österreich ging etwa 40 bis 50, in die Schweiz an die hundert.
Die siebziger Jahre verklären viele als die Zeit der großen internationalistischen Bewegungen. Trotzdem sagst Du, daß es kaum internationalistische Informationen gab? |
Das kann man sich heute kaum noch vorstellen, wie die Situation damals war. Wir denken bei 68 an Vietnam, Kuba, Algerien – daß das allgemein bekannt gewesen wäre. Aber auch beim SDS waren das nur Arbeitsgruppen, die sich überhaupt mit den Themen befaßt haben. Und was die bürgerliche Presse angeht: Da kam nur ab und zu mal ein Artikel aus der Dritten Welt, der inhaltlich Null war, irgendwelche Lobeshymnen auf irgendeinen „Landesvater, der für sein Volk sorgt“ und auf die westliche Hilfe; also eine absolute Ignoranz. Die Artikel, die wir gebracht haben, über Lateinamerika, Indien, Sri Lanka: das war nirgends sonst zu kriegen. Heute gibt es in jedem Dorf eine Dritte-Welt-Gruppe, im Fernsehen hast Du jeden zweiten Tag eine interessante Sendung über ein Dritte-Welt-Land.
Damals war das absolut unbekannt. Man war solidarisch mit dem Befreiungskampf, aber was da täglich vorging, da gab es keine Informationen, absolute Düsternis. Inprekorr war die einzige Quelle Anfang der 70er Jahre, die solche Informationen gebracht hat, z.B. über den städtischen Guerillakampf in Lateinamerika, über Generalstreiks in Bolivien, Chile. Da hatten wir als IV. Internationale gewissermaßen das Informationsmonopol.
Sicher erscheinen heute viel mehr gelehrte Analysen. Aber Berichte der Opfer der IWF-Politik oder über den Widerstand sind doch immer noch selten. |
Du meinst jetzt die bürgerliche Presse, okay. Aber wenn ich an iz3w aus Freiburg denke, da kommen auch gute Analysen aus Sicht der Betroffenen. Als die zuerst erschien, war das so ein „karitatives Laberblättchen“, und sie hat sich sehr gut entwickelt, zusammen mit den Dritte-Welt-Gruppen.
Da hat sich für mich am deutlichsten Ende der 80er Jahre etwas verändert mit der Kampagne gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF), wo gemeinsam die Ursachen der Armut und Unterentwicklung angegriffen wurden. |
Das ist eine eindeutige Wende bei den Dritte-Welt-Gruppen. Am Anfang waren es nur die Revolutionäre hier, die solidarisch waren mit der sozialistischen Revolution in Vietnam und nicht nur mit dem Kampf gegen irgendwelche Ungerechtigkeiten. Aber seit Mitte der 80er Jahre ist das wohl Gemeingut bei allen linken Dritte-Welt-Gruppen, daß es um Befreiung geht, und nicht um irgendwelche karitative Hilfe.
War Inprekorr verbunden mit politischen Kampagnen, die sie versucht hat zu unterstützen? |
Sondernummer Portugal, 1974 |
Ja, auf jeden Fall. Die Solidarität mit den bewaffneten Befreiungskämpfen in Lateinamerika war ein Schwerpunkt. Da gab es vielleicht hier keine Kampagne, aber eine Vorbereitung zu späteren Kampagnen, zur El-Salvador-Kampagne. Und gerade zu Nicaragua haben wir die Kämpfe der Sandinisten schon lange vor dem Sieg der Revolution reflektiert, auch politisch analysiert. Chile war ein Schwerpunkt, schon vor dem Putsch 1973, eine kritische Begleitung des Allende-Experiments. Oder auch Vietnam, das war Anfang der 70er Jahre immer ein Schwerpunkt. Insofern war Inprekorr auch ein Instrument für die Leute, die diese Kampagnen gemacht haben, wo einerseits etwas anspruchsvollere Analysen über die Kämpfe und die Hintergründe kamen, und andererseits haben wir uns auch bemüht, aktuelle Informationen zu bringen.
