Vor 75 Jahren erschien in Berlin die erste „Internationale Presse-Korrespondenz (Inprekorr)“; englische und französische Schwesterausgaben folgten ein bzw. zwei Wochen später. Inprekorr war Sprachrohr der internationalen Solidarität und des Kampfs für eine weltweite revolutionär-sozialistische Alternative. 1943 wurde sie von Stalin liquidiert. Nur wenigen ist heute die bloße Existenz dieses Mediums bekannt, an dessen gute Traditionen wir mit unserem Namen seit 1971 anknüpfen.
Björn Mertens
Vier Jahre nach der erfolgreichen Oktoberrevolution in Russland, drei Jahre nach der steckengebliebenen Novemberrevolution in Deutschland und inmitten verschiedener fehlgeschlagener „Offensivaktionen“ (oder Aufstandsversuche) steckte die Kommunistische Internationale (Komintern) in einer schwierigen Neurorientierungsphase: Die Revolutionsbegeisterung war zurückgegangen, die Sozialdemokratie hatte sich stabilisiert, schnelle Erfolge waren unrealistisch geworden. Entsprechend breiten Raum nahmen die Diskussionen über die künftige Taktik auf dem dritten Weltkongress 1921 ein, bei denen vor allem die Erfahrungen der „Märzaktion“ in Deutschland aufgearbeitet wurden. [1] Damals wurde die Einheitsfronttaktik entwickelt, also die sozialdemokratischen Parteien zu gemeinsamen Aktionen für dringendste Lebensfragen der Arbeiterklasse aufzurufen.
Die Internationale war auch sehr heterogen: Einige Sektionen standen in diesen Jahren teilweise unter sozialdemokratischem Einfluss und drohten verlorenzugehen (z.B. Italien, Norwegen), andere hatten starke ultralinke Flügel, die glaubten, auch aus einer krassen Minderheitsposition sozialdemokratische Arbeiter mitreißen zu können (z.B. Deutschland). Ziel musste also sein, die auseinanderdriftenden Sektionen wieder zusammenzuführen und auf eine langfristige, geduldige Aktions- und Überzeugungsarbeit zu orientieren.
Dies erforderte auch eine Stärkung der Presse. Unter anderem beschloss der Weltkongress, dass für die kommunistische Presse „ein richtiger internationaler Informationsdienst“ geschaffen wird, „schon deswegen, weil wir international sind“ [2].
Inprekorr Nr. 1, 1921 |
Am 16. Juli 1921 schritt das Exekutivkomitee (EKKI) dann zur Gründung der Inprekorr: „Es wird die Herausgabe eines Korrespondenzblattes in Berlin beschlossen; das Blatt soll in deutscher, englischer und französischer Sprache erscheinen. Es soll aktuelle Korrespondenz der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Fragen, der Entwicklung des Kommunismus bringen, den Kampf gegen die Sozialdemokraten und die Amsterdamer [3] führen, taktische Fragen im Rahmen der Leitsätze des Kongresses erörtern und andere zur Diskussion stellen. Jede Partei ist verpflichtet, einen Korrespondenten zu bestimmen.“ [4]
Zweierlei wird hier bereits deutlich: Erstens das Prinzip, politisch Aktive aus den jeweiligen Ländern anstelle einer „allwissenden“ Zentrale schreiben zu lassen, und zweitens der breite Raum, der Debatten innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen eingeräumt werden sollte.
Als Redakteure wurden Gyula (Julius) Alpári und August Thalheimer für die deutsche, Phil. Price für die englische sowie Menil und Charles Rappoport für die französische Ausgabe ernannt. [5] Thalheimer, der auch Redakteur verschiedener anderer Zeitungen (Internationale, Kommunistische Internationale, Rote Fahne) war, scheint die politische Gesamtverantwortung des Projekts getragen zu haben. Er stellte dem EKKI die Konzeption vor und erstattete später Bericht über das Projekt. Er schrieb auch häufig Beiträge, wird aber ansonsten nie im Zusammenhang mit der konkreten Redaktionsarbeit erwähnt.
Als Chefredakteur aller Ausgaben wird Julius Alpári genannt, ein ungarischer Kommunist, der 1919 nach Sturz der dortigen Räterepublik ins Exil gehen musste. Er soll die Inprekorr schon 1920 gemeinsam mit Lenin entwickelt haben und überstand alle stalinistischen Säuberungen, da „er nie in Opposition gegen das Exekutivkomitee der Komintern geriet, deren Maßnahmen er immer diszipliniert durchführte und deren politischer Richtlinie er treu folgte“, wie seine Mitarbeiterin Irén Komját anerkennend bemerkt, um dann hinzuzufügen, dass er selbst zwar „nicht viele Beiträge“ schrieb, aber „während der Trotzkisten-Prozesse mehrere Artikel, in denen er sich mit dem Trotzkismus auseinandersetzt“. [6] [7]
Editorial in Inprekorr Nr. 1 |
Victor Serge, der bis zu seiner Rückkehr in die Sowjetunion 1926 Redakteur der französischen Ausgabe war, schildert ihn wesentlich abfälliger: „Julius Alpári, ehemaliger Sowjetfunktionär in Ungarn, von schwammiger Figur, gebildet und klug, betrachtete sich selbst nur noch als einen, dessen Bestimmung es war, durch den Untergrund hindurch, vorsichtig eine ruhige Karriere zu machen. Er engagierte sich niemals, ließ die Dinge treiben und trieb selbst allmählich in die Richtung eines anständig entlohnten revolutionären Konformismus… Schon 1922 bildete die Internationale, ohne es zu beabsichtigen, Funktionäre für alles heran, die zu passivem Gehorsam bereit waren.“ [8]
Von Paris aus rechtfertigte Alpári 1939 noch den Hitler-Stalin-Pakt und fiel dann 1940 nach dem deutschen Einmarsch in die Hände der Gestapo. 1944 wurde er im KZ Sachsenhausen hingerichtet.
Die erste deutschsprachige Ausgabe der Inprekorr erschien am 24. September 1921; die Schwesterausgaben folgten am 1. Oktober (International Press Correspondence) und 13. Oktober (La Correspondance Internationale). Sie waren sehr einfach gestaltet und umfassten im Durchschnitt acht, manchmal auch nur zwei Seiten im Format DIN A4 und erschienen zwei bis dreimal in der Woche. Die Auflagen aller drei Ausgaben lagen anfangs bei etwa 1000 (deutsch: 1400, englisch: 800, französisch: 1000). Sie richteten sich hauptsächlich an die Zeitungsredaktionen, doch war auch darüber hinaus die Nachfrage groß: Eine Zeitlang wurde parallel eine Wochenausgabe für die breitere Öffentlichkeit erstellt, später aber aus finanziellen Gründen wieder eingestellt. Zeitweilig erschienen auch Ausgaben auf Spanisch, Tschechisch, Ungarisch, Italienisch und Schwedisch. [9]
Die meisten Exemplare der deutschen Ausgabe gingen nach Deutschland (425), in die Tschechoslowakei (167) und nach Russland (112), bedeutende Kontingente auch nach Österreich (89), Schweden (66), Norwegen (64) und Bulgarien (54). Die englische Ausgabe bediente überwiegend den angelsächsischen Sprachraum (England 167, Australien 78, Amerika 77, Indien 40) und Skandinavien, die französische Ausgabe den romanischen Bereich (Frankreich: 230, Italien: 102, Belgien: 41). Die Auflagenstatistik nennt Anfang 1922 insgesamt vierzig Länder. [10]
Gyula (Julius) Alpári Scan: Wikimedia |
Alle drei Redaktionen hatten ihren Sitz zunächst in Berlin, erst in der damaligen KPD-Zentrale, der Rosenthaler Straße 38, dann ab Oktober zusammen mit der Roten Fahne in der Friedrichstraße 225. Das Verbot der KPD und ihrer Zeitungen nach dem Hamburger Aufstand erforderte im Dezember 1923 den Umzug nach Wien (Berggasse 31 im IX. Bezirk bzw. Lange Gasse 26/12 im VIII. Bezirk). Erst im April 1926 kehrte Inprekorr in die Friedrichstraße zurück und wechselte dann im Frühjahr 1928 in das Karl-Liebknecht-Haus der KPD am Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz). Unter den Bedingungen von Faschismus und Krieg folgte eine lange Odyssee unter wechselnden Namen durch verschiedene europäische Städte (Basel, Paris, London u.a.), die dann 1943 in Stockholm mit der Auflösung der Komintern endete.