Was meinst du, wie sich Vorstellung und Zielsetzung von Internationalismus verändert haben? |
Ich glaube schon, daß sich viel verändert hat, aber das ist mehr meine persönliche Meinung. Damals war natürlich eine andere Situation: es gab revolutionäre Bewegungen, es gab revolutionäre Siege wie Vietnam, Nicaragua, Kuba. Die Bewegungen – Frankreich Mai 68, Spanien 76/77, Portugal 74/75 – das waren revolutionäre Situationen, die haben wir grad jetzt nicht so gehäuft. Aber auf der anderen Seite waren wir auch relativ naiv und hatten vereinfachte Vorstellungen davon, was die Voraussetzungen sind für eine Revolution, für eine Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft, der Marktwirtschaft. Die Alternative mit der Räterepublik, mit der Partei, die solch eine Revolution führt usw. – ich sehe das heute etwas anders. Eine Revolution muß viel tiefergehender sein, viel umfassender sein, sehr viel prozeßartiger sein als die Sache mit der „Machtergreifung“, auf die wir das zuspitzen in der Tradition von Lenin. Wenn man gezwungen ist, um die kapitalistische Macht zu stürzen, eine alternative Machtstruktur aufzubauen über die bolschewistische Partei und die zu festigen, also einen revolutionären Staat, eine revolutionäre Armee zu festigen, dann ist das sehr gefährlich.
Das kommt doch den frühen Vorstellungen von Lenin sehr nahe, der in Staat und Revolution sagte, daß der sozialistische Staat von Anfang an absterben, also sich auflösen müsse. |
Die klassische Vorstellung von Marx und Lenin war natürlich, daß der Höhepunkt des revolutionären Staats die Stunde der Machtergreifung ist und sich dann die Strukturen auflösen, übernommen werden vom Volk selbst. Aber das Gegenteil ist passiert.
Ein Eckpfeiler unserer Programmatik ist, daß die Befreiungsbewegungen in allen drei „Welten“ – oder wie wir gesagt haben: die drei Sektoren der Weltrevolution [Industrieländer, nicht-kapitalistische Gesellschaften, ehemalige Kolonien] – zusammengehen müssen. Meinst Du, daß die Bewegungen dieser drei Sektoren noch ein gemeinsames Ziel haben? |
Ganz abstrakt gibt es das Ziel, aber ganz konkret waren wir da viel zu naiv. Nehmen wir Arbeiterkämpfe in Indien, ich glaube vor zehn Jahren, da haben Millionen Textilarbeiter in Indien monatelang gestreikt. Was war die Antwort? Die Fabriken wurden stillgelegt und die Kapitalisten haben woanders neue Fabriken geschaffen, so ist der Streik beendet worden. Ein indischer Textilarbeiter damals hat 30 DM im Monat verdient, hier bei uns verdienen Industriearbeiter im Schnitt brutto 3000 DM, ein Verhältnis von 1:100. Und da zu sagen, „Solidarität zwischen dem Proletariat in Indien und hier“, das ist Heuchelei, das ist völlig daneben. Jeder Mensch hier, selbst ein Sozialhilfeempfänger, der zwanzigmal mehr verdient als ein Inder – nicht nur verdient, sondern auch zwanzigmal mehr Möglichkeiten zu leben hat, zu wohnen – wo ist da die Solidarität, wo kann es da Solidarität geben? Das muß man ganz neu packen.
Wir müssen Überlegungen in der Richtung anstellen. Nicht „wie kann man am asketischsten leben?“, sondern „was heißt solidarisches Leben heute?“ Es geht nicht einfach zu sagen, „wir kämpfen, daß die Arbeitsplätze hier bleiben, die Fabriken nicht geschlossen werden, das ist unser Beitrag zum Kampf gegen den Kapitalismus“, sondern der internationale Kampf gegen den Kapitalismus heißt auch für jeden die Frage, wie er lebt. Wir leben heute wie die schlimmsten Schmarotzer, zu Lasten der Dritten Welt, was die Umweltverschmutzung und die ganze weltweite Ausbeutung angeht. Eine sozialistische Revolution in Deutschland oder Frankreich müßte das schlagartig ändern; und sozialistisches Streben heute muß dieses Problem auch ganz konkret jetzt angreifen und nicht verschieben auf irgendwann nach der Revolution.