Überraschen mag zweierlei: Inprekorr erschien nie in Russland, das sich doch als Hauptstadt des ersten Arbeiterstaats und Sitz der Komintern-führung angeboten hätte; zu vermuten ist, dass so der Eindruck eines „Sprachrohrs Moskaus“ vermieden werden und ein wirklich internationales Organ entstehen sollte. Und die Wahl ausgerechnet Berlins als Sitz aller drei Redaktionen wird technische wie politische Gründe gehabt haben: zum einen war der Klassenkampf hier stark radikalisiert und die KPD zur Massenpartei geworden, zum anderen waren die Verkehrsverbindungen im Zentrum Europas optimal. Unproblematisch war aber auch diese Wahl nicht, denn nun dominierten die Berichte aus Deutschland. Schon am 2. November beklagt sich das EKKI, „die Zeitschrift [solle] einen mehr internationalen Charakter tragen“ und man beschließt, „alle Parteien auf die Notwendigkeit der Bestimmung eines Korrespondenten und der energischeren Unterstützung des Blattes hinzuweisen“. [11] Als diese Appelle ungehört verhallen, teilt Julius Alpári im Mai 1922 Heinrich Brandler in einem Brief mit, er wolle seinen Mitarbeiter Wilhelm Bartz nach Moskau schicken, damit dieser Artikel und Berichte für Inprekorr beschaffe und deren Absendung kontrolliere. Weiter beklagt er sich, dass es schwer sei, in Berlin die nötigen Übersetzer zu finden. [12]
Inprekorr brachte überwiegend aktuelle Berichte über Einzelereignisse von ein bis zwei Seiten Länge; auch Debattenbeiträge der geehrtesten Autoren hielten sich an diese Grenze (erst in späteren Jahren tauchen einzelne etwas längere Wirtschaftsberichte und Materialsammlungen auf). Hier ist eine deutliche Arbeitsteilung gegenüber dem Theorieorgan Kommunistische Internationale zu erkennen, wo umfangreiche Hintergrundanalysen und Ausarbeitungen von 20 Seiten und mehr erschienen.
Breiten Raum nahmen Solidaritätsaufrufe und -kampagnen ein: für die Hungernden in Russland, zur Unterstützung von Streiks und zur Rettung vom Tode bedrohter politischer Gefangener wie Sacco und Vanzetti in den USA.
Russische Parteidiskussion Inprekorr, 21.1.1924 |
Unter der Schlagzeile „Schützt das Asylrecht!“ wurde im November 1921 über die Verhaftung spanischer Genossen in Deutschland und ihre geplante Auslieferung an das Terrorregime von König Alfons XIII. berichtet: „Weder Deserteure noch politische Verbrecher können ausgeliefert werden … Die Polizei des Sozialdemokraten Ebert will offenbar ein Novum schaffen … Die Auslieferung eines einzigen [politischen Gefangenen] würde den ernstesten Präzedenzfall schaffen.“ [13] Später wird bekannt, dass es sich bei einem der Verhafteten um Andreas Nin handelt, „einen der scharfblickendsten und gebildetsten Führer des spanischen Syndikalismus … und Mitbegründer der Roten Gewerkschaftsinternationale“. [14] Nach seiner Freilassung arbeitet er von Russland aus für Inprekorr. Später gründet er in Spanien die POUM und wird dort wahrscheinlich von Agenten Stalins ermordet.