Die Orientierung für einen deutschen Internationalisten müßte sein, daß er versucht, den Welthandel einzustellen bzw. so zu leben, daß für seine Lebensweise kein Welthandel nötig ist. Welthandel ist schädlich, ist verheerend. Das bedeutet ziemlich viel: nicht Geld sammeln für die Dritte Welt, auch nicht Waffen für El Salvador, sondern eben auch, keine Äpfel aus Südtirol mehr zu essen.
Ich denke nicht, daß diese Probleme im individuellen Bereich gelöst werden können... |
Nein, keine Lösung, als Orientierung. Man schaltet sich ab von den Machtstrukturen, wenn man autark lebt, das ist absolut keine Lösung. Aber es geht um die Richtung, wenn wir mal einen Einfluß haben, wie in der IWF-Kampagne, worauf man da orientiert. Um gegenüber sich selbst glaubwürdig zu sein und seine Ziele nicht zu verfälschen, muß man das auch im persönlichen anstreben.
Du betonst zurecht die Interessengegensätze zwischen Ausgebeuteten in der Ersten und der Dritten Welt, die wir früher vielleicht nicht sehen wollten, die es aber ähnlich auch zwischen Ausgebeuteten innerhalb eines Landes gibt. Dennoch meine ich, daß das gemeinsame Interesse an einer Befreiung weiter besteht. |
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Ich glaube, das gemeinsame Ziel müßte man so formulieren: Abschaffung der Marktwirtschaft und natürlich der Machtstrukturen, die aus der Marktwirtschaft entstanden sind (IWF, bürgerlicher Staat). Dann kann man sich aus der Konkurrenz zwischen den Betrieben in der Ersten und der Dritten Welt, der permanenten Erpressung mit den Arbeitsplätzen, rauswinden. Wenn es um Abschaffung der Marktwirtschaft geht, dann kann man sich einigen mit allen, aber dann muß man in den reichen Ländern wie bei uns andere Schritte in den Vordergrund stellen, als „Kampf um die Arbeitsplätze, die uns erlauben, ein (im Weltmaßstab) privilegiertes Leben zu führen“. Also nicht: Wir, die deutschen Lohnabhängigen, kämpfen um unsere Privilegien – davon müssen wir weg. Deswegen halte ich es für so wichtig zu versuchen, alternativ zu leben, Welthandel zu reduzieren usw.
Du engagierst dich heute stark in antirassistischer Arbeit. |
Wir machen viel Flüchtlingsarbeit. Wir waren mit den Roma in Dachau, und haben da propagiert: Wenn jedem Flüchtling, der von Abschiebung bedroht ist, eine deutsche Tür, einer Kirche oder einer Wohnung, offensteht, dann gibt es keine Abschiebungen mehr, dann kann der Staat sie nicht mehr durchführen. Also nicht nur Kirchenasyl – das ist schon sehr positiv, bei aller Kritik an der Religion und an der Kirche –, sondern „Bürgerasyl“. Das ist dann wie in vielen Dritte-Welt-Ländern. Oder wie in Griechenland. Da gibt es soviel Nicht-Griechen aus der Dritten Welt, daß die Polizei relativ machtlos ist. Die leben halt da, arbeiten da, schlagen sich irgendwie durch. Das Recht der Menschen aus der Dritten Welt, dort zu leben, ist weitgehend in der Praxis durchgesetzt. Das halte ich auch in Deutschland für ein erstrebenswertes Ziel, ein Übergangsziel, ein wichtiger Schritt nach vorne.
Das Gespräch führte Björn Mertens im September 1996. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 300 (Oktober 1996). | Startseite | Impressum | Datenschutz