Schon der allererste Inprekorr-Beitrag unter dem Titel „Hände weg von Sowjet-Russland“ vom zeitweiligen KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer eröffnete eine wichtige Kampagne, in der sich später vor allem Victor Serge und Willi Münzenberg engagieren: Hilfsaktionen und Sammlungen für die Hungernden in Russland. Während die bürgerliche Propaganda diese Katastrophe (noch heute) als „Zusammenbruch des Kommunismus“ wertet, nennt Victor Serge im Heft 12 fünf Ursachen: Den Weltkrieg, die imperialistische Blockade, den Bürgerkrieg, die große Primitivität der landwirtschaftlichen Produktionsmittel und, sehr vorsichtig, den „Gegensatz zwischen der revolutionären Stadt und dem in seiner kleinbürgerlichen, religiösen und konservativen Mentalität verbliebenen platten Lande … und die unglücklichen Umstände, die die Sowjetregierung zu Requisitionen zwangen, um ihre Armeen zu ernähren“. [15] In der Ausgabe 16 wird dann die Rede des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen vor dem Völkerbund nachgedruckt, die von der bürgerlichen Presse unterdrückt worden war: „Zwischen zwanzig und dreißig Millionen Menschen sind in diesem Augenblick vom Hungertode bedroht … In den Vereinigten Staaten verfault der Weizen in den Scheunen und Farmen, weil sie keinen Käufer für ihre Überschüsse finden können … Die Regierungen sind nicht imstande, 5 Millionen Pfund zu geben … sie vermögen alle zusammen nicht, diese Summe aufzubringen, die ungefähr die Hälfte dessen ist, was ein Schlachtschiff kostet.“ [16]
Die Liste der Autorinnen und Autoren ist lang: Lenin, Sinowjew, Radek und Trotzki schreiben häufig, aber dominieren durchaus nicht. Viele Beiträge sind heute noch lesenswert, allein im ersten Jahr etwa Lenins Bilanz und Ausblick am vierten Jahrestag der Oktoberrevolution (Nr. 16) oder Radeks Darstellung der Taktik von Einheitsfront und Übergangsforderungen (Nr. 43). In der Rubrik „Unsere Probleme“ gibt es lebhafte Debatten. In der Spalte „Aus dem Lager der Gegner“ werden Sozialdemokraten und Zentristen (zeitweise auch die nach der Märzaktion ausgetretene Strömung um Paul Levi) angegriffen -- dies zwar in scharfer Polemik und ohne Gelegenheit zur Antwort, aber immer reich an detaillierten Argumenten.
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Einen Namen wird man in den ersten drei Jahrgängen vergeblich suchen: Josef Stalin. Das ändert sich schlagartig im Januar 1924 mit drei Sondernummern über die „russische Parteidiskussion“. In einer für Inprekorr völlig unüblichen Aufmachung -- Überschriften mit überfetten Riesenlettern in der Art „Rede des Genossen xy“ (wo sonst der Autorenname klein wie der Artikel gesetzt wurde) -- bläst erstmals der Eishauch des Stalinismus durchs Blatt: Plötzlich steht „die Linie der Partei“ gegen die der „Fraktion“. Trotzki darf zwar, bezeichnenderweise erst im zweiten Heft, den Auslöser der Debatte, seinen Brief Der neue Kurs an das ZK der KP Russlands, abdrucken, in dem er vor der Bürokratisierung warnt und Gegenmaßnahmen vorschlägt. Doch wird dem sofort unter der noch größeren Überschrift „J. Stalin: Über die Diskussion“ eine „Antwort“ gegenübergestellt, die auf kein einziges Argument eingeht, sondern nur der „Opposition“ alle nur erdenklichen persönlichen Verfehlungen und Dummheiten vorwirft, ihre Worte ins Gegenteil verdreht und sie mit Moralkategorien niedermacht. Später dürfen in der „Debatte“ Parteizellen aufmarschieren, die nichts anderes sagen, als dass sie „die Linie des ZK unterstützen.“
Vom Gesichtspunkt des Machtpolitikers zeigt dies, dass man politische Debatten erwürgen und Kritiker ausgrenzen kann, wenn man eine treue und dumpfe Anhängerschaft als Manövriermasse hinter sich weiß, die „Geschlossenheit“ als positive und „Fraktion“ als negative Tugend sieht. In welche Tragödie dieser Sieg dann die Arbeiterbewegung geführt hat, ist bekannt. Die Ursachen dieser Entwicklung zu erläutern und die Stalinisierung der Inprekorr nachzuziehen, wäre Aufgabe eines weiteren Artikels. Doch trotz aller unerträglichen Ergüsse des „Kampfs gegen den Trotzkismus“ blieb die Internationale Presse-Korrespondenz noch lange Zeit lebendiges Spiegelbild der weltweiten Kämpfe der Unterdrückten und Ausgebeuteten.
Die historische Inprekorr sollte in jeder guten sozialwissenschaftlichen Bibliothek vorhanden sein, seit Ende der 60er Jahre ein Komplett-Nachdruck hergestellt wurde. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 299 (September 1996). | Startseite | Impressum | Datenschutz